Wir leben in einer Zeit, in der die Religion keine Privatsache mehr ist, sondern zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht wird. Ihren Wiederaufstieg verdanken die im Schaum der Tage geborenen Glaubensbekenntnisse einer dubiosen Gemengelage aus politischem Machtdrang, moralischer Bigotterie und einem mit Frömmeleien ummantelten Raubtierkapitalismus, wobei sie von politisch linker Seite aus durch ein bestenfalls blauäugig zu nennendes Agenda-Setting und fehlende Fundamentalkritik noch unterstützt werden. Den Satz „Es gibt keinen Gott“ hört man jedenfalls weder im politischen Berlin noch im politischen Washington dieser Tage.

Um ehrlich zu sein, habe ich ihn schon jahrelang nicht mehr gehört. Dass ein solcher Satz deutschen Intellektuellen, Politikern und Aktivisten nicht (mehr) über die Lippen kommt, ist traurig, aber fast schon folgerichtig angesichts der sprachlichen Säuberungsaktionen und der daraus resultierenden Weichgespültheit der Tage.

Dass die Gottesleugnung im politischen Amerika keinen Platz hat, ist dagegen zu erwarten, denn das Land ist nach wie vor extrem christlich geprägt, auch wenn es in der Verfassung heißt, niemals dürfe „ein religiöser Bekenntnisakt zur Bedingung für den Antritt eines Amtes oder einer öffentlichen Vertrauensstellung im Dienst der Vereinigten Staaten gemacht werden“.

Aber ohne Bekenntnisakt gibt es in den USA nun mal kein Amt. Zumindest nicht das des Präsidenten. Bisher haben sich alle US-Präsidenten als Christen bezeichnet, was freilich auch eine Art Grundbedingung für den Einzug ins Weiße Haus ist, denn die Mehrheit der Amerikaner kann sich nicht vorstellen, einen Atheisten zum Präsidenten zu wählen. Aber auch in den Volksvertretungen dominiert der Glaube.

Seit Jahrzehnten sind rund 90 % aller Kongressmitglieder Christen. Aktuell gibt es unter den 535 Abgeordneten nur eine einzige Atheistin, nämlich die demokratische Senatorin Kyrsten Lea Sinema. Und das, obwohl sich rund 10 % der Amerikaner inzwischen als Atheisten oder Agnostiker bezeichnen. Die Leute wählen also wertkonservativer als sie sind. Man könnte auch sagen: sie wählen moralischer als sie selbst leben.

Womit wir bei Donald Trump wären. Ich will nicht darüber spekulieren, wie ernsthaft und ehrlich sein Glaube ist. Viel wichtiger für die Analyse der politischen Lage, um die es mir geht, ist schließlich die Tatsache, dass ihn die weißen evangelikalen Christen 2016 gewählt haben. Und zwar in einem Ausmaß, das andere republikanische Kandidaten und Präsidenten vor ihm nicht erreicht haben. (Zahlen und Details lassen sich in zwei Studien des Kommunikationswissenschaftlers Ceri Hughes nachlesen. Thou Art in a Deal. The Evolution of Religious Language in the Public Communications of Donald Trump und The God Card. Strategic Employment of Religious Language in U.S. Presidential Discourse.)

Hughes’ Studien haben sich mit meinem Gefühlsbefund gedeckt, der besagte, dass die religiösen Bezugnahmen und Gottesverweise in Trumps öffentlichen Stellungnahmen deutlich zugenommen haben, seit er Präsident ist. Hughes kann anhand der Analyse von Reden und Tweets zeigen, dass es 2016 in Trumps Kampagne kaum religiöse Bezüge gab. Zumindest bis zu dem Punkt, als er Kandidat geworden ist. Von da an nehmen die Glaubensbezüge massiv zu, und seit er Präsident ist, sind sie weiter gewachsen. Und zwar nicht nur ein bisschen, sondern so sehr, dass Trump – betrachtet man seine öffentlichen Stellungnahmen – inzwischen fast schon wie ein Apostel erscheint.

Viele (liberale) Betrachter mögen angesichts von Trumps Angriffen und Beleidigungen den Paulus im Saulus nicht sehen, aber er ist da, und er wird von seinen christlichen Wählern gehört, und zwar in dem Maße, in dem sie den Saulus überhören. Das begann schon bei Trumps Inaugurationsrede, in der er mehr religiöse Bezugnahmen verwendet hat als jeder Präsident vor ihm (Hughes’ Untersuchungen reichen in diesem Falle bis Roosevelt zurück).

Seitdem haben sich Trumps Glaubensbekenntnisse fortgeschrieben. Verglichen mit der Zeit vor 2016 haben sich seine religiösen Bezugnahmen verdreifacht. Dabei gilt: je konservativer der Bundesstaat, in dem Trump eine Rede hält bzw. dessen Bevölkerung er adressiert, desto religionslastiger ist die Ansprache.

Gewiss, Trump schreibt seine Reden nicht selbst, aber erstens setzt sich seine Frömmelei auch dann fort, wenn er vom Manuskript abweicht, zweitens zeigt sich die Zunahme religiöser Begriffe und Konzepte auch in den tausenden Tweets, die er zu einem guten Teil selbst verfasst hat, und drittens zählt auch in diesem Falle nicht die Aussage des Einzelnen, sondern der Diskurs, in den sie eingebettet ist, und der hat sich bei Trump und seinen Leuten in den vergangenen Jahren deutlich in Richtung der rechtskonservativen, weißen, amerikanischen Christen verschoben. Die vielen Gottesanbetungen und religiösen Bezüge sind jedenfalls alles andere als ein Zufall, sondern haben System, und da ist es egal, ob Trump sie absondert oder einer seiner Redenschreiber sie verfasst. Sie sind da, und sie wirken – und das ist, was zählt.

Wobei nicht übersehen werden darf, dass die religiösen Bezugnahmen in den Reden von US-Präsidenten seit Reagan generell gestiegen sind und zwar parteiübergreifend. Interessant dabei ist: vor Reagan haben die Demokraten deutlich mehr religiöse Bezüge in ihre Texte eingeflochten als die Republikaner. Inzwischen hat sich das aber – auf deutlich höherem Niveau als zuvor – gedreht. Die führenden amerikanischen Politiker wirken seit Reagan generell mehr vom Himmel geerdet als zuvor, geben sich religiöser, gläubiger und wertkonservativer, und zwar nicht nur die Republikaner, sondern auch die Demokraten.

Religiöse Werte, Konzepte und Begriffe werden mit nahezu allen politischen Themen und Handlungsfeldern verknüpft, von der Wirtschafts- und Handelspolitik bis hin zur Außen- und Verteidigungspolitik. Trump hat vor allem seine Innen- und Sozialpolitik mit konservativen Bezügen angereichert.

Was nicht weiter überrascht, denn hier lässt es sich besonders leicht punkten, sei es in Fragen der Abtreibungspolitik, der gleichgeschlechtlichen Ehe oder anderen religiös-werthaltiger Themen. Die vielen konservativen Richter, die Trump in Amt und Position gebracht hat, sind quasi der Beweis für seine Worte – ein Zeichen an seine Wähler, dass es ihm ernst mit den christlichen Werten ist.

Der Effekt ist dann auch nicht zu übersehen. Trump hat seine evangelikale Basis trotz all der Vorwürfe, Skandale und Enthüllungen, die seine Amtszeit begleitet haben, nie verloren. Zugleich scheinen die vielen religiösen Bezüge und der betonte Wertkonservativismus Trumps auch mit seiner „unchristlichen“ Vergangenheit zu tun zu haben, die sich in zwei Scheidungen, diversen Affären und noch ein paar anderen Dingen gezeigt hat.

Dieses Wieder(er)finden des Glaubens und der Religion im Amt war schon Ronald Reagan zu eigen. Genau wie Trump war auch er bereits geschieden, als er Präsident wurde. Allerdings nur einmal, nicht zweimal. Aber das ist im Grunde nicht wichtig. Entscheidend ist, dass sich Trump – genau wie Reagan – seine religiöse Glaubwürdigkeit mit Worten und Taten „zurückverdient“ hat. Die Evangelikalen haben das mit kontinuierlicher Unterstützung goutiert. Und da ist es im Grunde auch egal, ob die Religion für Trump eine Sache des Glaubens oder eine des Geschäfts ist, zumal man das ohnehin kaum trennen kann.

Als Trump im August 2018 eine Reihe evangelikaler Kirchenführer zu einem Bankett ins Weiße Haus einlud, teilte er ihnen mit: „Die Unterstützung, die Sie mir gegeben haben, war unglaublich. Aber ich fühle mich nicht schuldig, denn ich habe Ihnen viel zurückgegeben, so ziemlich alles, was ich versprochen habe. Einer von Ihren großartigen Pfarrern hat sogar gesagt: ,Sie haben uns viel mehr gegeben, als Sie uns versprochen haben, Sir.‘ Und ich denke, das ist in vielerlei Hinsicht richtig.“

Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.

Direkt zum „Tagebuch eines Hilflosen“.

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