Am 26. Juli veröffentlichte die „Zeit“ ein richtig schönes Interview mit der Mathematikerin Lisa Piccirillo, die dieser Tage Furore gemacht hat, weil sie eine Lösung für das Problem des sogenannten Conway-Knotens fand, an der sich über 50 Jahre lang die Mathematiker die Zähne ausgebissen hatten. Gelungen ist das Interview auch deshalb, weil eine Journalistin die Fragen stellte, die wusste, was Mathematik ist: die Datenjournalistin Elena Erdmann.
So etwas muss ich schon vorwegstellen, weil augenscheinlich die meisten Leser/-innen gar nicht merken, was alles dazugehört, so ein scheinbar abgelegenes Thema zu einem Interview werden zu lassen, in dem es eigentlich um das menschliche Denken geht, die Fähigkeit, denkend Probleme zu lösen.
Man kann die Kommentare unter dem Beitrag in der „Zeit“ lesen und wundert sich nur: Ist das intellektuelle Niveau der „Zeit“-Leser/-innen tatsächlich so niedrig? Oder ist es etwas anderes, das die Kommentierenden dazu bringt, einfach Begriffe wie „vierte Dimension“ als Aufhänger zu nehmen, um sich stöhnend über die Unbegreiflichkeit der Mathematik auszulassen?
Als wenn das irgendjemanden interessieren würde.
Ich selbst wäre eher geneigt, ein fettes „Danke!“ drunterzuschreiben. Eins an die Mathematikerin, die so verständlich erklären kann, wie sie zur Lösung des Problems kam. Und eins an die Interviewerin, die ich sofort bei der L-IZ einstellen würde, könnten wir uns solche Begabungen überhaupt finanziell leisten.
Denn da sie selbst Mathematik studiert hat, weiß Elena Erdmann, was sie da fragt. Wobei man nicht immer ein Spezialstudium absolviert haben muss, um mit Spezialisten Interviews führen zu können. In der Wissenschaftsjournalistik ist es empfehlenswert, wenn auch nicht immer. Empfehlenswert auch, weil Naturwissenschaften und auch andere Wissenschaften in der normalen Journalistenausbildung nicht (mehr) vorkommen.
Die meisten wählen sie schon in der Schule ab und studieren eher noch Politologie neben der Medienwissenschaft, hoffend, dabei auch noch ein gewisses Expertentum für die Politik zu erwerben. Was aber meistens nicht der Fall ist. Nicht weil Politik keine spannende Wissenschaft sein könnte, sondern weil Politiker selten, sehr selten Experten für irgendetwas sind – nicht mal für ihre eigene Arbeit als Politiker.
Da hilft es auch nicht, teure Kurse in Rhetorik, Marketing und Public Relations zu buchen, statt die eigene Kompetenz aufzubauen oder gar die Fähigkeit, gesellschaftliche Entscheidungen klug zu steuern und zu vermitteln.
Wir werden zumeist von Dilettanten regiert, darunter zum Glück auch manchen Hochbegabten, die wissen, wann sie das Heft des Handelns lieber an echte Experten abgeben. Experten ohne Gänsefüßchen, also Leute, die ihr Fachgebiet wirklich verstehen. So, wie wir es in Deutschland in der Coronakrise erlebt haben, die augenscheinlich eine Menge Journalisten auch die Tatsache wiederentdecken ließ, dass es ja auch noch hochkompetente Wissenschaftler/-innen gibt.
Mit denen hat vorher nämlich immer nur die Kollegin aus dem Wissenschaftsressort geredet und in der Zeitung war das schön weit hinten einsortiert, irgendwo bei Musik und Gesellschaft, wo es mit der Politik nicht ins Gehege kam.
Was tragisch ist. Das wissen die Kolleg/-innen aus dem Wissenschaftsressort. Denn während sie hinten im Blatt seit 50 Jahren unermüdlich vor den Folgen des Klimawandels warnten, haben sich vorne in der Politik Politiker und Autobosse und Kohlemagnaten und „Starinvestoren“ getummelt und den Leuten eine Welt verkauft, die mit der realen Welt nur oberflächlich den Lack gemeinsam hatte.
Deswegen leben die meisten Menschen in einer Blase und verstehen auch nicht, warum Meinen nichts mit Wissen zu tun hat und man die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung nicht mit dem faden Satz beiseite wischen kann „Aber es gibt doch da noch andere Meinungen zu …“
Meinungen gibt es zu allem möglichen. Auch zur Mathematik, die die meisten Leute – wie ja auch die Kommentare in der „Zeit“ zeigen – für eine Zumutung für ihr armes kleines Gehirn halten. Wie sehr muss man eigentlich sich selbst verachten, dass man sich so locker flockig für überfordert hält?
Und was hat eigentlich der Mathematikunterricht mit den Menschen angerichtet?
Die schönste Stelle im Interview kommt nämlich genau da, wo Elena Erdmann fragt: „Was braucht man, um eine gute Mathematikerin zu sein?“
Lisa Piccirillo antwortet darauf: „Geschichten über Mathematiker sind oft Geschichten von Kinderstars, Genies, die vielleicht schon mit vier Jahren höhere Mathematik lernen. Dabei ist das überhaupt nicht nötig. Das Schwierige an Mathe ist eigentlich das Durchhaltevermögen: Man steigert sich in ein Problem hinein und es ist völlig unklar, was die Lösung ist. Man denkt den ganzen Tag darüber nach, aber am Abend hat man es immer noch nicht gelöst. Und am nächsten Tag geht das wieder von vorn los. Das aber ist der einzige Weg. Man muss es wirklich lieben, über das Problem nachzudenken.“
Was übrigens nicht nur für die Mathematik gilt. Aber da natürlich besonders, denn es lenkt einen nichts ab. Man hat es nur mit Zahlen und Formeln zu tun. Das ist echtes Gehirnmuskeltraining. Das weiß jede/-r, die oder der eine/-n gute/-n Mathematiklehrer/-in gehabt hat: Das sind nämlich geduldige Lehrer, die ihren Schülern ganz ruhig beibringen, dass es für jede Aufgabe eine Lösung gibt und dass man mit Geduld, Überlegung und den richtigen Rechenschritten zum richtigen Ergebnis kommt. Es gibt kein Schulfach, in dem man so eindeutig lernt, dass man mit Geduld zur richtigen Lösung kommt.
Aber es gilt nicht nur für die Mathematik. Es gilt für alle Lebensbereiche. Auch für die Politik, was wir meist vergessen und auch nicht sehen, weil es so wenige begnadete und rationale Politiker/-innen mit Lösungskompetenz gibt. Parteiarbeiter und Lobbyisten jede Menge, Leute mit blühendem Narzissmus und Selbstüberschätzung ebenfalls. Parteitage wählen leider die Vorsitzenden und Kandidat/-innen nicht nach Kompetenz aus. Schön wär’s. Sondern nach Ausstrahlung, Redebegabung und Verkaufstalent. Auch weil Parteimitarbeiter zutiefst überzeugt sind davon, dass das die besten Eigenschaften sind für ein politische Amt – nicht die Lösungskompetenz.
Und das in einer Zeit, in der nichts dringender gebraucht wird als Lösungskompetenz für ein ganzes Bündel ungelöster Krisen.
Krisen, die man auch als die Folge falscher menschlicher Bildung betrachten kann. Als Ergebnis institutionalisierten Dilettantismus’.
Denn jede dieser Krisen war absehbar. Jede lässt sich in simple oder auch komplexe mathematische Modelle übersetzen. Für jedes weiß man, was am Ende dabei herauskommt, wenn man einfach so weitermacht und nach Bauchgefühl oder Stimmungslage im Volke regiert. Und jedes Modell zeigt, was geändert werden müsste, um die negativen Folgen zu vermeiden oder wenigstens zu mindern.
Eigentlich benötigen wir Politiker/-innen, die diesen Sachverstand haben und einem gebildeten Wähler auch erklären, was jetzt warum geändert werden müsste. Manchmal scheinen ja solche Stellen der Einsicht auf – etwa bei der CO2-Steuer oder der Finanztransaktionssteuer. Nur kommen dann in den großen Zeitungen eben nicht die Wissenschaftsredakteur/-innen zu Wort, die diese klugen und logischen Lösungen begründen, sondern die alten Zauselbären aus der Redaktionsspitze, die das ganze mit Gefühl und stillen Vorwürfen aufpeppen und an ihre Leser appellieren, jetzt doch bitte die lieb gewordenen Gewohnheiten nicht zu ändern.
Natürlich wäre ein wissenschaftlich geleitetes Land anders. Politik sähe anders aus. Aber nicht unverständlicher. Denn sie würde Schulen schleunigst wieder zu Bildungseinrichtungen machen, in denen Kinder die Lust am Nach- und Mitdenken lernen und die Faszination der Geduld, wenn sie vor richtig harte Nüsse gesetzt werden: Jetzt krieg das mal raus!
Dafür ist in den mit Wissensballast vollgestopften Lehrplänen kein Platz. Lehrer/-innen haben diese Freiheiten nicht mehr. Und diese Unfreiheit zum unvoreingenommenen Durchdenken wird dann eben leider zur Massenware. Es werden Besserwisser produziert, aber keine Knobler, Tüftler, Nachdenker. Kommissionen werden eingesetzt, um Lösungen zu finden – und hinterher bekommt man ein Ergebnis, das einen fatal an die Unwissenheit vor Einsetzen der Kommission erinnert. Denn berufen werden meist nur Leute, die gar nicht bereit sind, ihr Denken zu ändern, die das wohl auch nie gelernt haben. Falsche Experten, deren Expertokratie so schmal angelegt ist, dass man sich mit ihnen über Alternativen gar nicht unterhalten kann. Alternativen sind für sie Gespenster, Undenkbarkeiten.
Sie behaupten zwar oft, sie seien Querdenker (ein Begriff, der ja von seltsamsten Leuten mittlerweile ge- und missbraucht wird), in Wirklichkeit aber beherrschen sie den simpelsten Schritt nicht, den der Philosoph Richard David Precht geradezu zur Denk- und Arbeitsmethode entwickelt hat: sich vorzustellen, wie etwas aussehen könnte, wenn wir uns vorstellen, wie es richtig gut wäre. Man steigt ganz bewusst aus dem „so ist es“ heraus und entwirft ein Bild, das das „so sollte es sein“ beinhaltet.
Im weitesten Sinne nennt man das Laterales Denken.
Und auch Lisa Piccirillo hat etwas Ähnliches getan: „Mit den üblichen Methoden ist es schwer zu zeigen, dass der Conway-Knoten kein Scheibenknoten ist. Deswegen hatte es noch niemand beantwortet. Weil ich normalerweise an ganz anderen Problemen forsche und andere Methoden benutze, bin ich anders an die Sache herangegangen. Durch einen kleinen Trick wurde aus dem schwierigen Problem ein ganz alltägliches.“
Wer sich die Zukunft in Alternativen vorstellen kann und auch Lösungswege entwickeln kann, wie man da hinkommt, der verfällt nicht in die um sich greifende Verzweiflung oder gar diesen lächerlichen Defätismus der Kommentarspalten, der macht umsetzbare Lösungsvorschläge – und handelt auch, redet sich auch nicht mit „den Anderen“ heraus.
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin schrieb jüngst ein Buch über „Die gefährdete Rationalität der Demokratie“, die sich eben leider auch von Populisten, Narzissten und Demokratiefeinden missbrauchen lässt, die allesamt an das Nichtwissen und das Nichtwissenwollen der Wähler/-innen appellieren. Genau das, was in den Kommentaren unter dem „Zeit“-Interview so verwirrt. Wie kann man auch noch stolz sein auf diese fröhliche Unwissenheit?
Dieses Nicht-wissen-Wollen, obwohl unser Gehirn ja nichts so spannend findet wie das Herausfinden selbst der verstecktesten Dinge? Und seien es mathematische Konstruktionen mit vier Dimensionen, die Funktionsweise von Raketentriebwerken oder die Verhaltensweisen von Viren … Hier könnte ich ganz viele Pünktchen setzen, denn neben der Welt der fröhlich Ahnungslosen gibt es zum Glück noch immer die Menschen, die erst glücklich sind, wenn sie ihr Gehirn für richtig knifflige Problemlösungen benutzen können.
Da schwankt man dann zwischen Hoffen und Bangen, ob sie Gehör finden oder die Ahnungslosen weiter die Mehrheiten stellen auf einer beschwingten Fahrt in eine immer unberechenbarere Zukunft.
Die ganze Serie „Nachdenken über …“
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