„….Vielleicht ist ja Freiheit ein innerer Motor. Dinge zu erfahren über die Welt, zuzuhören, aufzunehmen – und dann vielleicht als Künstler die Dinge über die Welt mitzuteilen, die man erlebt hat und von denen man denkt, dass man es unbedingt mitteilen muss. Zum Beispiel auf der Bühne. - …“ (Thomas Rühmann)

Persönlich ernst genommene Freiheit und Selbstbestimmung führen irgendwie immer auch zu eigenen Projekten. So auch bei Thomas Rühmann, der zwar durch die Serie „In aller Freundschaft“ vielen Menschen aus dem TV bekannt, aber seit Jahren auch Theaterbetreiber im Oderbruch ist. Wortwörtlch „Am Rand“ angesiedelt, ohne „Theaterschikeria“, wie er sagt, mit wachsendem Interesse des Publikums. Konstanze Caysa im Gespräch mit Rühmann über ein Höchstmaß an Glück.

Am Rand findet man vielleicht noch eine Freiheit. Am Rand, wo der Einzelne gefordert ist. Ich möchte gern zu sprechen kommen auf Ihr „Theater am Rand“ im Oderbruch. Ich war in drei Vorstellungen von Ihnen. Die Freiheit betreffend ist Ihre Kunst für mich eine Form des Erzählens, die etwas wiederentdeckt: nämlich die großen Zusammenhänge der Welt – und zwar unmittelbar an der Existenz des Einzelnen.

Es werden echte und damit wahre Geschichten erzählt und man kann sich mit ihnen identifizieren. Der eine an jener, der andere an anderer Stelle. Damit werden Wahrheiten erzählt.

Das Erzählen echter Geschichten, von Anfang bis Ende, bis zum Sterben und zum Tod hin – nichts tabuisierend – erzeugt aus sich heraus wieder erneut Erlebnisse, Wahrheit, deren Geheimnis nicht mehr und nicht weniger als die eigene Entwicklung ist. Das Erzählen erfasst die Zuschauer und sie werden Teil des Geschehens und erleben diese erzählten Wahrheiten als eigene und weitergelebte Wahrheiten. Das ist das Magische daran.

Vielleicht muss man das selbst noch ein wenig unterfüttern: Das ist ein Theater, das ich zusammen mit dem Akkordeonisten Tobias Morgenstern betreibe. Morgenstern ist ein großartiger Musiker und hat auch einen anderen Blick auf die Geschichten als ich sie habe. Aus den Wörtern, die ich ihm bringe und aus der Musik, die er liefert, machen wir unsere Kunst.

Wir nennen es manchmal „erzählendes Theater“, denn auf der Bühne findet gar nicht so viel statt. Wir erzählen eine Geschichte, springen auch manchmal in Dialoge und spielen, und im besten Falle entsteht etwas Magisches. Aus dem, was ich gefunden habe in der Belletristik, das mich umgehauen hat. Das einen Gedanken hervorholt, den ich so noch nie zuvor gedacht habe.

Wir erzählen die beredten Menschengeschichten dieser Welt. Wahrscheinlich hat es mehr mit mir oder mit uns beiden zu tun, als wir glauben. Aber es ist eben so: wenn einen eine Geschichte trifft und berührt, dann hat es etwas mit dir selbst zu tun. Dass das die Leute goutieren, dass so ein Publikum, total gemischt – Alte, Junge, Bauern, Intellektuelle -, dass die bereit sind, sich unser Zeug anzugucken, das finde ich wirklich erstaunlich.

Ich denke auch, dass dieses Verstehen, das Sie im Lesen erfahren, dann wiederum von Ihnen im Erzählen der Geschichte an das Publikum weitergetragen wird. Das ist das Faszinierende. Und es ist dadurch klar, dass es eben mehr ist als die reine persönliche Erfahrung von Ihnen mit dem Text, sondern dass das, was Sie erfahren im Lesen oder was Sie angeht etwas ist, was viele angeht, dass es etwas ist, das viele in verschiedensten Formen nachvollziehen können. In dem Moment nachvollziehen, nicht theoretisch, sondern emotional, instinktiv vielleicht sogar – als etwas, wenn man es allgemein und philosophisch ausdrücken will, als etwas, das den Menschen angeht.

Bei uns ist es aber auch nicht immer bierernst. Es ist auch sehr komödiantisch. Aber oft gekontert mit harten Geschichten. Die Zuschauer kommen – ohne dass wir auf die Leute schielen –, das ist interessant. Ein Höchstmaß an künstlerischer Erfüllung. Das ist Selbstbestimmtheit als Freiheit. Wir bestimmen.

1998 haben wir das Theater gegründet, in dem kleinen Wohnzimmer von Tobias Morgenstern. Eingebaut wurde ein Theater für 32 Leute. Dann haben wir im Laufe der Jahre mehrmals umgebaut. Und irgendwann haben wir dann auf der Wiese dieses Bauwerk der organischen Architektur hingesetzt. Ein Theater aus Holz, aus dicken Eichenstämmen. Wir können es im Sommer nach drei Seiten öffnen. Morgenstern war der Architekt, unsere Freunde waren die Holzbauer des Oderbruchs. Wenn man ein Theater gründet, wenn man also Leute braucht, dann sind die immer im rechten Moment da. Wenn man einen Traum hat und diesem Traum nachgeht, kommen die, die mitmachen wollen, von selbst.

Das Theater am Rand in einer Luftaufnahme. Foto: Theater am Rand/ Andreas Klug
Das Theater am Rand in einer Luftaufnahme. Foto: Theater am Rand/ Andreas Klug

Das ist ja eine Form von Freiheit, die man nicht plant und das würde ich auch von der Selbstbestimmung sagen: Selbstbestimmung heißt oftmals eben nicht, streng einem ausgedachten Plan zu folgen. Die eigenen Träume und Sehnsüchte zu verwirklichen versuchen oder es auch tatsächlich zu tun, folgt keinem theoretischen Regelwerk, keinem Masterplan, den man sich auf die nächsten 20 Jahre macht oder so. Stimmen Sie mir zu?

Ja, genau das ist vielleicht das Geheimnis dieses Theaters. Es war nicht die Absicht ein Theater zu gründen. Es ist uns unter der Hand passiert. Wir wollten ein Stück auf die Bühne bringen. „Das grüne Akkordeon“ von Annie Proulx. Ein Theaterstück für einen Schauspieler und einen Akkordeonisten – und haben einfach nicht aufgehört zu spielen.

Irgendwann sprach sich herum, was wir da tun. Dann kamen die Leute und das Theater war immer voll. Erstmal 32 Zuschauer. Dann wurden es 50 und 80 Leute – wir haben noch eine Wand weggerissen und auf einmal waren es 90 bei 50 Grad Hitze im Sommer. Aber die Leute sind gekommen.

Dann sind wir auf die Wiese gegangen und haben einfache Holzbühnen gebaut. Eines Tages saßen vor uns 700 Leute. Und wir haben gedacht: okay, dann bauen wir uns jetzt einen adäquaten Theaterraum. Morgenstern hat sich als Architekt entpuppt und offenbar haben wir da etwas hingesetzt, was es so nicht gibt. Das gibts nur in Zollbrücke im Oderbruch.

Ja, etwas Neues.

Ein Höchstmaß an Glück. Ein Höchstmaß an Selbstbestimmtheit. Ein Höchstmaß an Freiheit, die sich jetzt ein bisschen ändert, weil wir inzwischen ein Betrieb geworden sind. Wir haben 20 Mitarbeiter. Bisher haben wir 21 Jahre lang ohne einen Pfennig Förderung gearbeitet. Wir haben das praktisch aus uns heraus hingekriegt, mit den Zuschauern zusammen in einem interessanten System von Kleinkrediten ohne Zins. Wir haben auch den Bau immer mehr erweitert. In jeder Bauphase wurde gespielt. Zuerst standen 4 Stützen und ein Dach und eine Betonfläche. Ein halbes Jahr später, wenn die Zuschauer wiederkamen, da gabs schon Traversen bis zur Decke hoch aus Pappelholz. Das ist ein leichtes Holz und eignet sich wunderbar als Sitzbank. Seit drei Jahren gibt es auch ein Restaurant, die „Randwirtschaft“. Es wird vom Öko-Gut Brodowin betrieben.

Wir haben auf das Prinzip Entwicklung gesetzt – ohne dieses Prinzip würde es uns heute nicht mehr geben. Aber es hat zur Folge, dass wir jetzt mehr ans Geld denken. Wir müssen viel wirtschaftlicher arbeiten. Das ist hart für uns. Die ersten Jahre waren das kleine kreative Chaos und es war egal, ob 30 Leute drinsitzen oder 50 Leute.

Wie schafft man es, obwohl alles größer wird, obwohl es Angestellte gibt und obwohl auf einmal auf`s Geld geachtet werden muss, nicht nur die Lust am Spielen, sondern auch die Stoffe weiter selber zu bestimmen und wirklich selber zu bestimmen und nicht insgeheim zu denken: ach – das spielen wir lieber nicht … Muss man da vielleicht eine Stufe schon überschritten haben, sodass das Theater schon so gut läuft, dass man sich wieder leisten kann zu machen, was einen treibt? Oder kann man sagen: Na gut, ich mach, was ich will – ihr kommt ja sowieso alle?

Oder bleibt man lieber vorsichtig? Auch am Rand?

Das Theater am Rand hat wie jedes private Theater immer wieder zu entscheiden, was gespielt wird. „Wir machen jetzt Comedy, denn da kommen die Leute!“ ist eine typische Entscheidung. Aber das machen wir nicht. Wir machen natürlich auch Komödien, aber nur, wenn es uns unter den Nägeln brennt. Das heißt, wir versuchen den Spielplan so vielgesichtig wie möglich zu erhalten.

Aber – manchmal kommen die Leute auch nicht, wenn sie den gastspielenden Künstler nicht kennen. Das ist ein großes Problem. Auch für die anderen Veranstalter. Am liebsten holen sie sich wen, den man aus dem Fernsehen kennt.

Das war natürlich zu Ostzeiten anders – man las eine Überschrift: „Sehnsucht nach Veränderung“, das war Morgensterns berühmtes Album mit l‘art de passage, und wenn die spielten war es immer voll. Und die Lieder hatten keinen Vers, keine Texte. Das war ein Programm für Vielfalt. Die machten Weltmusik und da rannte man hin – heute rennt keiner mehr.

Ja, man rannte dahin, weil man wusste, was Phantasie ist, was man dadurch erleben kann.

Heute muss man einen Namen haben. Heute muss man möglichst Mainstream sein, kompatibel. Darauf achten die Veranstalter. Etwas Schräges hat es heute schwieriger. Zu Ostzeiten allerdings durfte Schräges gar nicht sein.

(beide lachen)

Aber es war trotzdem schräg.

Ja, aber wir hätten das Theater am Rand zu Ostzeiten niemals gründen können. Auch das ist ein Resultat einer offeneren Gesellschaft. Wir machen, was wir wollen.

Die Freiheit zu machen.

Die Freiheit zu machen, ja. Aber man muss es dann auch machen, durchziehen. Selbstverständlich ist das nicht. Es gibt dieses geflügelte Wort: „ … man müßte mal, ja wir müßten doch mal … – wolln wir nicht mal? Eigentlich müßten wir mal…

Und weg ist es.

Ja. Morgenstern und ich – wir beide haben uns eben gefunden als ein ziemlich eigensinniges, künstlerisch arbeitendes, sehr entgegensätzliches Paar im Sinne von Künstlerfreundschaft – und haben es durchgezogen. Das ist vielleicht unser Geheimnis. Wir beide hatten Lust auf Selbstbestimmtheit, auf Kunst und haben nach wie vor Lust zu erzählen.

Ich bin z.B. kein Erfinder. Aber ich kann etwas erkennen, wenn ein Schriftsteller wie Stan Nadolny „Die Entdeckung der Langsamkeit“ schreibt, dann spüre ich, was da für eine explosive Idee dahintersteckt. Und dann machen wir etwas daraus. Ich bin ein Materialumgeher, aber keiner, der erfinden kann. Ist das eine eingeschränkte künstlerische Freiheit? Ich empfinde das nicht so.

Vor fünfundzwanzig Jahre habe ich gedacht, Du kriegst kein gutes Gedicht hin! Kein gutes Lied! Du kriegst mal eine Melodie hin. Aber vielleicht hast du die Fähigkeit dir einen Text zu nehmen, der 600 Seiten lang ist und den kürzt du auf 30 runter und hast trotzdem die Hauptaspekte des Romans drin.

Das heißt, Sie haben einen Blick für Struktur und Neugestaltung. Nadolny hat sich ja auch z.B. dazu geäußert. Er hat doch gesagt zur Umsetzung seines Stoffes in Zollbrücke, dass er eben auch etwas Neues gesehen hat in der Interpretation und Gewichtung wesentlicherer und weniger wichtiger Aspekte und Sätze aus „Die Entdeckung der Langsamkeit“ und damit immer auch kritischer Weiterentwicklung. Insofern ist das, was Sie machen, etwas selber erfinden. Im positivsten Sinne Eklektizismus.

Vielleicht. Und dabei einen anderen Gedanken dazu tun, den vielleicht Nadolny gar nicht hatte. Unsere Lesart war, dass die Hauptfigur John Franklin eigentlich eine Narrenfigur ist. Das sorgte dafür, dass wir ihn ganz offensiv gegriffen haben in seiner Schrägheit. Wir haben praktisch den Humor in diesem Roman entdeckt. Das hat wiederum Nadolny total überrascht. Er sagte immer: „Wie Sie das machen … ! Was Sie da rausholen …! Für mich sind andere Sätze viel viel wichtiger …“ – Es hat ihn verblüfft, was für uns wichtig war.

Das „Schlacht“-Kapitel, sagt er, hat er schon dreihundert Mal gelesen, aber so hat er es noch nicht gehört und deshalb konnte er es anders aufnehmen. Dass er so positiv darauf reagiert, hat uns sehr stolz gemacht. Wir spielen dieses Stück schon seit 21 Jahren. Das war wie eine späte Gerechtigkeit … kann man das so sagen?

Eine späte Gerechtigkeit – ja … klar!

Dass man wahrgenommen wird. Wir können dort am Rand komplett in Ruhe arbeiten. Manchmal kommt ein Journalist und schreibt über eine Premiere, das passiert schon mal. Aber wir sind nicht in der offiziellen Theaterszene. Wir sind am Rand.

Ja, es hat keiner das Bedürfnis irgendetwas oberflächlich zu kritisieren und runterzumachen. Am Rand, von dort gehen die neuen Impulse aus. Deshalb: ich habe das Gefühl, man muss aufpassen, dass man nicht zu sehr in die Mitte gerät.

Das wird auch ein Kunststück bleiben, diese Eigensinnigkeit zu behalten. Aber ich kann auch nichts anderes. Wenn mich ein Stoff nicht umwedelt … Ich meine: wenn‘s mich nicht im Innersten trifft, dann machen wir das nicht. Ich lese ein Buch und weiß nach einer Seite, ob es etwas für uns ist oder nicht. Manchmal auch erst nach zwanzig Seiten.

Informationen über Thomas Rühmann bei Wiki

Thomas Rühmann im Netz

Das Interview ist auch auf folgender Webseite zu finden:

www.empraxis.net

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