LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 80, seit Freitag, 26. Juni im HandelZwischen zwei Bäumen im Dessauer Stadtpark flattert ein Plakat mit 182 Namen. Einer von ihnen ist Alberto Adriano, elfte Zeile, vierter von links. Das Plakat trägt die Überschrift „Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt, 1990–2011“. Alberto Adriano wurde vor 20 Jahren, in der Nacht auf den 11. Juni 2000, von drei Neonazis brutal zusammengeschlagen. Drei Tage später verstarb er im Krankenhaus. Der aus Mosambik stammende Fleischermeister war als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen, hinterließ eine Ehefrau und drei Kinder.
An der Blutbuche, unter der die Neonazis ihren Hass auf Andersaussehende, Andersdenkende, Anderslebende entluden, indem sie Alberto Adriano den Schädel zertraten, steht heute ein Gedenkstein. Jedes Jahr finden hier Gedenkveranstaltungen statt. Auch an diesem 11. Juni – es ist ein schwüler, wolkenbedeckter Donnerstag – werden in Dessau-Roßlau Reden gehalten und Blumen niedergelegt.
Am Nachmittag in Form eines stillen Gedenkens, bei dem Vertreter/-innen von Stadt, Land und Bund gekommen sind und geduldig die immer gleichen Fragen der Presse beantworten: „Wie kann rechte Gewalt verhindert werden?“, „Warum sind Sie heute zum Gedenken gekommen?“ und „Was hat sich verändert seit Adrianos Tod?“.
Aufstand der Wenigen
Am Abend zieht eine Demonstration unter dem Motto „No Justice, No Peace – Gedenken an Alberto Adriano“ durch die Stadt. Zu Beginn der Versammlung lässt sich erstmals an diesem Tag die Sonne blicken. Als die Demonstrierenden in Richtung Polizeirevier aufbrechen, umfließen die Sonnenstrahlen das Hochhaus am Rande des Stadtparks, in dem Alberto Adriano mit seiner Familie lebte.
Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder forderte kurz nach Adrianos Tod einen „Aufstand der Anständigen“ gegen Rechtsextremismus. Er legte einen Kranz am Tatort nieder; das öffentliche Interesse war riesig. „Wegschauen ist nicht mehr erlaubt“, mahnte er.
20 Jahre später steht Thomas Ndindah von der Initiative „Gedenken an Oury Jalloh“ unter der Blutbuche und sagt: „Wir, die Black Community, müssen sagen, dass wir in den letzten 20 Jahren in Deutschland keinen Aufstand der Anständigen erlebt haben. Man kann sich fragen: Gibt es keine Anständigen in Deutschland?“
Die Reden der Kundgebung sind geprägt vom Unverständnis über die Gleichgültigkeit der „rassistischen Mehrheitsgesellschaft“, von einem längst verlorenen Vertrauen in die Justiz, auch von Hass auf die Polizei. Und gleichzeitig von einem unglaublich starken Gerechtigkeitswillen, von Kampfgeist. „Es kann so nicht weitergehen; ich will meinem Bruder Alberto Adriano versprechen, dass wir dieses Momentum nutzen“, sind Thomas Ndindahs abschließende Worte. Er bezieht sich auf den Tod des Afroamerikaners George Floyd in den USA und die „Black Lives Matter“-Bewegung.
Vertrauen verspielt
Brüder und Schwestern, so nennen sich viele Menschen innerhalb der Black Community, auch in Dessau-Roßlau. Nicht ihre Hautfarbe oder ihre Herkunft haben sie zu einer Familie zusammenwachsen lassen, sondern die gesellschaftliche Marginalisierung, die sie aufgrund dieser Merkmale ständig erfahren. Auch Diallo Mamadou bezeichnet sich als Bruder Alberto Adrianos, obwohl er ihn nie kennengelernt hat.
Der 43-Jährige wurde in Guinea geboren und kam 2018 nach Deutschland. Laut eigener Aussage verließ er 2015 sein Heimatland und durchquerte mehrere Jahre lang die westliche Sahara, wurde im Libyenkrieg von Rebellen versklavt und erlebte dabei „die Hölle auf Erden“. Mit einem provisorischen Boot überquerte er das Mittelmeer.
Während im Stadtpark die abendliche Demo anlässlich des 20. Jahrestags des Mordes an Alberto Adriano vorbereitet wird, sitzt Mamadou mit Freunden in einem Hinterzimmer des Dessauer Telecafés, dem städtischen Treffpunkt der Black Community. Sie trinken einen grünen Tee namens Warga, das Nationalgetränk Guinea-Bissaus, und unterhalten sich. Nebenbei läuft der Fernseher. Das Telecafé ist ein winziger Laden, in dem Lebensmittel aus Afrika verkauft werden.
„Mein Eindruck ist: Die mächtigste Institution in Deutschland ist die Polizei“, sagt Diallo Mamadou auf Französisch. Auf einem weißen Plastikstuhl neben ihm sitzt Indjai Amadi, Imam der Islamischen Gemeinde Dessau, und übersetzt ins Deutsche. Während des Gesprächs fällt immer wieder der Name Oury Jalloh. Auch ihn nennen Mamadou und Amadi ihren „Bruder“.
Oury Jalloh verbrannte 2005 in einer Zelle des Polizeireviers Dessau. Er war an Händen und Füßen gefesselt, am Tatort wurde zunächst kein Feuerzeug gefunden. In den brandhemmenden Schutz der Matratze war ein Loch gebohrt worden. Der Dienstleiter schaltete den durch den Rauchmelder in der Zelle ausgelösten Feueralarm ab.
Gutachten belegen, dass dem Sierra-Leoner vor Ausbruch des Feuers Schädel, Nase und eine Rippe gebrochen wurden und dass Brandbeschleuniger im Spiel war. Im ersten Prozess wurden die Angeklagten freigesprochen, im zweiten wurde der dienstleitende Polizist zu einer Geldstrafe verurteilt.
Bis heute ist niemand wegen Totschlags oder Mordes angeklagt worden, wofür Angehörige seit anderthalb Jahrzehnten kämpfen. „Mein Vertrauen in den deutschen Staat und in die Polizei ist weg“, sagt Diallo Mamadou. „Sie haben über Jahre versucht, uns mundtot zu machen.“
Tatmotiv Nummer Eins: Rassismus
Oury Jallohs Tod ist zu einem erschütternden Symbol für Polizeigewalt, Vertuschung durch Behörden und Justizversagen in Deutschland geworden. „Dieser Rassismus, der Oury Jalloh umgebracht hat, kommt vom Staat, er ist institutionalisiert“, sagt Diallo Mamadou. Am Abend vor seinem Tod war Oury Jalloh hier im Telecafé, wo Mamadou jetzt sitzt und erzählt. „Wenn in diesem Fall Gerechtigkeit herrschen würde, würde das ein anderes Zeichen setzen.“ Ende 2019 legte die Familie Oury Jallohs Beschwerde gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens beim Bundesverfassungsgericht ein.
Auf die Frage, was sich seit dem Tod Oury Jallohs für die Black Community in Dessau-Roßlau geändert hat, zuckt Imam Amadi mit den Schultern. „Nicht viel, wir werden nur seltener von der Polizei kontrolliert.“ Auf der Straße werden sie regelmäßig böse angeguckt und beleidigt, erzählen Mamadou und Amadi. „Wohl fühlen wir uns in Dessau nicht.“ 2013 wurde das Schaufenster des Telecafés von Unbekannten eingeschlagen.
Die „Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt“ dokumentiert seit 2003 rechte Gewalt in Sachsen-Anhalt. Im vergangenen Jahr wurden 133 Delikte gemeldet. Der Großteil davon war rassistisch motiviert. Die Europäische Grundrechteagentur geht davon aus, dass nur ein Viertel aller rassistischen Gewalttaten zur Anzeige kommt. 2020 hat die Beratungsstelle bisher 15 Delikte erfasst.
Anfang März zündeten Unbekannte einen syrischen Lebensmittelladen in Burg (Landkreis Jerichower Land) an und sprühten Hakenkreuze an Wände und Tür. Der syrische Besitzer gab kurz darauf bekannt, das Geschäft nie wiederzueröffnen und mit seiner Familie die Stadt verlassen zu wollen.
Rechte Gewalt wird oft verkannt
Mindestens 209 Menschen sind laut der Amadeu-Antonio-Stiftung (AAS) seit 1990 in Deutschland durch rechtsextrem motivierte Taten ums Leben gekommen. Für den gleichen Zeitraum zählen die offiziellen Statistiken der Behörden nur 94 Todesopfer rechter Gewalt. Die fehlende Anerkennung von rechtsextremen Tatmotiven wird seit Jahren von Opferberatungsstellen, Journalist/-innen und Stiftungen kritisiert. Neben Defiziten beim Erfassungssystem der Straftaten sieht Politikwissenschaftlerin und AAS-Mitarbeiterin Anna Brausam die Gründe für die hohe Diskrepanz in fehlender Sensibilität bei Polizei und Justiz.
„Der ‚typische‘ Nazi trägt nicht mehr Glatze, Bomberjacke und Springerstiefel, sondern gibt sich auffällig unauffällig“, erklärt Brausam. „Taten, die rechtsextrem motiviert sind, werden nicht ausschließlich vom rechten Rand mit gefestigter Ideologie begangen. Viele gehen auf das Konto von Alltagsrassist/-innen aus der Mitte der Gesellschaft.“ Dass die Polizei viele Opfer kriminalisiere oder nicht ernst nehme, führe dazu, dass diese vor Anzeigen zurückschreckten.
Die Neonazis, die Alberto Adriano zu Tode quälten, gaben sich noch als solche zu erkennen: Springerstiefel, kahlrasiert, Szenekleidung. Vor der Tat zogen sie unter Alkoholeinfluss durch Dessau, grölten „Sieg Heil!“ und sangen das menschenverachtende „Afrika-Lied“ der Neonaziband Landser. Im Urteil wird erstmals ein Zusammenhang zwischen einem rassistischen Mord und Rechtsrock anerkannt.
Zum Abschluss der Alberto-Adriano-Gedenkdemo rappt der aus Berlin angereiste Musiker Mal Élevé seine antifaschistische Hymne „No pasaran“ vor dem Polizeirevier, in dem Oury Jalloh verbrannte. „Wir fragen uns, wie es damals so weit kam / Und fragen, was hätten wir damals getan / Die Antwort liegt in unseren Taten, was tun wir heute? / Damals ist so nah!“
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