Das Abenteuer Ballermann war ja denkbar kurz. Kaum durften die deutschen Partytouristen wieder (billig) nach Mallorca fliegen, benahmen sie sich dort genauso wie in vergangenen Zeiten, wie vor Corona. Und die spanischen Behörden reagierten sofort, schlossen den Ballermann sofort wieder. Sie haben mit der neuen Corona-Welle auf dem Festland schon mehr als genug Ärger. Die eigentliche Botschaft ist bei vielen Deutschen noch immer nicht angekommen.

Nach der teilweisen Aufhebung der Reisebeschränkungen hatten sie nichts anderes zu tun, als sofort wieder zu ihrem alten Verhalten zurückzukehren. Als wäre ihnen jeder Sinn für den Schutz der eigenen Gesundheit völlig abhandengekommen. Was übrigens nicht nur am Ballermann passierte, sondern bekanntlich auch in Stuttgart und Frankfurt. Und – in etwas kleinerer Form – auch in Leipziger Parks.

Doch nicht nur auf Mallorca reagieren die Behörden logischerweise sofort mit drastischen Maßnahmen. Das tun sie auch in Kalifornien wieder, wo man sich schon auf dem Weg zur Normalisierung wähnte. Das tun sie auch in Katalonien, wo man auch schon gedacht hatte, die Pandemie hinter sich gelassen zu haben. Doch das Coronavirus ist immer noch da. Auch in Deutschland. Und es sieht ganz so aus, dass man bei diesem SARS-Virus die Chance gründlich versemmelt hat, es so einzudämmen, dass es aus der menschlichen Population wieder verschwindet.

Das aber hätte in China passieren müssen, ganz zu Anfang, als das Virus erstmals vom Tier auf den Menschen übersprang. Alle Daten aber deuten darauf hin, dass dieser Moment in China verpasst wurde – und zwar nicht erst im Dezember, als China viel zu spät auch die Warnung an die Weltgesundheitsorganisation WHO weitergab. Da war das Virus längst auf Weltreise gegangen. Daten aus Italien deuten darauf hin, dass es dort schon im November aufgetaucht war.

Aber es gibt auch Hinweise darauf, dass das Virus in China schon seit August in der menschlichen Population unterwegs war – unentdeckt, möglicherweise auch ohne ernsthafte gesundheitliche Folgen für die Betroffenen. So, wie es sich auch heute noch weltweit ausbreitet: unbemerkt. Die Überträger sind meistens – so stellen auch diverse Forschungsinstitute fest – junge Menschen, deren Immunsystem mit dem Virus meist problemlos fertig wird (aber nicht immer, auch davor warnen sie). Und da gerade junge Leute die Nähe von Gleichaltrigen suchen und das Leben in großen Gruppen feiern, sind es immer wieder auch solche Partys, über die das Virus sich verbreitet.

Mittlerweile reicht ein Blick auf die Websites der großen Zeitungen, um jeden Tag beobachten zu können, wie das Virus die Welt verändert – und gerade jene Machthaber ratlos macht, die glaubten, es einfach ignorieren zu können. Die nur zu gern den ziemlich schrägen Vergleich mit einer ganz normalen Grippe wählten und viel zu spät Einschränkungen im öffentlichen Leben erließen, die die Ausbreitung eindämmen sollten. Was sie – wenn sie zu spät erlassen werden – schlicht nicht schaffen.

Und wenn sie zu früh aufgehoben werden, nimmt das Virus – wie in Kalifornien – seine Reise von Mund zu Nase wieder auf. (Was mich an die Narren in Leipziger Straßenbahnen erinnert, die glauben geschützt zu sein, wenn sie mit der Maske nur ihren Mund bedecken und ihre Nase in die Welt gucken lassen. Den größten Teil der Zeit atmen wir durch die Nase ein. Das ist die Eintrittspforte für das Coronavirus. Aber das nur am Rande.)

Eine winzige Zeitungsschau sieht dieser Tage zum Beispiel so aus:

Kalifornien hat nun mehr Infektionsfälle als New York – und die meisten in den USA“, meldet der „Spiegel“. „Der bevölkerungsreichste US-Bundesstaat Kalifornien bekommt die Pandemie nicht in den Griff. Der FC Turin testet ,Anti-Virus-Schleuse‘ für Stadionbesucher. Und: 2.119 Corona-Fälle nach dem Ausbruch bei Tönnies.“

Die Regierung in Wien wird nervös“, meldet die F.A.Z. „Ein bisschen ist ,der Lack ab‘ vom glänzenden Image des Bundeskanzlers Kurz. In Österreich steigt die Zahl der Corona-Infektionen wieder. Reisewarnungen und Grenzsperrungen sollen helfen.“

Das sind sozusagen die derzeit „normalen“ Nachrichten, die davon erzählen, wie Regierungen in aller Welt nun seit Monaten versuchen, die Ausbreitung des Coronavirus irgendwie in den Griff zu bekommen. Und wie sie langsam merken, dass sie es nicht mehr verschwinden lassen können. Auch China nicht, das sich nach Wuhan wie der Primus unter den Pandemie-Bekämpfern verkaufte, mittlerweile aber neue Corona-Ausbrüche melden musste. Das Virus hat sich in der menschlichen Population festgesetzt.

Und es verändert jetzt das, was wir jahrzehntelang für normal gehalten haben. Nicht nur hypothetisch, sondern ganz real. Denn die Reisebeschränkungen werden nicht verschwinden, wenn die Staatsoberhäupter nicht gänzlich von allen guten Geistern verlassen sind. Es wird Corona-Tests vor und nach jedem internationalen Flug geben, wer zum Urlaub in andere Länder reist, wird dort auf bekannte und unbekannte Hygienemaßnahmen treffen und auf so manches verzichten müssen, was bislang Spaß-Tourismus ausmachte – angefangen von Abstandsregeln am Strand über Maskenpflicht im Hotel bis zum Verbot aller Massenvergnügen.

„Social distancing“ wird weltweit zum Überlebensgebot.

Und zur Entdeckung einer Stille, die gerade die völlig überlaufenen Tourismus-Hotspots so schon lange nicht mehr kannten. Venedig – wie im Video – wurde ja geradezu zum Symbol dieser drastischen Veränderung. Und die Venezianer nutzten die Gelegenheit, um ein echtes Umdenken beim Tourismus einzufordern.

Demonstranten fordern Umdenken beim Massentourismus in Venedig

Aber auch deutsche Touristen-Städte erleben diesen Effekt. So wie in Rothenburg ob der Tauber, über das die F.A.Z. berichtete: „Das größte Geschenk der Geschichte. Rothenburg ob der Tauber ist für viele Ausländer das Idealbild eines pittoresken Deutschland. Doch in Zeiten von Corona bleibt der Touristenansturm aus. Das ist für die Stadt ein Desaster – und eine Chance zugleich.“

Einen Massentourismus wie vor Corona kann sich die Menschheit eigentlich nicht mehr leisten. Aber dieser zwingende Verzicht auf große Menschenansammlungen verändert auch das Festival-Geschehen. Die großen Musikfestivals fallen ja in diesem Sommer aus. Und ob es sie je wieder geben kann, ist völlig offen. Theater und Konzerthäuser werden im Herbst strenge Hygienekonzepte umsetzen und ihr Publikum wohl deutlich verkleinern müssen.

Und viele Bars und Restaurants, in denen vor Corona gerade die voll besetzten Räume für eine besondere Erlebnisatmosphäre sorgten, werden nie wieder öffnen oder – weil auch sie das Geschäft einschränken müssen – wirtschaftlich wohl nicht mehr über die Runden kommen. So, wie die „Zeit“ über die Folgen der Einschränkungen für eine Bistro-Inhaberin berichtete: „Corona-Krise: Das Land soll für sie haften. Cynthia Barcomi musste ihr Bistro für immer schließen. Gerhard Koch hat seit Monaten kaum Gäste. Sie und 800 andere Unternehmer verklagen den Staat nun auf Entschädigung.“

Gastronomen müssen umdenken. Aber wie wird Gastlichkeit künftig aussehen können, wenn sie ihr Lokal noch wirtschaftlich betreiben wollen? Wird sich alles ins Freie verlagern? Und was passiert in den Wintermonaten?

Das sind keine so fernliegenden Fragen, auch wenn Sachsen bislang noch sehr glimpflich davonkam. Und es wird sich auch nicht einfach lösen, schon gar nicht so schnell wie all die Medien verheißen, die jede Meldung über einen getesteten Impfstoff schon wie die Erlösung für 2021 feiern.

Vorher und nachher. Foto: Ralf Julke
Vorher und nachher. Foto: Ralf Julke

Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach geht in der „Zeit“ zu Recht davon aus, dass man sich nicht darauf versteifen darf, schnell auf einen einsatzfähigen Impfstoff zu hoffen. Denn augenscheinlich hat das Coronavirus einige Eigenschaften erworben, die es schwer machen, einen wirksamen Impfstoff zu entwickeln.

Die meisten groß angekündigten Impfstoffe scheitern schon in frühen Testphasen. „Nach Angaben des SPD-Gesundheitsexperten gehen vier Impfstoffe in die dritte Entwicklungsphase. Gerade bei diesem Schritt würden die meisten Wirkstoffe scheitern“, heißt es im „Zeit“-Beitrag „Covid-19: Karl Lauterbach hält Scheitern der Impfstoffsuche für möglich“.

Für Euphorie gibt es sichtlich keinen Grund. Dafür jede Menge Gründe, die Verbreitungswege von Covid-19 einzudämmen. Dass das ausgerechnet die so viel gefeierte Globalisierung trifft, ist keine Überraschung. Sie hat die weltweite Ausbreitung von SarsCov-19 erst ermöglicht. Und da der schrankenlose Freihandel schon vorher in der Kritik stand, hat Corona die Bereitschaft der Regierungen weltweit gestärkt, ihre Wirtschaft wieder unabhängiger von den weltweiten Lieferketten zu machen und wieder mehr Kontrolle über die Produktionsstandards zu gewinnen.

Auf einmal war sogar eine Diskussion möglich, die in der deutschen Politik in der Vergangenheit für Geschwätz von Gutmenschen erklärt wurde, die einfach nicht begreifen wollten, wie toll die Globalisierung war.

Auf einmal wird ernsthaft über ein Lieferkettengesetz diskutiert, worüber z. B. der „Spiegel“ berichtete: „BUND, Greenpeace, Deutsche Umwelthilfe Umweltschutzpflichten in Lieferketten rechtlich machbar“.

Denn deutsche Importeure können sehr wohl herausbekommen, unter welchen Bedingungen all das produziert wird, was sie nach Deutschland importieren. Was eben auch bedeutet: Auch all unsere Shopper/-innen müssen umdenken, müssen lernen, den Billigschnäppchen zu widerstehen und wieder auf Qualität und Standards zu achten. Also auch achtsamer werden auf die Welt. Denn Globalisierung heißt eben auch: hochgradige Gefährdung. Es fehlen die Sicherungen.

Wenn Staaten ausfallen, in denen sich die Produktion wichtiger Güter (wie Medikamente und Schutzausrüstungen) konzentrieren, haben die Käuferstaaten ein massives Problem. Schon aus Gründen des Selbstschutzes braucht es weltweit wieder eine Regionalisierung gerade der Produktion lebenswichtiger Güter. Das erhöht die Resilienz aller Länder.

Gleichzeitig steigen natürlich die Produktionskosten, was aber vor allem mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze auch in den Hochlohnländern zu tun hat. Es ist ein neoliberales Märchen, dass die Arbeitsplätze „verschwinden“, weil so herrlich viel rationalisiert wurde. Tatsächlich wurden auch aus Deutschland Millionen Arbeitsplätze ausgelagert in Billiglohnländer.

Das schafft auch politische Abhängigkeiten und macht Regierungen sehr kleinlaut, wenn sie genau wissen, dass Autokratien, wo man lebenswichtige Güter ordert, einfach mal den Hahn zudrehen könnten. Das macht erpressbar und ergibt dann leider auch die verdruckste deutsche Außenpolitik.

Aber der Gegentrend ist längst eingeleitet. Nur einer hat es bis heute nicht gemerkt. Darüber berichtet Rudolf G. Adam in einem Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung: „Global Britain“: ein Chimärchen – wie die britische Regierung sich den Holzweg des Brexits schönzureden sucht.“ Denn Premier Boris Johnson hat seine ganze Brexit-Strategie darauf aufgebaut, dass Großbritannien nach dem Austritt aus der EU endlich (wieder) von einem unbeschränkten Freihandel profitieren könnte.

Adam schreibt: „Regionale und bilaterale Handelsverträge verdrängen globalen Freihandel. Die Coronakrise beschleunigt diesen Trend. Renationalisierung, protektionistische Handelsschranken und regionale Barrieren kanalisieren den Welthandel. Lieferketten sollen verkürzt und weniger verwundbar werden.“

Corona hat diesen Rückbau des entfesselten Freihandels beschleunigt. Und gleichzeitig – wie Adam auch andeutet – das Wissen um die Bedeutung von Regulierungen. Märkte brauchen Regeln, sonst werden sie gefährlich. Denn in sich selbst kennen sie keine Grenzen, sondern nur die Jagd nach immer höheren Renditen und Profiten.

Und so werden wir auch erleben, dass sich die internationalen Warenströme verändern. Genauso wie sich unsere Arbeitswelt verändern muss. Für das Großraumbüro sollte Corona eigentlich das endgültige Aus sein. Homeoffice scheint längst ein Trend zu sein. Urlaub im eigenen Land ist sofort einer geworden.

Konzerte in Innenhöfen werden vielleicht genauso Normalität wie die großen Geburtstagsglückwünsche für die Hochbetagten in den Altersheimen.

All das sind die Veränderungen, die sowieso schon zu sehen sind. Viele andere werden uns im Nachhinein verblüffen, weil sie sich wie selbstverständlich eingebürgert haben. Weil sie unsere Aufmerksamkeit neu lenken, was ja auch schon mitten im Shutdown deutlich wurde, als augenscheinlich Millionen Daheimgebliebene auf einmal merkten, dass Arbeit, Shopping und Party ihnen eigentlich gar nicht so wichtig sind wie die Menschen in ihrer Nähe. Oder in der Ferne – Menschen, denen man nun nicht mehr nahe sein durfte. Und das tat richtig weh.

Wir werden anders miteinander umgehen müssen. Vorsichtiger und achtsamer. Was auch Werte verändern wird. Übrigens auch das ein Prozess, der schon lange vor Corona begann und der jetzt sämtliche jahrzehntelang geltenden Statussymbole infrage stellt – das Automobil ganz vorneweg. Gleich gefolgt von Kreuzfahrten, Urlaubsflügen und Shoppingerlebnissen mit „Markenartikeln“ aus Fernost.

Was eh überfällig ist. Denn was soll eine Spezies auf diesem Planeten, wenn sie nicht mal die nötige Achtsamkeit für das Allerelementarste hat? Wenn erst ein winziges Virus gebraucht wird, die besinnungslose Trunkenheit eines entfesselten Wohlstands auszubremsen?

Die Serie „Nachdenken über …

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