Was heute Abend auf dem Leipziger Augustusplatz stattfand, würde in gleicher Form in Ägypten wohl Verhaftungen und Hausdurchsuchungen zur Folge haben: Eine Mahnwache für die queere Aktivistin Sarah Hegazi, bei der Regenbogenflaggen – das Zeichen der LGBTQI-Community – geschwenkt wurden. Und Repressionen zur Sprache kamen, denen viele nicht-heterosexuelle Menschen weltweit ausgesetzt sind. Gekommen waren über 100 Menschen.
Anlass der Veranstaltung, die von Privatpersonen organisiert worden war, war der Tod der lesbischen Aktivistin Sarah Hegazi. Die Ägypterin hatte sich am 13. Juni im Alter von 30 Jahren das Leben genommen. Ihre Geschichte ist eine traurige Chronik eines verfolgten Daseins: Nachdem Hegazi bei einem Konzert in Kairo 2017 die Regenbogenflagge geschwenkt hatte, wurde sie von der ägyptischen Polizei verhaftet und für drei Monate inhaftiert.
Während ihrer Gefangenschaft wurde sie nach eigener Aussage gefoltert. Nach ihrer Freilassung floh Hegazi, die sich selbst als Kommunistin bezeichnete, aus Angst vor weiterer politischer Verfolgung ins Asyl nach Toronto, Kanada. Dort tötete sie sich Mitte Juni selbst.
Den aktuellen ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah Al-Sisi, der 2013 mithilfe eines Militärputsches an die Macht kam, beschrieb Hegazi als „den tyrannischsten und gewalttätigsten Diktator unserer Neueren Geschichte“.
Das ägyptische Gesetz stellt Homosexualität nicht namentlich unter Strafe, jedoch nutzen die Behörden das „Gesetz zur Bekämpfung von Prostitution“, um die LGBTQI-Community politisch zu verfolgen und zu inhaftieren.
Emotionale Redebeiträge
„Ich weigere mich, Sarahs Tod als Suizid zu bezeichnen“, sagte ein aus Ägypten stammender Redner zu Beginn der Mahnwache auf Englisch. Aus Angst vor Repressionen gegen seine Familie und Bekannten in Ägypten bat er, seine Rede nicht zu filmen oder zu fotografieren.
„Sarah Hegazi wurde von Hasskommentaren im Internet getötet, vom ägyptischen Regime, von der ägyptischen Staatsanwaltschaft, vom Schweigen der Europäischen Regierungen, vom Schweigen unser aller!“ Er bezeichnete den Tod Hegazis als Zeichen des Scheiterns des Arabischen Frühlings im Jahr 2011.
Ihm lauschten über hundert Menschen, die sich halbkreisförmig um den Mendebrunnen gesetzt hatten. Sie trugen Mund-Nasen-Schutz, einige von ihnen eine Regenbogenflagge über den Schultern.
Die Treppen zum Brunnen dienten als Redepult, über ihnen war ebenfalls eine Regebogenflagge ausgebreitet, deren bunte Farben die Stufen hinunterzufließen schienen. Zwischen den Redebeiträgen zündeten Menschen Kerzen und Räucherstäbchen in der Mitte des Versammlungsorts an und legten Blumen vor einem Porträt Sarah Hegazis nieder.
Viele der Redebeiträge – darunter auch verlesene Gedichte – waren sehr persönliche Erfahrungen, die mit teils großer Emotionalität vorgetragen wurden. Ab und an umarmten sich Menschen, weinten, spendeten sich gegenseitig Trost.
„Erzählt Sarah Hegazis Geschichte, informiert euch über die Situation von LGBTQI weltweit, googelt die Namen“, war ein Aufruf, mit dem sich mehrere Redner/-innen an die Anwesenden richteten. „Sarahs Tod berührt so viele Dinge in mir, er spricht so viele soziale und politische Problematiken an, die hier in Leipzig manchmal so weit weg scheinen“, sagte eine weitere Rednerin, die sich als israelische Jüdin aus Tel Aviv vorstellte.
Kritik an patriarchalen Strukturen und am kapitalistischen System
„Tel Aviv gilt als die Homo-Hauptstadt des Mittleren Ostens, das ist einerseits wahr, aber andererseits auch sehr falsch“, berichtete die Rednerin aus ihrer Herkunftsstadt und fügte hinzu: „Ich kenne nämlich keine Transgender-Frau, die nicht in der Prostitution arbeiten musste. Ich kenne keine Transgender-Person, die nicht mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte.“
Damit nahm sie auch Bezug auf Sarah Hegazi, die infolge ihrer Gefangenschaft unter Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung litt.
Das patriarchale, kapitalistische Gesellschaftssystem machten mehrere Redner/-innen indirekt für den Suizid Sarah Hegazis verantwortlich. „Repressive Autoritäten, diskriminierende Gesetze, Hassrede, Hetze und toxische Männlichkeit sind nur einige von vielen Gesichtern des Henkers Kapitalismus, der Sarah umbrachte.“
Zwischen den Redebeiträgen und zum Schluss schallten Lieder der libanesischen Band „Mashrou’ Leila“ über den Augustusplatz – die Band, nach deren Konzert Sarah Hegazi 2017 verhaftet wurde. Nach der Mahnwache schrieben einige Anwesende ihre Gedanken auf ein Blatt Papier, das vor Sarah Hegazis Porträt auf dem Boden lag. „You will never die“, lautete eine Notiz.
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