Krisenzeiten sind Möglichkeitszeiten, Zeiten von Überbietung und Experiment. Corona zeigt uns das jeden Tag, und nur die heimlichen Datenkraken wissen, wie tief das Wasser unter der Oberfläche noch ist. Wobei es im Grunde gar keine Tauchgänge in die Untiefen des Möglichen (und die Abgründe des Menschlichen) braucht, denn was auf der Oberfläche schwimmt, ist erschreckend genug.
Nehmen wir einfach nur mal Bildungsministerin Betsy DeVos. Die geborene Milliardärin macht sich seit jeher für Privatschulen stark, am liebsten für solche mit religiöser Grundierung. Corona bietet ihr die Chance, ihr Privatisierungsprogramm noch weiterzutreiben. Und zwar in einem Ausmaß, das vorher nicht vorstellbar war.
Dazu bedurfte es im Grunde nur eines der vielen Hilfsprogramme, die jetzt allerorts aufgelegt werden. In diesem Falle handelte es sich um CARES, den Coronavirus Aid, Relief and Economic Security Act, den das Repräsentantenhaus beschlossen und Trump am 27. März durch seine Unterschrift in Kraft gesetzt hat. (Inzwischen werden Gesetze so benannt, dass sie schon qua Namen Glücksgefühle auslösen).
So auch bei Betsy DeVos, denn ein Teil der mit CARES verbundenen 2,2 Billionen Dollar sollte den amerikanischen Schulen zugute kommen. Wobei das Repräsentantenhaus das Geld nicht nach dem reinen Gießkannenprinzip ausschütten wollte, sondern mittels seiner gesetzgeberischen Kraft zumindest ein Loch so in den Sprühkopf gebohrt hat, dass der Strahl des warmen Geldregens vor allem auf jene Schüler fällt, die aus sozial schwachen Familien kommen.
Welche Art von Schulen diese Schüler besuchen, sollte dabei egal sein. Mit anderen Worten: auch Privatschulen konnten die Gelder für ihre Schüler beantragen, je nachdem, wie viele bedürftige Schüler sie haben. Naturgemäß sind das nicht allzu viele. Das wusste auch Bildungsministerin Betsy DeVos, weshalb sie das Gesetz ein wenig uminterpretierte, das heißt mehr in ihrem Milliardärs-Sinne deutete und der Ansicht war, dass die Hilfsgelder nicht auf Basis der Zahl bedürftiger Schüler, sondern auf Basis der Gesamtschülerzahl berechnet werden sollte. Mit anderen Worten: Wenn eine Privatschule 1.000 Schüler hat und eine öffentliche ebenso, dann sollen die Gelder auch jeweils unter den 1.000 Schülern verteilt werden.
Dass das dem Geist des Gesetzes widerspricht, dürfte DeVos klar gewesen sein, schließlich war es das Ziel, Schüler aus einkommensschwachen Familien zu helfen. Da diese aber vor allem an öffentlichen Schulen zu finden sind und es DeVos’ großes Ziel ist, die Privatschulen zu stärken, konnte das nicht in ihrem Sinne sein, schließlich hätten die öffentlichen Schulen dann einen Großteil der Hilfsgelder erhalten.
Also wurde das Gesetz von DeVos mit viel interpretatorischem Aufwand umgedeutet und im Juli eine Richtlinie erlassen, die die Schulen dazu zwang, Teile der Gelder zurückzuhalten, damit sie nicht nur unter den bedürftigen, sondern unter allen Schülern von Privatschulen verteilt werden können. In der Summe hieß das: weniger Geld für die öffentlichen Bildungseinrichtungen und mehr für die privaten.
Im Grunde macht die unter dem Deckmantel von Corona erlassene Richtlinie das, was DeVos auch schon vorher getan hat, schließlich ist sie schon seit Jahrzehnten eine der entschiedensten (und finanzstärksten) Verfechterinnen für das, was sie „freie Schulwahl“ nennt. Auch wenn es tatsächlich – und das ist gewollt – auf eine Förderung der privaten und religiösen Bildungseinrichtungen hinausläuft.
Corona kam DeVos da durchaus ganz recht, denn in Zeiten wie diesen liegen das Mögliche und das Machbare eng beieinander. Kein Wunder, dass sie im Mai in einem Interview mit dem Erzbischof von New York, Kardinal Timothy Dolan, unumwunden zugegeben hat, dass die Pandemie eine Chance für sie ist, mehr Gelder an private und religiöse Bildungseinrichtungen zu geben. DeVos verkauft das – wie üblich – als Gleichberechtigung, denn ihrer Meinung nach bekommen die öffentlichen Schulen zu viel Geld, wodurch private und religiöse Bildungseinrichtungen benachteiligt würden und die Wahlfreiheiten der Schüler und Eltern eingeschränkt wären.
Donald Trump folgt ihr darin und hat die „school choice“ zu einem zentralen Thema seiner geplanten zweiten Amtszeit erklärt. Aber zum Glück haben die Götter vor den Erfolg nicht nur den Schweiß, sondern auch die Stimmabgaben gesetzt und zur Wahrung des Machtgleichgewichts auch noch ein paar Gerichte mit installiert. Und ein solches hat nun entschieden, dass DeVos Interpretation des CARES-Act eine komplette Fehldeutung und ihre Richtlinie hinfällig ist. Entsprechend hart fiel auch das Urteil der Bundesrichterin aus. DeVos’ Bildungsministerium, so erklärte sie, habe mit der Richtlinie die Absicht des Repräsentantenhauses untergraben und die Rechte jener Schüler verletzt, die besonders hart von der Pandemie betroffen sind. Das Bildungsministerium wollte das zwar nicht einsehen, aber ein zweiter Bundesrichter bestätigte die Entscheidung und kritisierte die Richtlinie ebenfalls scharf. DeVos’ kleines Experiment ist damit gescheitert. Ihre große Umverteilung aber geht weiter.
Nachtrag:
Für gewöhnlich würde man die Entscheidung der Richter zumindest temporär als Niederlage der Bildungsministerin ansehen – und in gewissem Sinne ist sie das auch. Aber die Sache hat noch einen anderen Aspekt, denn nachdem ich diesen Text bereits beendet hatte, kam mir ein Aufsatz in den Sinn, den ich vor vielen Jahren mal gelesen habe.
Normalweise erinnere ich mich nicht an alte Aufsätze, aber der hier trug die These bereits im Titel und so was lässt sich anscheinend gut merken. „Gesetze, die nicht durchgesetzt werden“ lautete er, und der Untertitel machte klar, dass es sich dabei um „ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates“ handelte.
Nun will ich nicht behaupten, die USA unter Trump ähnelten einem frühneuzeitlichen Staat, aber die vielen Gesetze und Richtlinien, die seine Regierung erlässt und die dann doch nicht umgesetzt werden, lassen zumindest einige interessante Parallelen aufscheinen. Denn es war, wie in dem Aufsatz ausgeführt wird, ein Zeichen des frühneuzeitlichen Staates, dass er häufig Gesetze erließ, die sich gar nicht umsetzen ließen.
Aber dahinter stand keine behördliche Schlamperei, sondern ein symbolischer Akt. Die Obrigkeit war sich schließlich darüber im Klaren, dass ihre tatsächliche Macht beschränkt war und die Menschen unliebsame Gesetze ignorieren, umgehen oder anderweitig aushebeln würden, wann immer es sich bewerkstelligen ließ. Aber das interessierte die Obrigkeit nicht allzu sehr, denn die Gesetze waren nicht für die Menschen, sondern für sie selber gemacht. Oder besser: gedacht.
Denn sie waren weniger Anweisungen an die Untertanen, etwas Bestimmtes zu tun, als vielmehr Ausdruck dessen, was man als obrigkeitlicher Herrscher in einer bestimmten Situation selber tun würde. Mit anderen Worten: Die Gesetze waren nicht für die Mühen der Ebene, sondern für die Möglichkeiten der Berge gemacht. Visionen einer vollkommenen Welt, die sich nie einstellen, aber immer vorstellen ließ.
Diese Herangehensweise hat sich im kollektiven Unterbewussten offensichtlich erhalten, auch wenn die Möglichkeiten, Gesetze durchzusetzen, inzwischen ungleich größer geworden sind, ebenso wie die Optionen der Untertanen, etwas dagegen zu tun. Die Sache hat sich im Grunde „nur“ formalisiert.
Es werden Eingaben und Kommentare geschrieben, es werden Unterschriften gesammelt und Petitionen erstellt, es wird demonstriert, protestiert und geklagt. Der symbolische Akt des Gesetzemachens ist trotzdem geblieben. (Und wird inzwischen mit wohlklingenden Namen garniert.) Aber, who CARES?! Die Niederschrift muss ihren Niederschlag in der Realität gar nicht finden. Das Gesetz ist nicht das Geschehen und die Norm nicht die Realität.
Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.
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Die neue Leipziger Zeitung Nr. 82: Große Anspannung und Bewegte Bürger
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