„Ging eine Schockwelle durchs Land? Hörten Kommentatoren Alarmglocken läuten? Nein. Stattdessen: Apathie, Ratlosigkeit, Verdrängung, Ignoranz.“ – mit dieser Feststellung kommentiert Malte Lehming im Berliner „Tagesspiegel“ die weitgehende Nicht-Reaktion der Kirchen auf die erschreckenden Austrittszahlen 2019. In der Tat: In vielen Kirchgemeinden verläuft die Debatte über die düsteren Zukunftsperspektiven der eigenen Institution mehr als verhalten.

Man gewinnt den Eindruck: Da wird kollektiv der Kopf in den Sand gesteckt – so, als ob man dadurch die Krise und ihre Folgen an sich vorüberziehen lassen könne. Doch das ist ein hilfloser Trugschluss. Es führt kein Weg an einer nüchternen, selbstkritischen Bestandsaufnahme und der Entwicklung neuer Ziele vorbei, will die Kirche sich nicht selbst aufgeben. Das kann aber nur in den Kirchgemeinden selbst geschehen.

Dazu möchte ich einige Erwägungen beisteuern. Ich knüpfe damit an meinen Blogbeitrag „Die Basis bröckelt leise …“ an, vor allem an die vielfältigen Reaktionen darauf – natürlich in dem Bewusstsein: Vieles ist schon an anderer Stelle gesagt und publiziert worden.

Ich erinnere nur an die Streitschrift von Jürgen Fliege „Kirchenbeben. 150 Schritte aus der Kirchenkrise“ aus dem Jahr 1997(!). Und: Patentrezepte, um der bedrohlichen Entwicklung entgegenzutreten, gibt es nicht. Dennoch sollten wir uns vor Ort den Herausforderungen und Erfordernissen angstfrei und hoffnungsvoll stellen und dabei Erfahrungen von Gelingen und Scheitern reflektieren.

Keine Angst vor Zahlen

Wer immer Diskussionen in der Kirche über Zahlen führt, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, „wie das Kaninchen auf die Schlange“ zu starren, sich den Blick verengen zu lassen, sich nur an der Oberfläche der Probleme zu bewegen. Es dauert nicht lange, dann wird der Jesus-Ausspruch zitiert: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Die Bibel: Matthäus 18,20), um eine Debatte über Zahlen abzuwürgen. In meiner gesamten Berufstätigkeit habe ich aber immer auf Zahlen geachtet: Wie viele Menschen kommen zum Gottesdienst; wie viele Kinder und Erwachsene werden getauft; wie viele Jugendliche lassen sich konfirmieren; wie viele Paare lassen sich kirchlich trauen; wie viele Menschen erbitten die kirchliche Bestattung; wie hoch sind die Kollekten- und Spendenerträge – alles immer auch im Verhältnis zur Gemeindegliederzahl.

Dabei soll keinem Zahlenfetischismus das Wort geredet werden. Vielmehr können die Zahlen als Parameter genutzt werden, um die eigene Arbeit kritisch zu reflektieren. Zahlen sagen etwas aus über die Akzeptanz des eigenen „Produktes“, also der kirchgemeindlichen Arbeit, und derer, die diese repräsentieren und gestalten. Zahlen sind Anlass, rechtzeitig auf Entwicklungen zu reagieren – und zwar vor Ort. Es lohnt auf Gemeindeebene sich regelmäßig zu fragen: Woran kann es gelegen haben, dass in diesem Jahr der Spendenertrag für „Brot für die Welt“ geringer/höher war als in den Jahren zuvor? Warum ist der Gottesdienstbesuch in den vergangenen Monaten zurückgegangen/gestiegen? Warum sind Menschen ausgetreten (vor Ort kann man mit Namen auch Gesichter verbinden!)?

Wer sich diese Fragen vorlegt und mit vielen anderen nach Antworten sucht, reflektiert die eigene Arbeit, weckt Verantwortungsbewusstsein, freut sich an Erfolgen und verzweifelt nicht am Scheitern. Meine Erfahrung in Bezug auf die Gottesdienstbesucherzahlen: Wenn diese zurückgehen, ist es sehr lohnend, in einem gewissen Zeitraum über den Gottesdienst, seine Bedeutung oder Entbehrlichkeit, zu reden, wo immer wir mit Menschen zusammenkommen: im Verein, auf Arbeit, in der Familie, in der Nachbarschaft. Denn eines ist klar: Worüber wir nicht mehr sprechen, das droht sich im Nebel des Selbstverständlichen zu verlieren. Und siehe da: Nach wenigen Wochen steigt der Besuch wieder an – auch deswegen, weil alle, die an der Gottesdienstgestaltung aktiv beteiligt sind, ihren Beitrag kritisch überprüfen und qualitativ verbessern.

Mit Pfunden wuchern

Wir verdanken Jesus ein eindrückliches Gleichnis über die anvertrauten Pfunde (Die Bibel: Matthäus 25,14-30). Das zeigt zum einen, dass Jesus sehr unbefangen seine Botschaft mit Beispielen aus der Welt der Ökonomie verdeutlicht. Zum andern setzt sich Jesus sehr wohl mit Erfolg und Misserfolg auseinander. Für mich führt das Gleichnis zu drei Konsequenzen:

  • Die Botschaft des Glaubens, also das Pfund; soll nicht bis zur Unkenntlichkeit verpackt/vergraben werden. Denn im Verborgenen wuchern nicht die Pfunde, sondern die Missstände. Der Glaube aber sucht die Öffentlichkeit. Was mit ihm geschieht, soll transparent sein. Nur so kann Vertrauen entstehen.
  • Wir können uns unbefangen auf den Feldern Ökonomie/Kommunikation/Marketing bewegen, wenn wir auf die Frage: Wo/Was ist unser Schatz und wie können wir ihn vermehren?
  • Es ist absolut legitim, auch in der Kirche von Erfolg zu sprechen und nach dem Mehrwert zu fragen. Also: Welchen Mehrwert oder Gewinn hat der Glaube für den Menschen? Welchen Mehrwert hat ein Gottesdienstbesuch? Welchen Mehrwert hat Kirchenmitgliedschaft?

Was aber ist das unverzichtbare Glaubensgut, das für jeden Menschen von Bedeutung ist? Ich nenne drei „Pfunde“:

  • Jeder Mensch ist ein Stück von Gott, im Sinne von: von Gott macht und Teil des Göttlichen. Daraus leitet sich seine Würde ab. Er ist gleichermaßen ein fehlbarer Mensch, verstrickt in selbstverschuldeter Unmündigkeit, und trotzdem gerechtfertigt und darum befreit zur Verantwortung. Sein Leben ist begrenzt, ein Fragment, aber in diesem kann das Ganze aufleuchten.
  • Gott denkt das Böse in Gutes um. Wir können in jedem Versagen, Unglück, Scheitern auch den Keim des Guten entdecken und neu anfangen.
  • Die Grundwerte, die Jesus gelebt hat: Nächsten- und Feindesliebe, Barmherzigkeit, Ehrfurcht vor dem Leben, Gewaltlosigkeit, bilden das Fundament menschenwürdigen Lebens.

Darüber hinaus hat jede Kirchgemeinde aufgrund ihrer Tradition die Möglichkeit, ihre Besonderheit, ihren Schatz zu heben –immer in dem Bewusstsein, dass es für unsere Gesellschaft nicht folgenlos bleibt, wenn sich immer mehr Menschen den Grundlagen der biblischen Botschaft entfremden und von den Kirchen abwenden bzw. die Kirchen sich in die Nische zurückziehen.

Dass offen praktizierte Menschenverfeindung und sozial-nationalistischer Egoismus gesellschaftliche Akzeptanz finden, ist eine der alarmierenden Konsequenzen dieser Entwicklung. Also ist es mehr als angebracht, mit den Pfunden der biblischen Botschaft, ihren Werten, unserer Glaubenstradition zu wuchern, sie zu vermehren, indem wir sie selbstbewusst kommunizieren.

Drinnen – draußen

Prof. Axel Dennecke hat in seinen Kommentaren vor allem den Blick auf die gerichtet, die die Kirche verlassen haben, ohne ihren Glauben aufzugeben. Er sieht die Notwendigkeit, diese Menschen anzusprechen, ohne sie missionieren, zurückholen zu wollen. Ich habe darauf hingewiesen, dass Drinnen und Draußen keine sich ausschließende Alternative ist. Wir müssen heute beides:

  • Die Kirchenmitglieder achten, pflegen, würdigen. Jeder möge sich fragen, wie er behandelt werden möchte, wenn er einem Verein, einer Partei, einer Gewerkschaft angehört. Die wenigsten werden aktiv tätig sein, sondern zahlen ihren Mitgliedsbeitrag. Warum? Da ist das Anliegen des Vereins, das einem wichtig ist. Wer nicht aktiv am Vereinsleben teilnimmt, möchte aber informiert und anständig behandelt sein: z.B. einen Geburtstagsgruß erhalten, nach 10- oder 20-jähriger Mitgliedschaft geehrt werden. Das ist bei Kirchenmitgliedern nicht anders. Sie wollen informiert und geachtet sein – unabhängig davon, wie engagiert sie am kirchgemeindlichen Leben teilnehmen. Also kommt es darauf an, den Mitglieder regelmäßig das Gefühl zu geben: Es ist gut und wichtig, dass wir dich als Kirchenmitglied haben.
  • Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, in ihren religiösen Bedürfnissen ernst nehmen und ihre Kritik produktiv verarbeiten. Das bedeutet, dass Kirche in ihrem Reden und Handeln keinen Unterschied machen darf zwischen Drinnen und Draußen. Denn als Kirche wenden wir uns an alle Welt, agieren öffentlich – völlig unabhängig davon, wer zur Kirche gehört und wer nicht. Allerdings: Menschen , die aus der Kirche ausgetreten sind bzw. ihr nie angehört haben, sollten sich klar machen, was ihr Schritt auf alle bezogen für eine Gesellschaft bedeutet. Immerhin können wir in Ostdeutschland auf einen politischen Großversuch zurückblicken, eine Gesellschaft ohne Religion und Kirche aufzubauen. Die DDR ist an vielem gescheitert, aber auch daran. Kirchenaustritte haben auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung.

Menschennähe

Jeder Kirchenvorstand, jede Synode, jede Kirchenleitung sollte sich vor wichtigen Entscheidungen die Frage vorlegen: Dient das, was wir jetzt beschließen, der Menschennähe oder nicht? Denn das ist unsere Aufgabe: den Menschen nahe sein, sie in ihren Ängsten und Nöten verstehen, ihnen Trost spenden und das Rückgrat stärken. Dass wir als Kirche hier einen riesigen Nachholbedarf bzw. an vielen Stellen die Menschennähe verloren haben, zeigt eine Beobachtung: In den letzten Jahren wurden deutschlandweit 25 % der Kirchenmitglieder nicht mehr kirchlich bestattet, in Großstädten bis zu 50 %.

Die nüchterne Einsicht lautet: Wir haben als Kirche nicht nur den Kontakt zu ganz vielen unserer Mitglieder, sondern auch eine unserer Kernkompetenzen verloren: Menschen in der letzten Lebensphase beizustehen und ihnen die Hoffnung auf Gottes neue Welt zuzusprechen. Dieser Zustand darf uns keinen Augenblick ruhen lassen.

Das Ziel der Menschennähe muss uns das Verhältnis von analoger und digitaler Kommunikation immer neu gewichten lassen. Eines sollte klar sein: Die digitale Kommunikation kann die analoge niemals ersetzen. Denn Menschennähe erreichen wir dann, wenn wir die effektivste und kostengünstigste Aktivität kirchgemeindlicher Arbeit reaktivieren: der Hausbesuch und die personale Präsens an den Orten, wo es „brennt“ – sei es die Bürgerinitiative gegen die Abbaggerung eines Ortes oder der Streik gegen eine Betriebsschließung. Nur durch eine den Menschen nahe kirchgemeindliche Arbeit erhalten wir verlässliche Auskunft darüber, wie die Menschen ticken.

Traditionen pflegen

Kirche ist ein Traditionsverein, keine Frage. Das sollten wir vor allem positiv sehen. Wir besitzen einen riesigen Fundus an zur Tradition geronnener Erfahrung. Tradition wird dann zum Ballast, wenn wir mit ihr nicht produktiv umgehen. Ein produktiver Umgang bedeutet: Von welchen Traditionen wollen/müssen wir uns verabschieden, an welche gilt es anzuknüpfen, welche gehören weiterentwickelt? Wenn das unter „Traditionsentschlackung“ (Malte Lehming) verstanden wird, ist dies ein richtiges Stichwort.

Wichtig aber bleibt: die Tradition, an die wir anknüpfen und die wir pflegen wollen, muss so praktiziert werden, als handele es sich um etwas ganz Neues. Es ist mit dem Gottesdienst, mit der traditionellen Liturgie, mit der Kirchenmusik wie mit einer Beethovensinfonie, mit der Predigt wie mit einem Theaterstück: In ihrem Ursprung sind sie alt. Aber sie werden dadurch zu einer Neuentdeckung, dass die alte Komposition durch die Musiker/innen und den/die Dirigent/in, das Theaterstück durch die Schauspieler so aufgeführt werden, als wären sie heute entstanden. Das spricht Menschen an. So sollten wir mit der großen Musiktradition der Kirchen einschließlich der Liturgie und Predigt umgehen.

Wort halten

Kirche ist eine Institution des Wortes. Das sollte niemand beklagen, sondern bejahen. Ja, das Wort hat einen hohen Stellenwert. Darum muss es auch gepflegt werden, das Wort der Bibel und das gesprochene Wort. Natürlich entwickelt jede Institution eine Binnensprache. Daran ist nichts Verwerfliches. Aber wenn die kirchliche Botschaft sich an alle Welt, an alle Menschen richtet, dann sollte sie auch von allen verstanden werden können. Deswegen kommt es sehr auf die Sprache an, derer sich die Kirche bedient – insbesondere auch im öffentlich gesprochenen Wort nicht nur der Predigt. Im Verlauf meiner Berufstätigkeit habe ich mich an drei Faustregeln gehalten:

  • Wir sollen elementar und fundamental von unserem Glauben reden, ohne fundamentalistisch und banal zu werden.
  • Es gilt die Glaubensinhalte so zu kommunizieren, dass sie von Menschen verstanden werden können, die zunächst überhaupt keinen Bezug dazu haben.
  • Jede/r Prediger/in sollte sich eine Kontrollfrage vorlegen: Würde ich mir selbst die Worte gefallen lassen, die ich öffentlich (von der Kanzel) an andere richte?

Grenzüberschreitende Verkündigung

Angesichts der multireligiösen Entwicklung unserer Gesellschaft und der religiösen Vielfalt, in der sich auch Kirchenmitglieder bewegen, ist die Forderung nach einer „grenzüberschreitenden Verkündigung“ (Malte Lehming) mehr als berechtigt – zumal eine solche sich allein daraus ergibt, dass sich die Botschaft Jesu an alle Welt und jeden Menschen richtet (Die Bibel: Matthäus 28,16-20). Abseits aller dogmatischen Bekenntnisschriften haben wir uns zu öffnen für interreligiöse Feiern bis hin zu christlich-muslimischen Trauungen oder jüdisch-christliche Bestattungen.

Damit wird ja kein einziges Glaubensgut aufgegeben, wohl aber werden die eigenen Glaubensinhalte einen neuen religiösen Kontext gestellt. Das kann für viele Menschen ein Angebot sein, mitten in religiöser Vielfalt zu eigener Identität zu finden. Grenzüberschreitende Verkündigung bedeutet nicht, das Bekannte des Glaubens zu verfremden, sondern das vielen Menschen fremd Gewordene des Glaubens wieder bekannt zu machen.

Filialleiter

Vor Jahren hatte ich ein Gespräch mit dem Seniorchef eines großen Familienunternehmens, das eine Handelskette führt. Damals sagte er zu mir: Mein unternehmerischer Erfolg ist vollkommen abhängig von den Leitern meiner Filialen in aller Welt. Wenn die ihre Arbeit nicht gut machen, dann dauert es nicht lange und ich gerate in größte Schwierigkeiten. Bei mir machte es damals klick: Genauso ist es in der Kirche. Wir Pfarrer/innen sind eine Art Filialleiter/in oder Geschäftsführer/innen eines mittelständischen Unternehmens. Der Gesamterfolg der Kirche ist von dem abhängig, was vor Ort passiert. Wer das einmal begriffen hat, der weiß, welch hohe Verantwortung, aber auch welche Gestaltungsmöglichkeiten, welche Chancen hier liegen.

Entscheidend sind nicht die Vorgaben aus der „Zentrale“, entscheidend ist der Ideenreichtum vor Ort. Dazu sind Persönlichkeit, fachliche Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Management des Fachpersonals vonnöten. Es hat wenig Sinn, sich an den gebrauchten Begriffen zu stören. Wichtig ist, dass gerade Pfarrer/innen den hohen Wert ihrer Arbeit erkennen und nicht ständig kleinreden – nach dem Motto: Pfarrer/innen sind auch nur Menschen. Diese Art von Generalabsolution für Unzulänglichkeiten sollten wir uns nicht länger selbst antun.

Qualität und Quantität

Als ich 1992 meine Arbeit in Leipzig begann, sagte der unvergessene Leipziger Superintendent Johannes Richter zu mir: „Wenn die DDR 1989/90 nicht implodiert wäre – die Kirche hätte es nicht mehr lange ausgehalten.“ Er begründete seine nüchterne Einschätzung mit dem Hinweis, dass zum Ende der DDR-Zeit das Reservoir, aus dem die Kirche ihren Nachwuchs für die hauptamtlichen Mitarbeiter/innen einschließlich der Pfarrer/innen schöpfen konnte, immer kleiner wurde. Die mangelnde Quantität sei auch in mangelnde Qualität umgeschlagen. Daran muss ich derzeit denken, wenn es um den Nachwuchs geht. Denn mit sinkenden Kirchenmitgliederzahlen wird auch der Pool kleiner, aus dem der Nachwuchs rekrutiert werden kann. Wir stehen also vor der Aufgabe, ganz viel für die Qualitätssicherung der kirchlichen Berufe zu tun. Da verzahnen sich zwei Aufgaben: Wir sollen alles tun, um dem Aderlass an Kirchenmitgliedern entgegenzutreten, also mehr zu werden; und wir sollten die Ausbildung für kirchliche Berufe qualifizieren. Hier sind die Theologischen Fakultäten genauso gefragt wie die kirchlichen Fachhochschulen und Ausbildungsstätten.

Öffentlichkeit und gesellschaftspolitische Kompetenz

Jede/r Pfarrer/in sollte sich bewusst machen, dass er/sie ein öffentliches Amt bekleidet und dass er sich mit allem, was er tut (von der Einzelseelsorge abgesehen), sich im öffentlichen Raum bewegt. Das sollte unbedingt zum Berufsbild gehören. Wenn man dann noch bedenkt, dass jede Kirchgemeinde ein Teil des gesellschaftlichen Lebens ist, dann erfordert dies ein hohes Maß an gesellschaftspolitischer Kompetenz der hauptamtlichen Mitarbeiter/innen der Kirche. Für die Kirchgemeinden bedeutet dies, dass sie sich vor Ort als Motor, Motivator und Moderator verstehen und so agieren sollte – völlig unabhängig von ihrer jeweiligen Größe, ob im ländlichen Raum oder in der Stadt.

Einflugschneisen

Für viele ist der Begriff „Mission“ belastet. Dennoch plädiere ich für eine missionarisch ausgerichtete kirchgemeindliche Arbeit. Wir müssen Einflugschneisen ausfindig machen, um Menschen gezielt zu erreichen und für die Kirche zu gewinnen. Ich sehe drei wichtige Einflugschneisen:

  • Gezielt Jugendliche, die in einem atheistischen, säkularen Umfeld aufwachsen, ansprechen, am Konfirmandenunterricht teilzunehmen. Ich halte es für sehr lohnend, Jugendliche in der wichtigen Findungsphase zwischen 12 und 15 Jahren zu begleiten und ihnen ein glaubwürdiges, später abrufbares Orientierungsangebot zu machen. Das setzt voraus, dass wir ein qualitativ ansprechendes Programm aufstellen. Dieses sollte sich an den drei existenziellen Grundfragen orientieren: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wozu lebe ich? Hinzu kommt die Frage von Jugendlichen: Wer interessiert sich für mich? Niemals sollten wir den pädagogischen Grundsatz aus den Augen verlieren: Jugendliche in allem ernst zu nehmen. Gleichzeitig sollte die Konfirmandenzeit durch intensive Elternarbeit begleitet und aufgewertet werden.
  • Junge Erwachsene, die nach Orientierung suchen, für die Erwachsenentaufe gewinnen, also GlaubensBildung zu betreiben.
  • Für junge Familien, vor allem die Eltern, die durch ihre Kinder neu nach dem ethischen Grundgerüst ihres Lebens fragen, ansprechbar sein und entsprechende Angebote machen – z.B. über die Kita und über das Angebot an alle Familien, in denen ein Elternteil der Kirche angehört, aber die Kinder nicht getauft sind. Das digitale Meldewesen ermöglicht den Kirchgemeinden eine unkomplizierte Ansprechbarkeit.

Anfangen und machen

Der Einwand wird nicht lange auf sich warten lassen: Das, was hier vorgeschlagen und zur Diskussion gestellt wird, ist alles viel zu viel. Wer soll das leisten können? Dazu haben weder Pfarrer/innen noch Kirchgemeinden Zeit und Kraft – zumal angesichts schrumpfender finanzieller Möglichkeiten und struktureller Knebellungen. Doch wer sich so aus der kritischen Selbstreflexion davonstiehlt, forciert den Abwärtstrend.

Deswegen kann ich nur dazu ermutigen: einfach anfangen, vor Ort, mit einem Projekt beginnen und umsteuern; sich aus der Fremdbestimmung „von oben“ (Finanzen, Strukturen) befreien; zurückkehren zum reformatorischen Prinzip, dass sich Kirche von unten aufbaut; über Finanzen und Strukturen erst dann reden, wenn man sich über die Ziele, Aufgaben, Perspektiven verständigt hat:

  • Was wollen wir?
  • Für wen sind da?
  • Wen brauchen wir?

Anfangen und sich ein Projekt vornehmen, dabei früh zu erreichende Erfolgserlebnisse einplanen und das Ganze im Augen behalten. Kirchgemeinden, die auf breiter Basis in einen solchen Prozess eintreten, werden keine Zeit mehr haben für „Apathie, Ratlosigkeit, Verdrängung, Ignoranz“. Sie stecken nicht den Kopf in den Sand, sondern gehen hoffnungsvoll und zielgerichtet an die Arbeit. Sie tun das, woran einen niemand hindern kann: machen. Niemand weiß, ob dann die Austrittszahlen zurückgehen und sich mehr Menschen sich am kirchlichen Leben beteiligen. Aber sie setzen das um, was Jesus zum aufrechten Gang sagt: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Die Bibel: Lukas 21,28)

Gastkommentar von Christian Wolff: „Die Basis bröckelt leise“ – Anmerkungen zu den Kirchenaustritten

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