LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 83, seit 25. September im HandelAnfang September bot sich ein ungewohntes Bild in der Leipziger Innenstadt: Ein DDR-Wohnwagen stand zwei Tage lang auf dem Richard-Wagner-Platz; davor Klapptisch und -stühle, stilecht mit Karo-Stoffbezug. Wer sich dem provisorischen Camper-Idyll näherte, merkte schnell, dass es hier weder um Ostalgie noch um Wohnanhänger ging. Thema der Aktion war Sexarbeit. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Aidshilfe Leipzig anlässlich des Internationalen Tags der sexuellen Gesundheit am 4. September.
Plakate an der Außenverkleidung des Wohnwagens informierten über die Geschichte der Sexarbeit. Im Innenraum repräsentierten Peitschen, Dildos und Massagebürsten, wie facettenreich das Gewerbe sein kann. Sexarbeiterinnen und Mitarbeiterinnen der Aidshilfe standen für Gespräche bereit, vor ihnen mit Regenbogenflaggen überzogene Tische, auf denen Flyer und Sticker auslagen.
„Unser Hauptziel war es, dem Diskurs über Sexarbeit einen Raum zu geben und mit Vorurteilen aufzuräumen“, erklärt Linda Apsel, Sozialarbeiterin bei der Aidshilfe Leipzig. Und Vorurteile gibt es viele – zum Beispiel, dass käuflicher Sex stets auf Zwang beruht.
Mit den Vorurteilen einher geht ein gesellschaftliches Stigma, auf das auch zurückzuführen ist, dass die Sexarbeitsbranche zu den Bereichen zählt, die am längsten mit coronabedingten Berufsverboten zu kämpfen hatten und haben. Die Mitte März veröffentlichte Allgemeinverfügung des Freistaates Sachsen verbot die Ausübung von Sexarbeit im Sinne des Prostituiertenschutzgesetzes. Monatelang wurde Sexarbeiter/-innen die Existenzgrundlage genommen.
Das coronabedingte Verbot von Sexarbeit war während der sogenannten Love-Mobil-Aktion auf dem Richard-Wagner-Platz nur ein Thema von vielen. „Kein Gespräch war wie das andere, es kamen viele interessierte Menschen“, berichtet Apsel. Am Nachmittag des 4. September suchten Menschen jeglichen Alters den Info-Stand auf, junge Menschen von 16 bis Mitte 20, aber auch ältere Paare, die gerade vom Einkaufsbummel aus der Innenstadt zurückkehrten. Einzelpersonen blieben meist vor den Plakaten stehen und warfen einen zögerlichen Blick in den Wohnwagen.
„Die Regenbogenfahnen generieren Aufmerksamkeit, viele Leute fragen: Seid ihr jetzt für oder gegen Sexarbeit?“, berichtet Tamara Solidor. Sie ist selbstständige Sexarbeiterin und Generalsekretärin beim Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen. Bei der Aktion stand sie für Passant/-innen zum Gespräch bereit. „Vielen ist nicht bewusst, dass schon durch Benutzung des Begriffes ‚Sexarbeit‘ eine positive Konnotation mitschwingt.“
Während der Wohnwagen-Aktion nahm sich die Sexarbeiterin viel Zeit für Einzelgespräche. „Die meisten Leute fragen interessiert nach, was genau meine Arbeit beinhaltet und sagen oft: Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“ Selbst viele Kunden beschäftigen sich wenig mit dem politischen Diskurs und wissen zum Beispiel nicht, welche Parteien gegen Sexarbeit sind und welche dafür, erzählt Solidor.
Da Corona-Soforthilfen bei Sexarbeiter/-innen oft nicht griffen – beispielsweise, weil sie kaum Betriebskosten haben, für die der Zuschuss des Bundes ausgelegt war –, fand wegen der Pandemie sehr wahrscheinlich illegale Prostitution statt. Erst seit dem 1. September dürfen in Sachsen einige sexuelle Dienstleistungen wieder angeboten werden – sofern kein Geschlechtsverkehr vollzogen wird. Die Dienstleistungen müssen einem von den Behörden zuvor bewilligtem Hygienekonzept folgen.
Konkret bedeutet das, dass Praktiken wie Erotikmassagen oder Fesselspiele wieder erlaubt sind, das Tragen einer Maske verpflichtend ist und Kontaktdaten hinterlassen werden müssen. Oral-, Anal- und Genitalsex sowie Küssen bleiben verboten. „Ich halte es für realistisch, dass Sexarbeit mit diesem Konzept wieder laufen kann“, sagt Tamara Solidor. In der Schweiz und in Österreich ist Sexarbeit unter Auflagen seit Monaten wieder legal, erklärt sie. „Mir ist kein Fall bekannt, bei dem ein Superspreader-Event dort in Verbindung mit Sexarbeit aufgetreten ist.“
An den Auflagen der aktuellen Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung und am Umgang von Bund und Ländern mit dem Sexgewerbe seit Beginn der Pandemie gibt es viel Kritik. Der Berufsverband hat bereits im Mai ein Hygienekonzept vorgelegt, um sexuelle Dienstleistungen auch während der Pandemie wieder in die Legalität zu holen.
„Wir fordern die Gleichbehandlung von Sexarbeit mit vergleichbaren körpernahen Dienstleistungen“, hieß es damals in einer Pressemitteilung. Während in Sachsen beispielsweise nichtmedizinische Massagen seit Mai wieder erlaubt sind, blieben Erotikmassagen bis Ende August verboten. Die Übertragungsgefahr des Coronavirus dürfte bei beiden Tätigkeiten ähnlich hoch sein.
„Das sind unverhältnismäßige Standards“, meint Solidor. Neben dieser Doppelmoral bei der Entscheidung über Berufsverbote beklagt sie, dass sie über Dating-Apps wie Lovoo oder Tinder Sextreffs vereinbaren darf und sich damit nicht strafbar machen würde. „Aber bei geschäftlichen Treffen gibt es diese Einschränkungen.“
Die Opposition im Sächsischen Landtag wählt bei ihrer Kritik der aktuellen Regelungen bezüglich Sexarbeit einen härteren Ton. „Die neue Verordnung bleibt nicht nur weit hinter den Erwartungen zurück, sondern ist vor allem verantwortungslos“, meint Sarah Buddeberg von der Linksfraktion. Die Regelung komme einem Arbeitsverbot gleich.
Sexarbeiterin Solidor findet diese Kritik überzogen: „Ich sehe keinen Grund, warum Sexarbeit mit den aktuellen Einschränkungen nicht funktionieren sollte. Die neuen Regelungen sind ein absolut essentieller und wichtiger Schritt in die richtige Richtung, auch, weil illegale Arbeit auf der Straße gefährlich hoch zehn ist.“
Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 83: Zwischen Ich und Wir
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