LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 84, seit 23. Oktober im HandelAm Abend des 9. November 1989 sagte Stefan Aust in einem Kommentar: „Heute Abend ging der zweite Weltkrieg zu Ende“. Der Mann hatte Recht. Der Mauerfall setzte einen Schlusspunkt unter die Nazidiktatur und den auf sie folgenden Kalten Krieg. Damals wird Aust mit seiner Interpretation eher alleingestanden haben.
30 Jahre, eine Generation also vom Mauerfall bis zum Corona-Jahr 2020. Was blieb von der DDR in der Berliner Republik? Ich stellte diese Frage sechs Menschen aus meiner näheren Umgebung. Die sowohl ostdeutscher sowie westdeutscher Herkunft waren, zwischen 34 und 73 Jahren sind und von denen nur rein zufällig vier weiblich waren.
Neben Hinweisen darauf, dass in Ostdeutschland immer noch ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung ausschließlich im Niedriglohnbereich beschäftigt sind und die Ostdeutschen allgemein für dieselben Tätigkeiten um die 17 Prozent weniger verdienen als ihre in den Altbundesländern beschäftigten Mitbürger, kamen bei meinen Befragungen einige weitere Punkte immer wieder zur Sprache.
Ostdeutsche Menschen bleiben sich auch eine Generation nach der Wiedervereinigung ihrer ostdeutschen Herkunft bewusst und sehen sich erst in zweiter Linie als Deutsche oder Europäer. Es existiert unter Ossis weiterhin ein diffuses Gemeinschaftsgefühl, das man so von regionalen Volksgruppen wie Bayern, Friesen oder Schwaben kennt, aber sonst nicht derart länderübergreifend beobachten kann.
Wobei diese Zugehörigkeit emotional mit einem anderen, eben typisch ostdeutschen Lebensgefühl begründet wurde. Das sich auf eine andere Sicht auf Gemeinschaft bezieht und eine angeblich höhere Empathie füreinander, die allgemein unter Ostdeutschen herrsche. Schaut man sich westdeutsche Meinungsbilder an, dann stand dort spätestens seit der ersten Kohlregierung (jene von Kohl ausgerufene, aber nie ganz durchdefinierte „geistig moralische Wende“) eher eine Betonung des Individualismus, statt die Geborgenheit in der Gemeinschaft im Vordergrund.
Hat es die Berliner Republik also auch im Jahr 30 ihres Bestehens noch nicht vermocht, den Kohlschen und später Schröderschen Leistungsgedanken vollumfänglich in Ostdeutschland zu etablieren?
Bei meiner brachial unrepräsentativen Telefonumfrage wurde auch mehrmals sowohl von west- wie ostdeutscher Seite erwähnt, wie hoch das Vertrauensgefälle in Medien zwischen Ost- und Westdeutschen sei. Demnach vertrauen nämlich nur etwas mehr als ein Viertel der Ossis auf die Integrität der sogenannten etablierten Medien.
Was sich vielleicht auch damit erklären ließe, dass Ostdeutschland in den Medien der Republik weiterhin unterrepräsentiert bleibt. Und, falls es da stattfinden sollte, dies in eher negativen Zusammenhängen erfolgt. Der Ossi ist halt auch „a zäher Hund“, der störrisch drauf beharrt, dass auch außerhalb Stuttgarts, Münchens, Hamburgs und jenes am Main liegenden Frankfurts Erfolgsgeschichten existieren, die grundsätzlich des Berichtens wert wären.
Gemessen daran so wirklich gut zusammengewachsen ist die Berliner Republik allerdings darin, dass sich verschiedenen Umfragen zufolge nahezu ebenso viele Ost- wie Westdeutsche in ihrem Land als Bürger zweiter Klasse fühlen. Wo langwieriger als zunächst erhofft zusammenwächst, was angeblich ja zusammengehört, sollte man auch auf solch kleinere Erfolge stolz sein, finde ich.
Nach den typisch Ostdeutschen Dingen befragt, die im Westen zu einer, wenn auch schleichenden, Veränderung führten, fielen die Antworten überraschend eindeutig aus. Denn dort wurde neben dem Abbiegepfeil jedes Mal die Ganztagsbetreuung von Kindern genannt. Die sich inzwischen ja sogar in Unionsregierten Ländlen durchsetzt, wo man traditionell Frauen höchstens als Teilzeitkräfte sehen mag, für die ihre berufliche Erfüllung bislang gut katholisch hinter der häuslichen Kinderbegluckung zurückzustehen hatte.
Wobei auch hier noch eine Menge im Argen liegt. Denn schaut man sich die Kosten für Kinderbetreuung an, so fallen die im Westen durchschnittlich immer noch deutlich höher aus als im Osten. Noch im November 2019 thematisierte ein Leitartikel in der „Welt“, dass es ungerecht sei, wenn der Steuerzahler für die Kosten der Ganztagsbetreuung aufkäme. Begründung: Nicht alle Steuerzahler seien Eltern (schwer von der Hand zu weisen).
In derselben Ausgabe wurde allerdings auch der Fachkräftemangel in Deutschland beklagt. Angesichts dessen die schon nicht unberechtigte Frage: Ob kostenlose Kita- und Hortplätze für qualifizierte Frauen nicht auch helfen könnten, den zu mindern, weil sie Müttern mehr als bloße Teilzeitjobs ermöglichen? Man ahnt, dass verdiente (sprich: an Lebensjahren reife) Unionspolitikschlachtrösser dieser Argumentation auch 2020 gerne aus dem Weg gehen.
Die Kinderganztagsbetreuung neben dem grünen Abbiegepfeil wären demnach die Errungenschaften, die aus dem Osten auch im westlich sozialisierten Teil der Republik angekommen seien? Gut abgepfeffert dies zudem durch eine, grob ausgedrückt, typisch ostdeutsche Gemeinschaftswagenburgmentalität? Nicht viel, was von 40 Jahren realsozialistischem in immerhin nahezu ebenso vielen Jahren gesamtdeutschem Staatsexperiment auf deutschem Boden einfloss.
Einer meiner Gesprächspartner, männlich, zweiundvierzig, von ostdeutscher Sozialisation, ging gar nicht erst näher auf meine Fragen zu Zusammengehörigkeit und Unterschieden zwischen den beiden deutschen Hauptvolksstämmen ein, sondern offerierte angesichts der Einheitsjubiläumsfeiern eine Neuinterpretation des textilen Einheitssymbols Nationalflagge.
„Alter, Schwarz ist klar, oder? Aussichtslosigkeit, Tunnel, Ende, Grab und aus die Maus. Rot ist für ficken und für Warnfarbe. Siehste ja überall: Rot ist auf Warnschildern. Gold ist ooch klar, wa? Die da oben werden immer schneller reich. Weißte was? Die waren da schon clever als die die Farben in dieser Reihenfolge gebaut haben. Oben, die im Tunnel, das sind die meisten. In der Mitte, die die vögeln und die die dich an aller Eigeninitiative hindern, das sind die Kleinbonzen. Und unten, logisch, das sind die Bosse.“
Auf meinen Einwand, dass alle drei Farbbalken der deutschen Flagge die exakt selbe Breite und Länge aufwiesen und das ja möglicherweise auch eine Rolle in seiner Neuinterpretation spielen sollte, entgegnete er: „Deswegen war das doch so smart, Alter! Hätten die den Goldstreifen zuerst und dann den roten und zum Schluss den Schwarzen gestellt, dann wäre das ja aufgefallen, dass du unten im schwarzen Bereich immer voll der Arsch bist.“ Okay, noch ein Unterschied zwischen Ossis und Wessis, angeblich verfallen Ostdeutsche ja eher dem Glauben an Verschwörungstheorien als Westdeutsche.
Und die Bilanz?
Unterschiede sind kein Beinbruch. Im Gegenteil. Wenn Söder Franke bleiben darf und Volker Bouvier Hesse, dann sollte man sich in diesem Land nicht vor einer typisch ostdeutschen Identität fürchten. Es braucht Hefe um einen Brotteig zu machen. Es braucht Widerstände und Unterschiede um ein Land voranzubringen.
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