KommentarQuerdenken: Sie kamen daher wie recycelte Veteranen der Friedensbewegung – mit Friedenstauben- und PEACE-Fahnen, Öko-Schuhen und wallenden Kleidern, Mantra-Gesänge auf den Lippen, von weit her angereist: Böblingen, Bietigheim, Baden-Baden und natürlich aus dem Erzgebirge, mit der gehörigen Portion von Selbstbegeisterung und Egoismus: meine Freiheit gehört mir!
Wer wollte ihnen gute Absichten absprechen – zumal wenn sie rufen „Frieden, Freiheit, Demokratie“? Was kann falsch sein an einer Kundgebung, auf der einer der Protagonisten der Friedlichen Revolution spricht, und später mit Kerzen um den Ring gegangen wird? Ja, der berühmte Ring von damals, vom 9. Oktober 1989! Muss da nicht jede/-r feuchte Augen bekommen, der – weil er/sie sich inzwischen in einer „Diktatur“ wähnt – die Grundfesten des Kanzleramtes zerbrechen und Merkel vor der Knasteinlieferung sieht? Doch das alles ist nur kühl kalkulierte Fassade.
Mag sein, dass einzelne Teilnehmer/-innen das nicht durchschauen. Doch die Veranstalter von „Querdenken“ wissen genau, was sie tun: wenn sich am 07.11.20 so rein zufällig auch die Reichsbürger in Leipzig treffen, hunderte Hooligans und Neonazis aufmarschieren, Michael Stürzenberger auf dem Marktplatz stundenlang hetzt, Attila Hildmann die Menge aufpeitscht, das Magazin „Compact“ zur Kundgebung aufruft ebenso wie AfD und NPD.
Natürlich bestreiten die Verantwortlichen von „Querdenken“ diese Zusammenhänge (in denen sie selbst stehen!), verfolgen aber dennoch drehbuchartig die vom Chefideologen des Rechtsextremismus Götz Kubitschek entwickelte Strategie der Selbstverharmlosung: Man übernimmt den Wertekanon der Gegner, um Menschen zu fangen und zu überzeugen, und kehrt sie dann um, die Werte.
Genau das ist mustergültig am vergangenen Samstag praktiziert worden. Tausende haben mitgemacht: „So ein Tag so wunderschön wie heute“ sangen sie freudetrunken in den Leipziger Nachthimmel. Die Hardliner um Jürgen Elsässer, Götz Kubitschek, Björn Höcke, Bodo Schiffmann werden sich ins Fäustchen gelacht haben …
Das Oberverwaltungsgericht Bautzen
Eigentlich hat man realistischerweise kein anderes Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Bautzen erwarten dürfen als das vom vergangenen Samstagvormittag. Wie ein brauner Faden zieht sich seit 25 Jahren durch die Rechtssprechung des OVG: Grundsätzlich haben die Stadt Leipzig und das Verwaltungsgericht Leipzig Unrecht, wenn es darum geht, Aufmärsche von Rechtsradikalen und Neonazis einzudämmen. Nun fallen aber im speziellen Fall noch zwei Merkwürdigkeiten auf:
- Irgendwann im Verlauf der Kooperationsgespräche zwischen „Querdenken“ und den Behörden hat sich die geschätzte Teilnehmer/-innenzahl auf wundersame Art von 20.000 auf 16.000 reduziert. Wie das? Könnte es sein, dass es so etwas wie „Absprachen“ gab: Geht „Querdenken“ mit den Zahlen runter (was dann tatsächlich geschah), wird es dem OVG Bautzen leichterfallen, die Versammlung auf dem Augustusplatz doch zu genehmigen. Abwegige Gedanken? Ich glaube eher nicht.
- Denn – und das ist das Zweite: Seit gestern, also vier Tage nach dem Urteil, liegt die Urteilsbegründung des OVG Bautzen vor. Hauptgrund für die die Genehmigung der Kundgebung auf dem Augustusplatz: Entgegen den Angaben der Stadt, die von 20.000 bis 50.000 Teilnehmenden ausgeht, habe dem die Polizei widersprochen und der Veranstalter selbst habe die erwarteten Zahlen auf 16.000 reduziert. Die Anzahl könne der Augustplatz auch mit Abstandsregeln fassen. Noch irgendwelche Fragen?
Das Ordnungsamt
Nachdem das Verwaltungsgericht Leipzig der Verlegung der Kundgebung vom Augustusplatz auf das Gelände der Neuen Messe durch die Stadt Leipzig zugestimmt hatte, hätten alle der dort widerrechtlich aufgefahrenen und abgestellten LKWs, Wohnmobils, Sprinter von „Querdenken“ vom Ordnungsamt zum sofortigen Verlassen aufgefordert werden müssen. Das aber ist nicht geschehen – ein schweres Versäumnis.
Ebenso hätte nach dem OVG-Urteil am Samstag ein kontrollierter Zugang zum Augustusplatz eingerichtet werden müssen. Genauso hätte das Ordnungsamt darauf bestehen müssen, dass die Veranstaltung erst eröffnet wird, wenn Maskenpflicht und Abstand durch die Teilnehmenden beachtet werden. Doch all das wurde versäumt – mit den bekannten Folgen. Wird der Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal (Die Linke) dafür die Verantwortung übernehmen?
Der Innenminister und Ministerpräsident
Zahlenmäßig war die Polizei am Samstag mit 3.200 Einsatzkräften aus verschiedenen Bundesländern präsent. Doch sie machte einen mehr als inaktiven Eindruck, obwohl (auch ohne Verfassungsschutz) bekannt war, dass die „Querdenken“-Kundgebung von Rechtsradikalen durchsetzt war. Es fiel schon auf, dass am Rande des Augustusplatzes ein einziges Display auf einem Polizei-Sprinter auf Maskenpflicht und Abstandsregeln hinwies. Die Ansagen wurden über einen offensichtlich nur halb aufgedrehten Lautsprecher getätigt und gingen damit unter.
Als dann die Kundgebung aufgelöst wurde, hatte die Polizei keinen Plan, wie und auf welchem Weg sie die Teilnehmenden Richtung Hauptbahnhof (oder Eutritzsch) führen will. Der Versuch, den Weg der Menschen mit einer Zweierreihe abzusperren, musste ebenso scheitern wie die Verhinderung grundsätzlich verbotener Demonstrationszüge über den Ring.
Wer trägt dafür die Verantwortung? Der Innenminister des Freistaates Sachsen Roland Wöller (CDU) – sonst nie verlegen, der Stadt Leipzig die Verantwortung für alle Krawalle in Connewitz in die Schuhe zu schieben. Doch Wöller sieht null Versagen bei sich. Dafür schiebt er die Schuld nach Bautzen. Und Ministerpräsident Michael Kretschmer fordert schärfere Verordnungen – kann aber nicht erklären, warum die vorhandenen am Samstag nicht angewandt wurden.
Die Gesellschaft
Die Vorgänge vom vergangenen Samstag haben gezeigt, in welche Sackgassen wir in der Coronakrise geraten sind. Da versammeln sich tausende Menschen unter dem Label „Querdenken“. Sie frönen einem sehr banalen Gartenzaun-Egoismus: Bei mir soll sich bitte nichts ändern. Aber leider bedient die Politik die Kehrseite dieser Einfallslosigkeit: Haltet euch an die Regeln, nehmt den Lockdown hin – denn bald kommt der Impfstoff und dann kann es wieder so werden wie vor Februar 2020. Und bis dahin überbrücken wir alles mit Milliarden Euro.
Doch diese Politik lebt von zwei falschen Voraussetzungen: Erstens dass zeitnah ein Impfstoff zur Verfügung steht, und zweitens dass alles wieder so wird, wie es einmal war. Davon müssen wir uns verabschieden. Das Coronavirus ist wie ein großes STOPP-Schild: Verrennt euch nicht weiter in die Sackgasse eines Turbolebens, das Mensch und Natur erschöpft.
Das Coronavirus hat eine einfache Botschaft: Die Natur wehrt sich. Wer aber die Existenz dieses Virus verleugnet oder dieses nur für einen vorübergehenden Betriebsunfall der Natur hält, der verschießt auch vor der gleichermaßen einleuchtenden wie warnenden Botschaft Augen und Ohren: Überprüft eure Lebensweise und steuert um!
Was also nottut: Wir müssen in der Pandemie endlich aus dem Panik- und Verbots-, dem Verleugnungs- und Widerstandsmodus in den Gestaltungsmodus kommen. Wir stehen vor der großen Herausforderung, wie wir unser gesellschaftliches Leben neu einrichten wollen – völlig unabhängig davon, ob und wann ein Impfstoff auf den Markt kommt.
Darum sollten alle Maßnahmen, die jetzt unter den Bedingungen des Gesundheitsschutzes in der Pandemie getroffen werden, darauf ausgerichtet sein, dass sie für die nächsten Jahre Bestand haben und uns auch zu neuen Ansätzen gemeinschaftlichen Lebens führen. Dieser Ansatz hätte spätestens seit Mai wirksam werden müssen. Stattdessen verharrt unsere Gesellschaft und ihre Institutionen, die wie in einer Trauersituation Abschied nehmen müssen von liebgewordenen Verhaltensweisen, weiter in den ersten beiden Phasen der Trauer um Verlorenes: Verleugnung und Wut.
Wir müssen uns aber entschlossen den nächsten Phasen zuwenden: die neue Situation annehmen und neue Lebenseinstellungen, einen neuen Blick auf die Welt gewinnen. Der kapitale Fehler des Lockdowns im November: Die gesellschaftlichen Bereiche, die sich in den vergangenen Monaten ganz viel haben einfallen lassen: Kultur, Gastronomie, Hotellerie, wurden nun wieder stillgelegt – eine kontraproduktive, in jeder Hinsicht schädliche Maßnahme.
Ein Ausblick
Wer ohne Panik auf die jetzige Situation schaut, dem wird es vielleicht so gehen, wie einem Menschen, der nach einer schweren Grippe oder einem Herzinfarkt beginnt, nüchtern und (selbst)kritisch über sein Leben nachzudenken: Was ist falschgelaufen in den vergangenen Wochen? Wo muss ich die Weichen neu stellen? Dieser Aufgabe sollten wir uns stellen – jede/-r an seinem Ort und immer darauf bedacht, dass unsere freiheitliche Demokratie nicht unter die Räder kommt.
Wenn wir so herangehen an die Gestaltung der Advents- und Weihnachtszeit, dann werden wir neue Formate entwickeln können, die keine „Notlösung“ sind, sondern Bestand haben werden. Dann könnte auch ein Weihnachtsmarkt ganz anderer Art entstehen; Heiligabendgottesdienste könnten in Kirchen und open air gefeiert werden, in denen die Weihnachtsbotschaft neu zur Entfaltung kommt.
Endlich könnte dauerhaft in den Schulen das eingerichtet werden, wofür seit Jahrzehnten gekämpft wird: kleinere Klassenstärken und kleinere Gruppen in Kitas in größeren Räumen … und, und, und. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, weil die Notwendigkeiten gegeben sind. Aber es setzt voraus, dass wir die jetzige Situation neben aller Belastung als Chance ansehen, grundlegende Umsteuerungen vorzunehmen – natürlich und an erster Stelle in Sachen Klimaschutz.
Davon ist aber auf den „Querdenken“-Kundgebungen nichts zu hören. Denn Visionen eines menschlichen, solidarischen Miteinanders in einer demokratischen Gesellschaft sind den rechtsgewirkten Polit-Egomanen fremd. Umso wichtiger, dass wir sie in die Wirklichkeit führen.
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