An sich ist es zu begrรผรŸen, dass die Reprรคsentant/innen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auf die dramatische Krise der eigenen Institution reagieren. Seit einigen Tagen liegt ein Papier des โ€žZ-Teamsโ€œ vor โ€“ eine Kommission, die sich mit Zukunftsfragen der Kirche beschรคftigt. Dem Team gehรถren 18 Personen an, darunter allein 10 Bischรถf/innen, Oberkirchenrรคt/innen und ein Superintendent. Doch wer die โ€žElf Leitsรคtze fรผr eine aufgeschlossene Kircheโ€œ liest, der kann die Kirche nicht โ€žauf gutem Grundโ€œ basierend sehen.

Vielmehr gewinnt jede/r schnell den Eindruck: Hier wird mit viel Ratlosigkeit, รผbertรผnchendem, pseudo-intellektuellem, theologisch verbrรคmtem Wortgeklingel das Fundament der Kirche zermahlen. Weder setzt sich das Papier mit dem dramatischen Erosionsprozess, dem die Institution Kirche in Deutschland ausgesetzt ist, ehrlich auseinander, noch kรถnnen die Autor/innen eine diskussionswรผrdige Zukunftsperspektive aufzeigen.

Das liegt auch daran, dass รผberhaupt nicht klar ist, welche Funktion die โ€žElf Leitsรคtzeโ€œ haben. Sollen sie eine Zukunftsidee von Kirche entwickeln, oder handelt es sich um einen Kriterienkatalog fรผr zukรผnftige FรถrdermaรŸnahmen der EKD? Zehn der โ€žElf Leitsรคtzeโ€œ beginnen mit dem Satzgefรผge โ€žZukรผnftig wird โ€ฆ gefรถrdert โ€ฆโ€œ โ€“ was sofort den Anschein erweckt: Es geht um Verteilung von Geldern. Doch ist das das Hauptproblem der Kirche, der EKD?

Auffรคllig ist, was in dem Papier รผberhaupt nicht vorkommt: der Mensch, der nach Orientierung, nach Gewissheit, nach Trost und Wegweisung sucht. Der Mensch, der sich in der digitalen Welt nicht in Algorithmen auflรถst. Er/Sie lebt an einem bestimmten Ort, will in seinen/ihren ร„ngsten, seinen/ihren Bedรผrfnissen ernst genommen werden und ist sicher empfรคnglich fรผr ermutigende Hinweise, welchen Mehrwert oder Gewinn es hat, wenn er/sie Mitglied in der evangelischen Kirche ist, bleibt oder wird.

Ebenso wird mit keinem Gedanken reflektiert, dass die Krise der Kirche zu einem erheblichen Teil hausgemacht ist: der Verlust der Menschennรคhe durch seelenlose Funktionalisierung kirchgemeindlicher Arbeit und aberwitzige StrukturmaรŸnahmen, mit denen Kirchgemeinden nachhaltig beschรคdigt werden.

Bei sorgfรคltiger Lektรผre des Papiers wird sehr schnell klar, was es bezweckt โ€“ die Abkehr von zwei Grundsรคulen kirchlichen Lebens: die Gemeinde vor Ort und der Gottesdienst an Sonn- und Feiertagen. Beidem soll der TodesstoรŸ (oder in der Sprache des Papiers: โ€žVersรคulte Strukturen werden abgebaut โ€ฆโ€œ โ€“ 10. Leitsatz) versetzt werden:

  • โ€žParochiale Strukturen werden sich wandeln weg von flรคchendeckendem Handeln hin zu einem dynamischen und vielgestaltigen Miteinander wechselseitiger Ergรคnzungโ€œ (6. Leitsatz) Es geht aber noch blumig-verrรคterischer: โ€žDie Organisation und Institution wird insgesamt fluider und risikobereiter werden. Es gilt Beharrungskrรคfte einzuhegen. Parochiale Strukturen werden sich verรคndern โ€ฆโ€œ (10. Leitsatz, Zeile 469ff) Man kรถnnte es auch einfacher sagen: Lรถsen wir doch die Ortsgemeinden auf und grรผnden virtuelle Glaubenszentren, die โ€ždynamischโ€œ und โ€žvielgestaltigโ€œ agieren.
  • โ€žDas Gottesdienstangebot wird insgesamt kleiner, aber es wird auch vielfรคltiger und darum nicht รคrmer werden. Die evangelische Kirche braucht eine differenzierte und analytisch aufmerksame Selbstwahrnehmung ihres geistlich-gottesdienstlichen Lebens, um die Bedeutung des traditionellen Sonntagsgottesdienstes in Relation zu setzen zu den vielen gelingenden Alternativen gottesdienstlicher Feiern und christlicher Gemeinschaft.โ€œ (6. Leitsatz, Zeile 268ff). Kein Wort zu den Alleinstellungsmerkmalen des Gottesdienstes: Liturgie, Predigt, Kirchenmusik und deren dringend erforderliche Qualifizierung, dafรผr ein Plรคdoyer fรผr Luftnummern.

Da wird das ganze Dilemma des Papiers deutlich: Nicht einmal wird das thematisiert, worum sich die EKD-Gremien wirklich kรผmmern mรผssten, nรคmlich die Tatsache, dass der Kirche mit zunehmender Rasanz die Kundschaft weglรคuft, und fรผr viele Menschen nicht mehr erkennbar ist, warum Kirche fรผr ihr Leben existenziell wichtig sein soll.

Stattdessen nimmt man die Coronapandemie und das Reformationsjubilรคum 2017 zum Ausgangspunkt fรผr ein Schรถn-Wรถrter-Kartenhaus โ€“ ohne auch nur im Ansatz darรผber nachzudenken, dass die Coronapandemie die schon lange wรคhrende Krise der Kirche krass an die Oberflรคche gespรผlt hat und das Reformationsjubilรคum alles andere als gelungen betrachtet werden kann, geschweige denn nachhaltig wirksam war. So wird mit dem EKD-Papier der Weg der Selbsttรคuschung weiter beschritten, den man schon 2017 eingeschlagen hatte.

Der Gรถttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann hat am Schluss seines Buches โ€žErlรถste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformationโ€œ (Mรผnchen 2016) sieben prรคgnante Thesen auf die Frage โ€žWas kรถnnten wir in der frรผhen Reformation finden?โ€œ notiert.

Die erste These lautet: โ€žEine Organisationsvision der Kirche, die von der Gemeinde her gedacht und angelegt ist, nicht von einer klerikalen Funktionรคrshierarchie;โ€œ (S. 426). Genau diesem reformatorischen Kriterium entsprechen die โ€žElf Leitsรคtzeโ€œ nicht. Sie wollen offensichtlich das vollenden, was in vielen Landeskirchen schon ziemlich weit gediehen ist: die Auflรถsung der Parochie (Ortsgemeinde) in funktional agierende Regionalstrukturen.

Da werden nicht nur sinnlos Personalressourcen verbrannt, es geht auch die Nรคhe zum Menschen, zum Kirchenmitglied verloren. Ohne Menschennรคhe lรคsst sich das Evangelium von Jesus Christus aber nicht kommunizieren. Dabei kรถnnte die Kirche an kriselnden Kaufhausketten wie traditionsreichen Parteien erkennen, was geschieht, wenn man die Flรคche aufgibt und meint, sich auf einige Zentren konzentrieren zu kรถnnen: Man entfernt sich immer mehr von der eigenen Klientel und trocknet so auch die vermeintlichen Zentren aus.

Ich bin jetzt 50 Jahre Mitglied der SPD, davon fast 29 Jahre in Leipzig. In Ostdeutschland hat man nach 1990 den kapitalen strategischen Fehler gemacht, nicht in die Flรคche zu gehen. Ebenso wurde versรคumt, die Vernetzung der Parteiarbeit mit den anderen Vereinen und Institutionen vor Ort ernsthaft zu betreiben. Jetzt bleibt man dort, wo es รผberhaupt noch regelmรครŸig tagende Ortsvereine gibt, weitgehend unter sich โ€“ kaum verbunden mit dem, was am Ort geschieht, und erreicht die Menschen nicht mehr.

In Sachsen steht die SPD dicht vor der Fรผnf-Prozent-Hรผrde. Eine solche Entwicklung scheint die Kirche fรผr sich selbst befรถrdern zu wollen โ€“ anstatt alles zu tun, um die Ortsgemeinden zu stรคrken, Kirchgemeinden als Motor, Motivator und Moderator wirksam werden zu lassen und um grรถรŸtmรถgliche personale Nรคhe zu gewรคhrleisten.

Denn nur so und durch eine darauf ausgerichtete entschlossene Qualifizierung des hauptamtlichen Personals der Kirche werden wir der Aufgabe gerecht, โ€žin alle Weltโ€œ zu gehen, fรผr die Menschen (unabhรคngig von Kirchenmitgliedschaft) da zu sein und ihnen die biblische Botschaft nahe zu bringen.

Man kann der EKD-Synode nur dringend raten, sich auf ihrer nรคchsten Tagung nicht mit diesem peinlichen Papier zu beschรคftigen, sondern sich zum Beispiel einem sehr konkreten Problem exemplarisch zuzuwenden: Was bedeutet es, dass sich seit Jahren in Deutschland 25 Prozent der Kirchenmitglieder (in den Stรคdten sind es 50 Prozent und darรผber) nicht mehr kirchlich bestatten lassen, und was mรผssen wir verรคndern, um diese Entwicklung entschlossen umzukehren?

Wer sich damit ernsthaft auseinandersetzt, der verlรคsst jede Form von โ€žSelbstbezรผglichkeitโ€œ (eine der blumigen Wortschรถpfungen in den โ€žElf Leitsรคtzenโ€œ) und beginnt zu begreifen, wie weit weg wir inzwischen von den Menschen sind und was wir an Kernkompetenzen bereits verloren haben. Es ist leider so: Da, wo Kirche den Menschen ganz nahe ist, wie in diakonischen Einrichtungen, ist sie zu oft nicht erkennbar. Da wo Menschen unsere Nรคhe brauchen, sind wir nicht mehr vorhanden.

Nachtrag:

  1. Mit diesem Blogbeitrag knรผpfe ich an die beiden vorherigen Beitrรคge an: http://wolff-christian.de/die-basis-broeckelt-leise-anmerkungen-zu-den-kirchenaustritten/ und http://wolff-christian.de/was-tun-praktische-erwaegungen-zur-krise-der-kirche/
  2. Man fragt sich, wieso honorige Leute und gute Theolog/innen wie Heinrich Bedford-Strohm, Annette Kurschus oder Friedrich Kramer einen solchen Text mitzeichnen. Oder ist es doch so, wie manche vermuten, dass der Text allein aus der Feder des Vizeprรคsidenten Thies Gundlach geflossen ist? Dann aber wรคre es jetzt hรถchste Zeit, dies klarzustellen.

Gastkommentar von Christian Wolff: Was tun? โ€“ Praktische Erwรคgungen zur Krise der Kirche

Gastkommentar von Christian Wolff: Was tun? โ€“ Praktische Erwรคgungen zur Krise der Kirche

Gastkommentar von Christian Wolff: โ€žDie Basis brรถckelt leiseโ€œ โ€“ Anmerkungen zu den Kirchenaustritten

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Es gibt 8 Kommentare

Dem Satz: Ich glaube an einen persรถnlichen Gott, stimmen 8,2 % der Deutschen Ost zu, wobei der Anteil in Sachsen seit Beginn der Statistik deutlich darunter liegt. Atheismus deckt sich nicht unbedingt mit Konfessionslosigkeit. Einfach mal unter Atheismus Deutschlands Ost im Netz recherchieren. Das wir hier von einer Paralellgesellschaft sprechen stimmt. Ich denke eher, dass man Herrn Wolff fรผr sein schreibwรผtiges Sendungsbewusstsein hier auch mal mit seinem klerikalen Artikel in der Allgemeinpresse belohnen will.

@Saschok: Also hier sagt die Statistik etwas von 25 Prozent konfessionell gebundenen Sachsen. Nur, damit wir uns รผber die Dimension einig sind ๐Ÿ˜‰ https://de.statista.com/statistik/daten/studie/201622/umfrage/religionszugehoerigkeit-der-deutschen-nach-bundeslaendern/

Im Weiteren ist es auch aus anderen Grรผnden nicht unwichtig, auch Kirchen/Religionsgemeinden und ihre Themen im Blick zu behalten. Nicht, dass sich da Parallelgesellschaften entwickeln ^^ https://www.l-iz.de/politik/sachsen/2019/10/Der-Bischof-geht-Landeskirchenleitung-Sachsen-nimmt-Ruecktritt-Rentzings-an-301029

Ich finde diesen Beitrag sehr lesenswert. Und selbst wenn ich inhaltlich nicht mit den Aussagen des Autors รผbereinstimme, (was sonst meist bei den Beitrรคgen von Herrn Wolff der Fall ist) habe ich beim Lesen vielleicht mal einen neuen Gedanken oder kann meine Argumente an denen des anderen schรคrfen. Und, wenn mich ein Thema garnicht interessiert, lese ich es eben nicht.
Also: Bitte weiter so, laรŸt die Filterblase platzen.

Es ist in dem Zusammenhang auch zu fragen, was sich der Freistaat von so einer Subvention der Kirche verspricht. Wahrscheinlich bleibt der Grund genauso verborgen wie der Grund fรผr durchgรคngig religiรถs gebundene MPโ€™s im Freistaat. Weshalb die Alternative Liz da mitmacht, mรผssen die Zustรคndigen selbst beantworten, zumal die Clubleserzahl evangelischer Zeitungen real sinkt und die der Liz ja wohl steigen soll.

Es kommt einen so vor, als ob beim Stottern eines Autos der Auspuff repariert werden soll, aber nicht der Motor.
280 Jahre nach dem Beginn der Aufklรคrung ist es ja wohl eher an der Zeit zu fragen, warum die Menschen der Kirche gern bleiben. Aus meiner Sicht sind es 2 Punkte, wovon der Zweite aufgrund der hervorragenden Lobbyarbeit der Kirche und ihrer Jรผnger noch gut im Verborgenen schlummert.
Zum einen wird immer mehr Menschen klar, dass mit Moralvorstellungen einer 2000 Jahre alten Hirtenkultur kein moderner Mensch mehr hinter dem Ofen vorgelockt werden kann. Da wird fรผr einen aufgeklรคrten Menschen die Schere im Kopf zu groรŸ zwischen Schรถpfungsmรคrchen und Evolution, zwischen propagierter Nรคchstenliebe und unzulรคssiger Bereicherung durch die Kirche, zwischen altem Filz und Modernitรคt.
Zum Zweiten stรถรŸt es der รผberwiegenden Mehrheit der Sachsen, die Atheisten sind, auf Unverstรคndnis, warum der Freistaat seit 1993 bis 2014 die freiwilligen Zahlungen an die ev. Kirche von 12,5 Mio Euro auf 25 Mio Euro bei Abnahme der Mitglieder um 40 Prozent erhรถhte. Und das, obwohl die Kirche nach wie vor keine Grundsteuer auf Immobilien zahlt und auf Einnahmen daraus, obwohl die Zahlungen an die Kirche auf eine Enteignung von Lรคndereien von vor 1803 westlich des Rheins zuruckgeht, obwohl der Freistaat รผber die Weimarer Verfassung von 1919 (Artikel 138ff) verpflichtet ist, die Zahlungen zu beenden, er aber statt dessen den Vertrag aus der Nazizeit in den 1990ern erneuerte, obwohl die Kirche massive Lobbyarbeit leistet (siehe Kirche in der Uni, Besetzung Rundfunkrat, Vergabe von Konzessionen fรผr kirchliche Kindergรคrten, Beibehaltung Religionsunterricht in den Schulen ..)

Also Herr Parteigenosse Wolff gibt die 5-Prozentgrenze fรผr Religionsbeitrรคge ja selbst vor. Das sind dann fรผr die Evangelikanen so ca. 3., es sei die Liz versteht sich anders. Ich hรคtte auch gern einen Artikel verรถffentlicht รผber das Thema: Korreliert der Atheismus eigentlich nicht negativ mit der Anzahl der Kabarettauffรผhrungen in Leipzig?

Ich hab noch einmal โ€œnachgezรคhltโ€. Die Menge der kirchlichen Themen im Vergleich zu den anderen Themen steht in einem guten Verhรคltnis zur kirchlich gebundenen Zahl der Menschen in Sachsen im Vergleich zu den ungebundenen. Passt so ๐Ÿ˜‰

Dass sachsen weltweit der atheistischste Landstrich ist und Leipzig erst recht, erspart den Lesern der Liz nicht รผberdurchschnittlich mit religiรถsen Themen versorgt zu werden, die dann auch noch tief hinein in die Theologische Wissenschaft einsteigen dรผrften. Ich wรผnsche mir deshalb in dieser Kirchenzeitung einen umfassenden Beitrag zu Eugen Drewermann โ€“ ist lรคngst รผberfรคllig.

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