Heiraten bedeutet, seine Rechte zu halbieren und seine Pflichten zu verdoppeln. In Washington D.C. zu leben bedeutet, keine Rechte zu haben, aber seinen Pflichten voll nachkommen zu müssen. Klingt komisch, ist aber so. Zumindest was gewisse Wahl- und Repräsentationsrechte betrifft.
Denn obwohl die Einwohner der Stadt wie alle anderen Steuern zahlen (und bei der Einkommenssteuer sogar das höchste Pro-Kopf-Aufkommen der USA haben), werden sie im Kongress von niemandem vertreten und können auch keine Vertreter wählen, denn Washington D.C. ist kein Bundesstaat und gehört auch zu keinem.
Die Gründe dafür liegen tief in der Geschichte und der amerikanischen Verfassung vergraben und sind derart kompliziert, dass seit über 200 Jahren Diskussionen über den rechtlichen Status der Stadt geführt werden. Fakt aber ist, dass Washington D.C. durch seinen Sonderstatus keine Vertreter in den Senat entsenden kann. Und auch im Repräsentantenhaus sieht’s schlecht aus. Zwar hat Washington D.C. dort seit 1971 eine Repräsentantin sitzen, und die darf auch Reden halten, in Ausschüssen mitarbeiten und sogar Gesetzesentwürfe einbringen, aber eben nicht darüber abstimmen.
Wobei die Sache eigentlich schon zugunsten von Washington D.C. entschieden war, und zwar 1978, als beide Kammern des Kongresses der Stadt das Wahl- und Vertretungsrecht mit großer Mehrheit zuerkannten und einen entsprechenden Zusatzartikel zur Verfassung verabschiedeten. Allerdings brauchte der zum Inkraftreten eine Drei-Viertel-Mehrheit der Bundesstaaten. 38 von ihnen mussten den Verfassungszusatz binnen sieben Jahren ratifizieren. Am Ende haben das aber nur 16 getan, womit das Wahl- und Vertretungsrecht wieder abgewählt war und abtreten musste, bevor es überhaupt antreten konnte.
Die Demokraten wollten das nun – wieder mal – ändern. Das wollten sie 1993 schon mal, aber da haben sie nicht mal ihre eigenen Leute zusammenbekommen, denn viele demokratische Abgeordnete aus dem Süden sind damals ausgeschert und haben die Sache platzen lassen. Jetzt gab’s also einen neuen Anlauf – und diesmal hat es geklappt. Ende Juni haben die Demokraten ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus dazu genutzt und dafür gestimmt, dass Washington D.C. der 51. Bundesstaat der USA wird und die entsprechenden Rechte bekommt.
Die Republikaner sind allerdings – mal wieder – dagegen und werden das Vorhaben deshalb mit ihrer Senatsmehrheit abschmettern. Die Gründe sind klar: Außerhalb des Weißen Hauses ist Washington demokratisch gesinnt. Die Bürgermeisterin ist eine Demokratin, das Stadtparlament ist auch fest in demokratischer Hand, und bei den Präsidentschaftswahlen hat Trump hier mit 4,1 % das schlechteste Ergebnis ever erreicht. Kurzum: Würde Washington D.C. ein Bundesstaat werden, würden sich die Kräfteverhältnisse im Kongress zugunsten der Demokraten verschieben. Und darauf haben die Republikaner natürlich so gar keine Lust.
Also nehmen sie es lieber in Kauf, dass über 700.000 Menschen keine demokratische Vertretung in der Legislative haben. Die USA ist damit die einzige Nation, die den Bürgern ihrer Hauptstadt die politische Repräsentation verweigert. Und das, obwohl Washington D.C. mehr Einwohner hat als die Bundesstaaten Wyoming und Vermont.
Washington D.C. hat aber noch etwas anderes, nämlich einen sehr hohen Anteil an Afroamerikanern. Den gab es in der Stadt schon vor dem Bürgerkrieg, der Unterschied zu anderen Städten aber bestand darin, dass die meisten Afroamerikaner, die in Washington D.C. lebten, schon damals keine Sklaven (mehr) waren. Was schlicht daran lag, dass die anderen Bundesstaaten den freigelassenen Sklaven nicht erlaubten, als Freie auf ihrem Territorium zu leben, weshalb viele nach Washington D.C. gingen. Und dort auch blieben. Über Generationen hinweg.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag ihr Anteil jahrzehntelang bei über 50 %. Die „schwarze Mehrheit“ war zu diesem Zeitpunkt allerdings weniger durch eine starke Zuwanderung von Afroamerikanern, als durch eine kontinuierliche Abwanderung von Weißen entstanden, die der Stadt aufgrund sozialer Missstände und steigender Kriminalität ab den 1960er Jahren den Rücken zukehrten.
Erst ab den 2000er Jahren begann sich das Blatt wieder zu wenden. 2011 fiel der Anteil der Afroamerikaner erstmals wieder unter 50 %. Aktuell sind es ca. 45 %.
Was wie eine historische Statistik klingt, ist – wenn man genauer hinhört – das Hintergrundrauschen des aktuellen Abstimmungsverhaltens. Soll heißen: Der Widerstand gegen die Bundesstaatswerdung von Washington D.C. war lange Zeit rassistisch grundiert und ist es bis zu einem gewissen Teil immer noch, auch wenn das nicht mehr offen ausgedrückt wird. Zumindest nimmt keiner mehr Worte in den Mund wie Senator Tyler Morgan aus Alabama, ein alter Konförderiertensoldat, der 1870 erklärte, man müsse „die Scheunen abbrennen, um die Ratten loszuwerden“, was für ihn freilich nur eine Metapher war, die er dann auch in aller Deutlichkeit auflöste: „Die Ratten, das ist die schwarze Bevölkerung, und die Scheune, das ist die Regierung des District of Columbia.“
Hunderte Jahre später hatte sich daran nicht viel geändert. Als der Anteil der schwarzen Bevölkerung in den 1970er Jahren auf über 70 % stieg, erklärte der Kongressabgeordnete John Rarick, Washington D.C. sei ein „rattenverseuchtes Drecksloch“, das Gefahr laufe, von „schwarzen Moslems“ übernommen zu werden.
Was sich nach klassisch republikanischem Vokabular anhört, sind allerdings die Worte eines Demokraten, denn ein solcher war John Rarick, auch wenn seine Herkunft aus Louisiana einiges zu dieser Sicht auf die Dinge beigetragen haben mag. Rarick war jedenfalls ein äußerst konservativer Demokrat, der mit seiner Partei oft über Kreuz lag und dessen politische Ansichten selbst für damalige Verhältnisse als reichlich rassistisch galten.
So behauptete er, dass die Aufhebung der Rassentrennung und die Integration von Afroamerikanern das Werkzeug einer kommunistischen Verschwörung seien, was ein weiterer Grund für Rarick war, die weißen Suprematisten in den USA zu unterstützen.
Auch jetzt, fünfzig Jahre nach Raricks Ausfällen, sind die rassistischen Vorurteile noch immer ein (untergründiger) Teil der Debatte und bestimmen die Sicht auf die Stadt. Und auch die Deutungsmuster und das Vokabular des Kalten Krieges sind immer noch da. Schon Rarick hatte Washington D.C. eine Außenstelle des Kommunismus genannt.
Mitch McConnell, der republikanische Mehrheitsführer im Senat, hat letztes Jahr ins gleiche Alarmhorn geblasen und den Wunsch nach gewählten Repräsentanten für Washington D.C. als Teil einer sozialistischen Agenda bezeichnet, die er im Senat gar nicht erst zur Abstimmung zulassen werde.
Die Republikaner können sich sogar darauf berufen, mit ihrer Verweigerungshaltung den Wunsch ihrer Anhänger zu repräsentieren, denn laut einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2019 wollen nur 15 % der Republikaner, dass Washington D.C. ein Bundesstaat wird. Bei den Demokraten ist zumindest die Hälfte dafür, aber das reicht nicht für eine Mehrheit. Laut der Umfrage sind – aufs Ganze gerechnet – 64 % der Amerikaner dagegen, dass Washington D.C. zu Bundesstaat Nummer 51 aufsteigt und die entsprechenden Wahl- und Vertretungsrechte bekommt.
Wobei das mit der Umfrage (wie mit allen Umfragen) so eine Sache ist, denn in der zu beantwortenden Frage wurde gar nicht erwähnt, dass die Washingtoner Bürger keine politischen Vertreter in der Legislative haben. Viele, die an der Umfrage teilnahmen, wussten also offenbar gar nicht, was das eigentliche Problem ist.
Das wird allein schon daran deutlich, dass bei einer Umfrage aus dem Jahr 2007, die das Problem in der Frage mit nannte, 61 % der Amerikaner dafür votierten, dass Washington D.C. einen stimmberechtigten Repräsentanten im Kongress bekommt. Was mal wieder zeigt, dass die Mächtigen keine Angst vor den Antworten haben müssen, wenn es ihnen nur gelingt, die Leute dazu zu bringen, die falschen Fragen zu stellen.
Trump selbst hat sich zu dem Thema übrigens nur selten geäußert. Offenbar – wie so oft – in Unwissenheit der Fakten und in Ermangelung einer Idee, wie das Problem gelöst werden kann. Als er 2016 im Wahlkampf von der „Washington Post“ dazu befragt wurde, ist er ausgewichen, war aber der Ansicht, im Repräsentantenhaus solle die Stadt eine Stimme bekommen.
Vier Jahre später, im Mai 2020, war davon nichts mehr zu hören. Stattdessen vertritt Trump jetzt die republikanische Position und formuliert sie – wie üblich – deutlicher als alle anderen: „Warum soll Washington D.C. ein Bundesstaat werden? Dann haben wir zwei Demokraten mehr im Senat und fünf mehr im Kongress. Nein, danke. Das wird niemals passieren.“
Der Slogan „Taxation without Representation“ wird also auch in Zukunft auf den Autos in Washington D.C. zu lesen sein. Seit zwanzig Jahren wird er dort auf die Nummernschilder gedruckt. Die Parole stammt eigentlich aus der Unabhängigkeitsbewegung, da die in Amerika Lebenden damals an die Britische Krone Abgaben leisten mussten, ohne im dortigen Parlament eigene politische Vertreter zu haben. So gesehen sind die Republikaner die Monarchisten unter den Amerikanern. Und Donald Trump ihr König. Was ja irgendwie auch wieder passt…
Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.
Direkt zum „Tagebuch eines Hilflosen“.
Hinweis der Redaktion in eigener Sache
Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall zu entdecken.
Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.
Vielen Dank dafür.
Keine Kommentare bisher