LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 83, seit 25. September im HandelFrühsommer 2011. Obama im White House. Im Irak und in Afghanistan herrschte zwar Krieg. Aber in Syrien nicht. Die deutsche Wirtschaft brummte nach der Finanzkrise wieder lauter und im Reichstag regierte Angela Merkels gelb-schwarze Koalition. Ein narzisstisch veranlagter Immobilienhai namens Donald Trump verdiente damals sein Geld noch damit, bei Immobilienbewertungen zu betrügen, überteuerte Clubgebühren für seine Golfplätze einzufordern, vergoldete Steaks zu verticken und eine Fernsehshow namens „The Apprentice“ zu moderieren, deren Höhepunkt darin bestand, dass er „You are fired!“ in eine Kamera brüllen durfte.
Beim US-Kabelsender HBO lief im Juni 2011 die Serie „The Newsroom“ an. Hauptperson Will McAvoy, dargestellt von Jeff Daniels, ist Nachrichtenmoderator und Redakteur eines CNN-artigen Kabelsenders. McAvoys Show fährt Traumquoten ein. Weshalb ist der Mann so beliebt? Weil er in seiner Sendung keinem wehtut und es dort vor Menschelei nur so trieft.
Sein Problem: Eigentlich will er eine so belanglose Show gar nicht machen. Aber wenn er jeden Abend um 21 Uhr auf den Bildschirmen erscheint, hat er ein paar Millionen Freunde, die ihm zusehen und denen er mithilfe mal rührender, mal patriotischer Beiträge vormacht, Amerika sei immer noch the greatest Country in the World. Diese „Freunde“ will er weder verlieren noch enttäuschen.
Allerdings begeht er eines Tages den Fehler, öffentlich klarzustellen, dass er selbst längst nicht mehr daran glaubt, Amerika sei so fucking great. Seine Quoten kriegen einen Dämpfer. McAvoys Boss Charlie Skinner, gespielt von Sam Waterston, nimmt dies zum Anlass, ihn an einige harte Fakten über den Sinn und Zweck einer Nachrichtensendung zu erinnern. Woraufhin die beiden beschließen, dass sie von nun an genau das produzieren werden: eine echte Nachrichtensendung.
Journalisten sind empfindlich und neigen zu Gekränktheit, sollte man ihnen einen Spiegel vorhalten, in dem sie nicht gar so heldenhaft und integer erscheinen, wie sie selbst sich und ihre Profession gerne sehen wollen. Weswegen die Kritiken der ersten Staffel von „The Newsroom“ erwartbar mau ausfielen.
Während seiner Mission, Amerika mithilfe einer echten Nachrichtensendung besser zu machen, steckt McAvoy eine Reihe von Schlägen ein und muss sich unbequemen Wahrheiten stellen. An einen der Dialoge zwischen McAvoy und dem alten Nachrichtenstreitross Charlie Skinner fühlte ich mich neulich erinnert.
Dort streiten die beiden über Ausgewogenheit in der Berichterstattung. McAvoy besteht darauf, dass man stets möglichst objektiv beide Seiten einer Story zeigen sollte, um die Zuschauer rundum zu informieren. Skinner findet das grundsätzlich auch. Aber er warnt McAvoy auch, dass Ausgewogenheit und Objektivität zu einem Fetisch werden können, der dazu führt, dass man harte Fakten aufweicht.
Zweifellos existieren eine Reihe von Physikern und Chemikern, die mithilfe einer Reihe von komplexen Formeln den Grad der Nassigkeit von Wasser relativieren könnten. Den Migranten, die gerade auf einem Seelenverkäufer im Mittelmeer absaufen, ist die Relativierung der Nassigkeit von Wasser allerdings scheißegal. Und das wäre sie auch in jedem Bericht über ein neues Unglück mit Dutzenden Opfern irgendwo zwischen Griechenland und Syrien oder Libyen und Sizilien.
Den theoretisch möglichen Graubereich der Nassigkeit von Meerwasser dennoch in einem Newsbericht über ertrinkende Migranten zu erwähnen, hieße, die Wucht von dessen Eindruck zu schmälern. Genau deswegen werden Populisten und Propagandakrämerseelen immer versuchen, ihre Lügen hinter vermeintlicher Objektivität und Ausgewogenheit zu verstecken.
Nachdem Moria brannte, schaltete ich bei der bundesdeutschen Flaggschiff-Talkshow ein und gab mir eine Stunde „Anne Will“ in der ARD. Motto der Talkshowreihe: „Politisch denken, persönlich fragen.“
Moderatorin Will macht eine Liveschalte zu Korrespondentin Isabel Schayani auf Lesbos. Sie war zweifellos dazu gedacht, die Show mit exakt gefiltertem Tränendrüsenmaterial dramaturgisch aufzuhübschen. Beiträge wie dieser bilden das menschelnd bunte Softeis unter den dramaturgischen Stilmitteln, laufen zwar sahnig glatt die Publikumskehle hinab, aber tun dabei keinem wirklich weh.
Nur bekamen die Talkshowmacher von Isabel Schayani zugleich viel mehr und deutlich weniger als sie erhofft hatten. Frau Schayani lieferte nämlich eine Sternstunde des TV ab, indem sie gar nicht zu verhehlen versuchte, dass sie eine Meinung hatte.
Während ihrer Schalte saß sie bei einer Flüchtlingsfamilie im Straßendreck, berichtete, dass diese Leute kilometerweit gelaufen waren, um sich einige Eier zu beschaffen, die sie gerade gegessen hatten, und dass diese Eier alles waren, was sie an diesem Tag an Nahrung bekommen hatten. 40 Meter von ihnen entfernt – erklärte Schayani – befände sich übrigens eine gut beleuchtete Lidl-Filiale. Moderatorin Will erkennt, dass sie die Schalte ab jetzt einfach laufen lassen sollte.
Isabel Schayani ist eine erfahrene Korrespondentin, die im Laufe ihrer Karriere tausende solcher Auftritte hinter sich brachte, die vor bemühter Ausgewogenheit und Objektivität sicher nur so strotzen. Doch an diesem Abend kann sie nicht anders, als Tacheles zu reden, zuzugeben, dass sie überfordert mit der Situation auf Lesbos ist und keine Patentlösungen parat hat. Sie geht aber auch keine Sekunde in die Relativierungsfalle und liefert so eine warmherzig ehrliche Zustandsbeschreibung einer für die EU und ganz Westeuropa unfassbar peinlichen und erbärmlichen Situation.
Selbst der zur Sendung eingeladene Talkshowprofi Manfred Weber, CSU, Möchtegern-EU-Spitzenkandidat und verlässlicher Verteidiger von Viktor Orbán und Diktatorenfanboy Jaroslaw Kaczynski im EU-Parlament, ist nach Frau Schayanis Livebeitrag so überfordert damit, die EU-Migrationspolitik zu verteidigen, dass er sich in seinen Redebeiträgen bei gleich mehreren dreisten Lügen ertappen lässt. Die alle dazu dienen sollten, Frau Schayanis Beitrag und die Situation auf Lesbos zu relativieren.
Horst Seehofer und sein Parteifreund Weber mögen heimlich das Angebot von Gratisschwimmkursen in Libyen, Syrien und der Sahelzone für einen besonders effektiven Teilaspekt der EU-Migrationspolitik halten. Doch man darf vermuten, dass solche Lösungsansätze der Flüchtlingsproblematik nach der Katastrophe von Moria und der Berichterstattung darüber dem bundesdeutschen Wahlvolk zunehmend schwerer plausibel zu machen sind.
Aufrichtig gemachte Nachrichten wirken. Wie Charlie Skinner in „The Newsroom“ zu Will McAvoy sagt: „Cut the Bullshit, Will. Report the News!“. Dann weist er McAvoy darauf hin, dass es keine Schande für einen Moderator sei, eine eigene Meinung zu haben. Neben dieser an sich schon revolutionären Aussage macht Charlie Skinner eine weitere, die inzwischen längst legendär geworden ist: „Ich bin zu alt, um mich von der Angst vor dummen Leuten beherrschen zu lassen!“
Kein ganz schlechtes Motto auch für bundesdeutsche Wähler.
Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 83: Zwischen Ich und Wir
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