Eigentlich hätte eine Schockwelle zumindest durch die Kirchen gehen müssen, als vor wenigen Tagen die neuesten Zahlen zur Mitgliedschaft in der evangelischen und katholischen Kirche veröffentlicht wurden: 2019 haben 273.000 Menschen die katholische und 270.000 Menschen die evangelische Kirche verlassen, zusammen über eine halbe Millionen Menschen. Damit gehören nur noch knapp über 50 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Kirche an.

Wenn man die Zahlen der letzten drei Jahrzehnte vergleicht, so hat es seit 2014 einen rasanten Zuwachs an Kirchenaustritten gegeben, der 2019 einen Höchststand erreicht hat: über 100.000 Menschen mehr als 2018 haben den beiden großen Kirchen den Rücken zugedreht. Das darf niemanden in den Kirchen ruhig schlafen lassen – und doch ist es kein wirkliches Thema.

„Die Basis bröckelt leise“ – stellte schon 2017 Matthias Drobinski in der Süddeutschen Zeitung fest. Es scheint sich zu bestätigen, was in der Coronakrise spürbar ist: Kirche spielt derzeit kaum eine Rolle und erscheint vielen Menschen entbehrlich.

Kein Wunder, dass in den Kirchen Ratlosigkeit um sich greift. Darum wiederholen sich auch die jährlichen Stellungnahmen zur Mitgliedschaftsentwicklung: Jeder Austritt schmerzt … die Kirche wird darauf reagieren … sie wird zunächst genau analysieren … Kirche muss sich verändern …

Doch Entscheidendes wird sich zunächst nicht tun, schon gar nicht in der Ausbildung der Pfarrer/innen – außer dass man vieles den auch durch die Coronakrise eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten anpasst, was im Klartext bedeutet: Sparen ohne Zukunftsperspektive.

Dabei wäre schon viel geholfen, wenn wir einer Tatsache nüchtern ins Auge sehen: Viele Menschen haben sich von Religion abgewendet und vermissen nichts, wenn für sie die biblische Glaubenstradition genauso unbekannt ist wie Homers Sagen. Der Prozess der Säkularisierung, also die Entfremdung von den Glaubensgrundlagen der Kirchen, von religiösen Vorgaben und Bevormundung ist weit vorangeschritten und hat wenig damit zu tun, wie Kirche heute agiert.

Das irdische Leben in Mitteleuropa bietet inzwischen alles an Unterhaltung, Kultur, Entwicklungsmöglichkeiten, dass eine transzendentale Herkunftserklärung überflüssig erscheint. Die Möglichkeiten, das eigene Leben dann beenden zu können, wenn es durch Krankheit, Schicksalsschläge, Alter schwierig zu werden droht, werden auch immer greifbarer und sind zuletzt höchstrichterlich eröffnet worden. Das bedeutet: Eine Kirche, ein Glaube als Lückenbüßer für viele Probleme des Lebens erübrigt sich immer mehr.

Die vorangeschrittene Individualisierung tut ihr Übriges. Der Mensch hat sich selbst und braucht weder einen Gott noch eine Jenseitsperspektive. Der Philosoph Wilhelm Schmid stellte eine entscheidende Frage: „Moderne heißt, sich absichtsvoll befreien von Religion, Tradition und Konvention. Das sind die Instrumente, die definieren, wie man zu leben hat. Nur etwas war von vornherein nicht bedacht worden: Was machen wir dann?“ (DIE ZEIT Nr. 52 vom 23.12.2015).  Auf diese Frage muss Kirche eine Antwort geben können und damit verdeutlichen, warum es sinnvoll ist, ihr anzugehören.

Doch ist gerade in der Coronakrise eine Schwäche der Kirche offen zutage getreten, die auch viel mit der Austrittsbewegung zu tun hat: Kirche vermochte es viel zu wenig, die Pandemie, die bei vielen Menschen Sicherheiten wegbrechen ließ, durch ihre Botschaft zu deuten, Konsequenzen für zukünftiges Leben aufzuzeigen und entsprechende Angebote zu machen, damit umzugehen. Das führte dazu, dass sich Menschen auch von der Institution allein gelassen fühlten, von der sie in Krisenzeiten Halt, Zuwendung, Festigkeit erwarten.

Da zeigte sich, dass Kirche viel zu wenig ihre gesellschaftspolitische Verantwortung eigenständig wahrzunehmen und gleichzeitig Orientierung aus dem Glauben heraus zu geben in der Lage ist. Es zeigte sich auch, dass Kirche sich nach wie vor schwer damit tut, Glaubensinhalte in einer Sprache zu kommunizieren, die die Menschen verstehen, ohne dass Glaubensinhalte entleert werden. Die Kirche hat nicht geschwiegen, aber sie hat offensichtlich nicht die richtigen Worte gefunden und sich so ins Abseits manövriert.

Nun wird in den aktuellen Medienartikeln, die sich mit dem dramatischen Mitgliederverlust der Kirchen beschäftigen, immer wieder empfohlen, dass Kirche sich einer neuen Sprache bedienen müsse. Evelyn Finger schreibt in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT: „Man redet salbungsvoll über die Köpfe der Leute hinweg und wundert sich, dass sie davonlaufen.“

Malte Lehming fordert im „Der Tagesspiegel“ die „Entwicklung einer einfachen Sprache“ und darüber hinaus „Konzentration aufs Wesentliche, … Traditionsentschlackung, Stärkung der großen Ökumene, grenzüberschreitende Verkündigung“. Wenn ich es richtig sehe, wird Kirche aber nur dann bestehen können, wenn sie beides vermag:

  • ihre reiche Glaubenstradition pflegen, wertschätzen und so praktizieren, als wäre sie ganz neu;
  • die Grundanliegen des Glaubens so kommunizieren, dass dies auch von denen verstanden werden kann, die schon längst nicht mehr in der Kirche zu Hause sind.

Beides stellt höchste Anforderungen an das Personal der Kirche, insbesondere die Pfarrer/innen und an ihre Ausbildung. Solange aber die Kommunikation des Glaubens im öffentlichen, säkularen, gesellschaftspolitischen Bereich – und da stehen ja die Gotteshäuser – kaum eine Rolle spielt, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass die Verkäuferin von Rewe, sollte sie sich einmal in einen Gottesdienst verirren, nichts versteht und sich gelangweilt abwendet. Zwei persönliche Erlebnisse mögen das illustrieren:

  • Als ich vor 46 Jahren einem Jurastudenten und einer Germanistin – beide ohne große Bindung an die Kirche – meine erste Predigt vorgelesen habe, sagten sie unabhängig voneinander: Das bist du nicht, der da redet. Wir kennen dich aus dem Hörsaal 13 (da fanden die Teach-ins der Uni Heidelberg statt) ganz anders. Das war für mich ein heilsamer Warnschuss. Sie erwarteten von der Predigt keine politische Rede, aber sie wollten erreicht werden in einer Sprache, die sie verstehen.
  • Während meine im Februar verstorbene Frau auf der Palliativstation des katholischen St. Elisabethkrankenhauses lag, besuchte ich die evangelische Andacht „Wort und Musik“ in der Kapelle. Ein Vikar ließ vom CD-Player Tanzmusik aus dem 17. Jahrhundert abspielen. Sehr passend, dachte ich. Doch er beherrscht die Technik nicht – weder beim Ein- noch beim Ausschalten. Alle Andacht war dahin – aber sie wurde in alle Krankenzimmer übertragen. Seine kurze Ansprache beginnt der Vikar mit der Frage: „Sind Sie gerne im Krankenhaus?“, um dann auszuführen, dass er gerne hier ist, weil hier Fragen aufgeworfen werden, die man sich sonst nicht stelle. Geht es um ihn oder geht es ihm um die Kranken und ihre Angehörigen, fragte ich mich. Dann spricht er relativ unvermittelt über Ewigkeit, ohne aber diesen Begriff so zu erklären, dass der Dreher von BMW, der mit einer Nierenkolik auf der Station liegt, damit etwas anfangen kann. Der Vikar, am Anfang seiner Berufstätigkeit, spricht so, dass ich den Eindruck habe: Er ist schon am Ende, völlig gefangen in sich selbst und einer binnenkirchlichen Welt ohne Fenster nach außen.

Natürlich: Patentrezepte, die Austrittsbewegung zu stoppen, hat niemand. Aber wir müssen uns konzentrieren auf eine menschennahe Kommunikation des Glaubens insbesondere auch in den Bereichen, die die Kirche selbst unterhält: Kitas, Schulen, diakonische Einrichtungen, Ausbildungsstätte.

Wir müssen sprachfähig werden – nicht indem wir uns anbiedern, aber indem wir die Gewissheiten des Glaubens kraftvoll in den jeweiligen gesellschaftlichen Bezügen „grenzüberschreitend“ verkünden und die Überzeugungen des Glaubens leben und so beim Wesentlichen bleiben. Vor allem aber muss in den Kirchen die Unruhe lauter werden, wenn die Basis weiter leise bröckelt.

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