LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 80, seit Freitag, 26. Juni im HandelEr ist engagiert und streitbar. Pfarrer Andreas Dohrn mischt sich ein und bringt sich ein. Zuletzt stritt er sich mit Finanzbürgermeister Torsten Bonew und beide blockierten sich gegenseitig auf Facebook, beim Rücktritt des Sächsischen Landesbischofs Carsten Renzing bohrte Dohrn so lange, bis sich etwas tat. Aber haben nun die Konflikte in der Gesellschaft zugenommen oder mischt er sich gern ein? Was hat Corona mit der hiesigen Kirche gemacht und warum hat die Peterskirche die Toiletten tagsüber nun immer geöffnet?
Herr Dohrn, Ihr Kollege Enno Haaks vom Gustav-Adolf-Werk monierte zuletzt Lücken im Geldsäckel der Kirchen im Ausland. Nun scheint Corona auch den hiesigen Kirchen finanzielle Probleme zu bereiten…
Was während der Krise nach und nach klar geworden ist: Die Themen Kurzarbeit, Steuern und Kirche haben etwas miteinander zu tun. Das Kurzarbeitergeld ist weitestgehend steuerfrei. Die kirchlichen Fachleute gehen daher davon aus, dass Kirchsteuergelder in Höhe von 10 bis 15 Prozent weg sind. Das wäre für die Evangelische Landeskirche in Sachsen immens. Es gibt hohe Fixkosten durch Gebäude und Personal. Das wird Schleifspuren hinterlassen. Das wird man stark merken. In den letzten zehn Jahren war die Kirchensteuer trotz sinkender Mitgliederzahlen gewachsen.
Gleichzeitig scheint es dank der Coronazeit eine besondere Zuwendung zur Kirche gegeben zu haben …
Es gab zwei Kirchgemeinden in Sachsen, die am ersten Sonntag im Shutdown der Coronakrise in Deutschland handlungsfähig waren, als nichts mehr ging. Das waren die Propstei und die Kirchgemeinde im Leipziger Süden, zwei Gemeinden, die Luftlinie 500 Meter auseinander liegen. Wir konnten unsere Gottesdienste ab sofort streamen und haben überraschende Entdeckungen gemacht. Ältere, die nicht mehr aus dem Haus kommen, haben sich fröhlich gemeldet, dass sie wieder mit uns Gottesdienst feiern können.
Und die Verknüpfung der Welten war auch gut. Gemeindemitglieder haben uns zurückgemeldet, dass es auch schön ist, Ostersonntag früh im Bett um 6 mit Gottesdienst zu verbringen. Mit Sublan-TV hatten wir wenig später ein spezielles Streamingmodul mit Interaktionsmöglichkeiten. Alle, die online mitfeiern, können Gebete formulieren, Grüße schreiben, Fragen zur Predigt stellen.
Auf einmal merkte man, dass die Formulierungen gar nicht stimmen: Peterskirche als Ort des Streams, Internet als Raum und einen Zwischenraum. Der Raum der digitalen Kirche wurde so aufgeschlossen. Menschen haben sich per Mail oder Facebook für Seelsorge an mich gewendet. Ein Drittel aller Seelsorge-Anliegen sind online genauso gut oder besser zu erledigen.
Das kirchgemeindliche Parochialprinzip, das Kirchgemeinden und Gemeindeglieder durch Straßenzugehörigkeit einander zuordnet, wird durch das Digitalprinzip ergänzt: Mit der Kirchgemeinde im Leipziger Süden können Personen aus ganz verschiedenen Ecken verbunden sein. Unsere Ehren- und Hauptamtlichen werden zukünftig drei Dimensionen von Kirche im Leipziger Süden gestalten: Klassische Gemeindearbeit und zivilgesellschaftliche Vernetzung durch Projekte wie zum Beispiel Seenotrettung und digitale Kirche.
In der ersten Corona-Woche kam beispielsweise die Anfrage der Oase, ob wir nicht unsere Toilette für Obdachlose aufmachen können, denn die offiziellen wurden geschlossen. Öffentlich zugängliche Toiletten als Allmenderessource und nicht als Problem zu verstehen, ein öffentliches Gut, was man niemandem verwehren darf, hat eine völlig andere Bedeutung. So eine Toilette brauchen wir für unsere Veranstaltungen und haben nun dazu eine andere Einstellung.
Seit Anfang 2020 gibt es die Kirchgemeinde im Leipziger Süden. Was ist das und was beschäftigt sie zurzeit?
Es gab bis 2019 sechs Kirchgemeinden im südlichen Leipzig, seit Januar sind vier vereinigt. In der ersten Vorstandssitzung der neuen Kirchgemeinde wurde beschlossen, dem Seenotbündnis „United4Rescue“ beizutreten, weil wir als Kirche nicht akzeptieren können, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen.
Es ist ein Bündnis von dreihundert Akteuren und Organisationen in Deutschland, Diakonie, Kirchen, weitere zivilgesellschaftliche Akteure. Diese haben zu Spenden aufgerufen, um für 1,5 Millionen Euro ein Schiff für die Seenotrettung zu kaufen. Ich warte auf den Tag im Juli, an dem das Boot erstmals Menschen in Seenot rettet.
Die Kritiker von Bedford-Strohm in Dresden, ein Schiff ins Mittelmeer zu schicken (die einzigen vier Enthaltungen und Kritik kamen vor allem aus Sachsen) haben nicht verstanden, auf wen sie da treffen. Meine Frau und ich schätzen den EKD-Ratsvorsitzenden, Bischof Heinrich Bedford-Strohm, schon seit Studienzeiten, weil wir in Heidelberg Seminare an der Theologischen Fakultät bei ihm besucht haben. Er war schon damals einer der führenden Köpfe in der Auseinandersetzung mit Ethik. Die, die gegen Seenotrettung waren, trafen auf einen, der aufgrund der akademischen Karriere führender Kopf in Europa zum Thema Ethik ist.
In die zusätzliche missionarische Pfarrstelle „Kirchliche Arbeit in den neuen Stadtquartieren“ – mit dem Bayerischen Bahnhof als Modellgebiet – wurde jüngst Pfarrer Lüder Laskwoski eingeführt. Wir hatten die ersten Gespräche: Es gibt keine Stadt in Ostdeutschland, in der so viele Stadtquartiere entstehen, und da steht die Frage, was Kirche da machen kann. Da freuen wir uns total drauf.
Wir wollen außerdem relativ viel bauen, in Connewitz eine Kita-Erweiterung, in Bethlehem soll unter anderem das komplette Erdgeschoss umgebaut werden, in der Peterskirche wollen wir den historischen Fußboden sanieren. In Coronazeiten, in denen die Finanzen nicht einfach waren, haben wir den Fördermittelbescheid für die Peterskirche in der Hand gehalten mit dem wir arbeiten können.
Ich glaube, wir unterschätzen in Deutschland manchmal, wie stabil unser System ist. Dass wir also weiterarbeiten in der Krise. Unsere neue Kantorin Ulrike Pippel startet außerdem mit einem neuen Kinderchor für Vorschulkinder bis 2. Klasse und einem neuen Kinderchor für Mädchen und Jungs aus der dritten bis sechsten Klasse
Herr Dohrn, Sie mischen sich auch in aktuelle Debatten ein. Mehr als andere Pfarrer. Warum ist das so?
Ich traf neulich den Finanzbürgermeister bei einem Termin und wir stellten fest, dass wir uns bei Facebook gegenseitig blockiert haben. Wir stellten auf Einsichtsebene 1 fest, dass es heftig und ernst war, Einsichtsebene 2 war, dass wir beim Inhalt als einzelne Akteure in eine viel heftigere Grunddebatte eingebunden sind, die beim Thema „Christsein und Abgrenzung zu rechts“ existiert, Stichwort Bischofsrücktritt, Stichwort Christoph Leonhardt. Beisitzer der Jungen Alternative, im Landesverband Sachsen und früher CDU.
Also Bonew und ich kommen als Personen im Raum gut miteinander aus. Unser Problem ist: dass wir zu institutionellen Fragen kommen, bei denen wir nicht einer Meinung sein können. Das kenne ich so überhaupt nicht. Ich bin mir konkret bei manchen Akteuren nicht sicher, ob sie selbst die Abgrenzung zu rechts und Rechtsextremismus hinbekommen.
Rechtspopulismus mit den neuen Akteuren aus den christlichen Akteuren, was geht also als Christ und was nicht, außerdem gibt es Organisationen, bei denen Führung und Leitung mit dieser Frage überfordert sind. Diese Faktoren führen dazu, dass Personen aufeinanderprallen, die einen Konflikt miteinander bekommen, den sie gar nicht wollen. Unser christlicher Auftrag ist ja, Dinge anders „abzuräumen“.
Vielleicht weil man froh ist, dass man sich in der Kirche engagiert?
Ich glaube, dass die Geschäftsmodelle der Landeskirche, der LVZ und von „der Sonntag“ darauf ausgerichtet sind, den Laden zusammenzuhalten. In einer polarisierten Gesellschaft ist es sehr knifflig, christlich-postmoderne Akteure und christlich-rechtspopulistische Akteure ohne starke Leitung aufeinander loszulassen. Das ist in der Landeskirche und im Evangelischen Schulzentrum so.
Die spannende Frage ist: Zieht die Leitung eine rote Linie und entfernt Leute oder tut sie das nicht, um den Laden beieinanderzuhalten. Leitung muss rote Linien definieren. Wenn sie das nicht können, machen sie das, was Ministerpräsident Kretschmer auch macht. Das war taktisch unklug: Er hätte Söder sein können, aber bei entscheidenden Pressekonferenzen war er überhaupt nicht mehr auf dem Podium. Er hat den Joker gespielt, dass er die Debatte auf den Demos führt. Wenn man vorher recherchiert, wer da bei den Demos auftaucht, hätte man wissen können, dass es eine blöde Idee ist. Und wenn, hätte er doch auch in „Unteilbar“ sein können. Er ist nicht immer clever.
Kann es nicht auch sein, dass Sie sich mehr einmischen?
In den letzten anderthalb Jahren gab es auffällig viele Debatten mit eskaliertem Konfliktpotential: zum Beispiel Bischofsrücktritt und „Gysi spricht am 9. Oktober in der Peterskirche“. Da habe ich mich gewundert, dass nicht andere Akteure in thematischer beziehungsweise leitender Perspektive ihre Rollen ausgefüllt haben. In kirchlichen Konflikten klare Kante zu zeigen, hat sich bewährt.
Machtgefälle im Kopf. Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 80 ist da: Was zählt …
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