Vor zehn Jahren erstachen Neonazis den Iraker Kamal Kilade in der Nรคhe des Leipziger Hauptbahnhofs. Seit seinem Tod โ€“ Kamal K. ist das bisher letzte bekannte Todesopfer rechter Gewalt in Leipzig โ€“ rufen zivilgesellschaftliche Bรผndnisse jรคhrlich zu Gedenkdemonstrationen Ende Oktober auf.

So auch am Samstag, den 24. Oktober 2020. Unter dem Motto โ€žNiemand ist vergessen, nichts ist vergeben!โ€œ versammelten sich nach Zรคhlung der L-IZ.de im Verlauf der Demonstration etwa 1.000 Menschen, um vom Sรผdplatz รผber den Simsonplatz durch die Innenstadt und bis zum Gedenkstein an Kamal K. im Park vorm Hauptbahnhof zu ziehen.

Trotz der Hinweise des Organisationsteams bezรผglich der Corona-Abstรคnde standen die Teilnehmer/-innen oft dicht an dicht, trugen jedoch ausnahmslos Mund-Nasen-Bedeckungen.

Rund 1.000 Menschen demonstrierten am Samstag, den 24. Oktober 2020, gegen Rassismus und gedachten den Todesopfern rechter Gewalt in Leipzig und ganz Deutschland. Foto: Luise Mosig
Rund 1.000 Menschen demonstrierten am Samstag, den 24. Oktober 2020, gegen Rassismus und gedachten den Todesopfern rechter Gewalt in Leipzig und ganz Deutschland. Foto: Luise Mosig

Bereits zu Versammlungsbeginn 16:30 Uhr wurde deutlich, dass zum zehnten Todestag Kamal K.s weitaus mehr Menschen gekommen waren als zu den Gedenkdemos der letzten Jahre, bei denen oft nur wenige hundert Teilnehmer/-innen gezรคhlt werden konnten. Das Bรผndnis โ€žRassismus tรถtet! Leipzigโ€œ hatte mit wochenlangem Vorlauf und einer Aktionswoche vergleichsweise stark mobilisiert.

Rassistische Beleidigungen am Rande der Demo

Nur wenige Minuten, nachdem sich der Demonstrationszug am Sรผdplatz in Bewegung gesetzt hatte, bestรคtigten Passant/-innen entlang der Karl-Liebknecht-StraรŸe die von den Demonstrierenden angeprangerte rassistische deutsche Mehrheitsgesellschaft: Angesichts des ersten Demoblocks namens โ€žMigrantifaโ€œ, in dem vorrangig nicht-weiรŸe Menschen liefen, wandte sich ein vorbeilaufender Mann mit den Worten โ€žGuckt mal, irgendwelche Auslรคnderโ€œ an seine Begleiter/-innen und ahmte deutlich hรถrbar Affengerรคusche nach.

Der Demonstrationszug passierte im Laufe des Nachmittags drei Tatorte, an denen in den vergangenen Jahrzehnten Menschen von Neonazis getรถtet wurden. Den ersten Stopp machten die Teilnehmer/-innen an der Ecke SchletterstraรŸe/Karl-Liebknecht-StraรŸe, wo 1996 der Syrer Achmed Bachir in einem Gemรผseladen ermordet wurde. Fรผr ihn โ€“ wie auch fรผr zwei weitere entlang der Route durch rechte Gewalt getรถteten Personen โ€“ legten die Demonstrierenden jeweils eine Schweigeminute ein.

Ein Sprecher wies darauf hin, dass viele der Demonstrierenden jรผnger sind als der Mord an Achmed Bachir alt ist. โ€žDas zeigt, wie aktuell die Thematik ist. Wir mรผssen immer wieder an rassistische, antifeministische und antisemitische Gewalt erinnern.โ€œ

In verschiedenen Redebeitrรคgen prangerten die Sprecher/-innen an, dass rechtsmotivierte Gewalttaten keine Einzelfรคlle seien, so wie oft von Behรถrden und Medien suggeriert. โ€žRassismus beginnt nicht erst da, wo das Messer gezรผckt wird, sondern ist strukturell in der Gesellschaft verankert.โ€œ Fรผr die Bekรคmpfung des Problems sei es elementar, die Zusammenhรคnge zwischen rassistischer Mehrheitsgesellschaft und rechter Gewalt zu erkennen.

Schlenker zum LVZ-Redaktionsgebรคude

Bevor der Demonstrationszug von der Karl-Liebknecht-StraรŸe links in Richtung Simsonplatz abbog, verlieรŸen etwa zwanzig Teilnehmer/-innen kurzzeitig die vorgegebene Route und liefen mit schnellen Schritten zum Redaktionsgebรคude der Leipziger Volkszeitung (LVZ) im Peterssteinweg. โ€žLVZ โ€“ Rassistenblatt, wir haben euch zum Kotzen sattโ€œ und รคhnliche Rufe hallten fรผr einige Sekunden gegen die Fassade des Verlagshauses.

Die Demonstrierenden kritisierten damit die teils rassistische Berichterstattung der LVZ, auch bezรผglich rechtsmotivierter Morde in Leipzig. Bereits die erste Spontandemonstration kurz nach dem Mord an Kamal K. im Jahr 2010 hatte das LVZ-Gebรคude zum Ziel.

Video vor dem LVZ-Gebรคude

Video: Luise Mosig, L-IZ.de

Damals hieรŸ es von Seiten des Demobรผndnisses: โ€žBei Straftaten wird beim Verdacht, es handele sich nicht um โ€šdeutscheโ€˜ Tรคter/innen, immer auf die vermeintliche Herkunft derselben verwiesen. Auch beim jรผngsten Mordfall war sich die LVZ nicht zu schade, am Ende ihres Berichtes darauf hinzuweisen, dass โ€šauch das Opfer vorbestraftโ€˜ sei.โ€œ

Einer Sprecherin des feministischen Bรผndnisses โ€ž#KeineMehrโ€œ prangerte in einem spรคteren Redebeitrag ebenfalls rassistische Formulierungen in LVZ-Artikeln an. Ihre Kritik bezog sich auf die Doppelstandards in der Berichterstattung รผber sogenannte Femizide, also Morde an Frauen. โ€žSind die Tรคter weiรŸ, ist von โ€šFamilientragรถdieโ€˜ oder โ€šLiebesdramaโ€˜ die Rede, bei nicht-weiรŸen Tรคtern heiรŸt es โ€šMordโ€˜.โ€œ

Gedenktafel fรผr ermordeten Karl-Heinz Teichmann beschรคdigt

Mit Rufen wie โ€žDeutsche Polizisten โ€“ Sexisten und Rassistenโ€œ und โ€žSo, so, so โ€“ so viele Einzelfรคlleโ€œ kam der Demonstrationszug gegen 18 Uhr auf dem Simsonplatz vor dem Bundesverwaltungsgericht zum Stehen, wo weitere Kundgebungen stattfanden.

Ein Sprecher der โ€žNaturfreundejugend Leipzigโ€œ rekapitulierte die Ablรคufe des antisemitischen Anschlags in Halle 2019. Seine Einordnung der Tat: โ€žFaschistisch motivierter Vernichtungswahn fรคllt nicht einfach so vom Himmel, sondern ist das Ergebnis eben dieser Strukturen in der Gesellschaft.โ€œ

Er verwies auรŸerdem auf einen โ€žZeit Onlineโ€œ-Portrรคttext von Martin Machowecz รผber den Schreiner der hรถlzernen Synagogentรผr, die der Halle-Attentรคter nicht wie geplant aufbrechen konnte. โ€žAls wรคre es nur die gute deutsche Wertarbeit, die den Menschen das Leben gerettet hat, und nicht der spontan organisierte Selbstschutz.โ€œ Nach der Tat hatte der Vorsitzende der Jรผdischen Gemeinde Halle den Vorwurf erhoben, die Polizei habe der Synagoge trotz einer eindeutigen Bitte keinen Schutz geboten.

Gegen 19:30 Uhr hielten die Demoteilnehmer/-innen nahe dem Schwanenteich hinter der Oper eine zweite Schweigeminute ab, diesmal fรผr den 2008 von einem Neonazi zu Tode geprรผgelten Wohnungslosen Karl-Heinz Teichmann. Ein Sprecher des Organisationsteams wies daraufhin, dass soeben Beschรคdigungen an der Gedenktafel fรผr den Ermordeten festgestellt wurden. รœber die Umstรคnde der Beschรคdigungen wisse man noch nichts. Erst im August hatten zivilgesellschaftliche Akteur/-innen die Schrifttafel an einer Parkbank angebracht.

https://twitter.com/nika_sachsen/status/1320055611007115264

Zum Abschluss wurden wieder einmal Rosen am Gedenkstein fรผr Kamal K. im Bรผrgermeister-Mรผller-Park niedergelegt und Kerzen angezรผndet. Eine letzte Ansprache richtete sich direkt an einen der Tรคter im Fall Kamal K. โ€žDaniel K., du Polizistensohn, wir werden dir weiterhin auf den Fersen bleiben und dir keine ruhige Minute gรถnnen, denn das haben Faschisten wie du nicht verdient.โ€œ

Daniel K. ist seit 2015 wieder auf freiem FuรŸ.

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