LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 79, seit 29. Mai im Handel„Gott schuf Menschen und die waren auch danach“, pflegte einer meiner Großväter gerne zu sagen. Bei ihm diente das als Welterklärung für fast alles, was im Zusammenleben mit seinen Mitmenschen irgendwie schieflief. Die waren für ihn eben fehlbar und das musste als Rechtfertigung und Erklärung ausreichen. Der Mann war ein südpreußischer Stoiker. Ich frage mich, ob ihm seine fatalistische Welterklärungsformel nicht verrutscht wäre angesichts der demokratisch gewählten Spitzenpolitiker der vier aktuell am schlimmsten von der Pandemie betroffenen Staaten.
Boris Johnson in UK, Trump in den USA, Putin in Russland und Bolsonaro in Brasilien führen – Stand Juni 2020 – die Liste der Nationen mit den furchtbarsten Opferraten des Virus an. In jedem der Länder existieren strukturelle Gründe dafür, dass die Pandemie dort besonders tödlich wütet. Sowohl das russische als auch das brasilianische Gesundheitssystem sind heillos kaputtgespart worden.
Beide Staaten stellen auch allein aufgrund ihrer Geographie selbst gut ausgestattete und verantwortungsvoll geführte Gesundheitssysteme vor immense Herausforderungen. Der Nationale Gesundheitsdienst im Vereinigten Königreich ist durch die drei aufeinanderfolgenden konservativen Regierungen amateurhaft teilprivatisiert und zerstückelt worden, sodass es einem Wunder gleicht, wie effektiv die Mitarbeiter dennoch im Angesicht der Seuche arbeiten.
Aber allein dies reicht nicht aus, um das Pandemie-Versagen der Regierungen dieser Länder zu erklären. Sie alle werden von rechten bis nahezu ansatzfaschistischen Autokraten geführt, die ihre Anhängerschaft seit Jahren mit Fakenews füttern und ihnen so eine Art Immunisierung gegen die Realität verpassen, die wirksamer ist als Hydroxychloroquin gegen Covid-19. In ihren Erzählungen für die Fanbase waren die vier Herren schon immer darauf angewiesen, einen Gegner aufzubauen, der die Wahlfahrt ihrer Parteien, Wähler oder Staaten bedroht.
Putin stellt auf die vermeintliche Bedrohung durch die angeblich moralisch degenerierte EU ab, Trump hat sich die Demokraten und China als Buhmann herausgepickt und Bolsonaro malt den Teufel einer linksliberalen Verschwörung gegen ihn an die mediale Wand. Für Boris Johnsons Konservative war und ist die EU sowieso die Wurzel so ziemlich aller Übel, die das Vereinigte Königreich plagen.
Die Vorwürfe, die Trump, Putin, Johnson und Bolsonaro verbreiten lassen, werden zwar zunehmend absurder, aber enthalten auch immer drängendere Aspekte. Stets steht in diesen Erzählungen der jeweilige Gegner kurz vor dem nächsten fiesen Sieg über angeblich aufrechte Männer und Frauen, die weiter nichts wollen, als ungestört ihr Leben zu leben. Gerade durch jenen Dringlichkeitsfaktor finden sie allerdings so eifrige Aufnahme unter den Wählerschichten der vier Männer.
Aber offensichtlich ist an der Rhetorik dieser Herren und der ihnen unterstehenden jeweiligen Parteiapparate, dass sie eine Gewichtung zwischen Leben vornehmen. Die einen sind es wert, finanziell und medizinisch geschützt zu werden, die anderen sind es nicht. Wer es nicht wert ist, geschützt und gerettet zu werden, sind selbstverständlich Randgruppen und Menschen, die man offenbar in den betreffenden Parteizentralen für Angehörige einer breiten grauen Masse hält, die so zahlreich ist, dass dort Verluste hingenommen werden können, ohne die Strukturen und Sicherheit der Nation zu gefährden.
So gesehen ist die Kriegsrhetorik, die all diese Herren in ihren Reden zur Pandemie bemühen, durchaus passend. Im Krieg kommt es zu Verlusten und da fallen Kollateralschäden an, die in Kauf genommen werden müssen, um den Sieg zu erringen.
So werden farbige Menschen, Menschen am unteren Rand der sozialen Leiter, die kleinen „Helden an der Corona-Front“, die Kassierer, Schwestern, Busfahrer, Lieferanten und Arbeiter in den Lebensmittelbetrieben, dem Großhandel und den Auslieferungslagern willig geopfert, indem Trump die Pandemie kleinredet, Bolsonaro sie nach Möglichkeit völlig ignoriert oder wahlweise zum Hoax erklärt. Und Putin sich aus seiner Datscha bei Moskau heraus per Videolink als gelangweilter Übervater inszeniert, der die Schuld am Missmanagement der Krise seinen Gouverneuren und Unterlingen zuschanzt.
Während Johnsons ambivalente Durchhalteparolen und nur halb verbrämten Brexit-Warnungen an die EU gemessen an den faktisch tödlichen Missständen und Lügen Trumps und Bolsonaros fast schon wieder niedlich wirken. Obwohl auch Johnson klares Missmanagement bewies, da er aus rein ideologischen Gründen darauf verzichtete, sich an gebündelten Großeinkäufen von Schutzkleidung und Medikamenten zu beteiligen, die die EU veranstaltete, um in Erwartung einer zweiten Welle des Virus besser gewappnet zu sein, als für die erste, die wir gerade abschwellen sehen.
In einer nicht globalisierten Welt wären Putins Ignoranz und Trumps und Bolsonaros Fakenews vor allem schlagzeilenträchtiges Material für Kolumnen und Artikel auf den Auslandsseiten der Printmedien und würden als Zweiminutenbeiträge in den Newssendungen laufen.
Doch diese vorglobalisierte und nichtvernetzte Welt ist Vergangenheit. Heute hat eine krude Verschwörungstheorie, die ein US-Präsident auf seinem Twitteraccount teilt, weltweit Auswirkungen. Die mögen etwas verzögert eintreten. Aber sie treten ein. Sodass ein von Narzissmus getriebener Koch mit Semipromistatus und ein Mannheimer Popsänger auf dem absteigenden Ast hier in Deutschland ihre Popularität durch Weiterverbreitung und bis ins Groteske gesteigerte Überhöhung von russischen oder amerikanischen Fakenewsstories mühelos Mediensonnenlicht tanken und überall im Lande Menschen zu Demos zu motivieren vermögen.
So abstrus der Mehrheit der Deutschen auch jener Unsinn erscheinen mag, den jener Koch und der Popsänger über ihre Social-Media-Kanäle verbreiten, so sehr füttert er auch eine zutiefst menschliche Lust an der Untergangserzählung. Sowohl die Boulevardmedien wie die Handvoll an Hauptprotagonisten der Verschwörungstheoriewelle, die aktuell übers Land schwappt, sind sich über diesen Mechanismus voll im Klaren und melken ihn nach Herzenslust und bis zum letzten Tropfen aus. Da ist also noch viel mehr zu erwarten in den nächsten Tagen und Wochen.
1963 kam ein Mitarbeiter des New Yorker Bronx-Zoos auf eine verblüffend gute Idee. Er ließ verlauten, dass man dort demnächst das „absolut gefährlichste Tier überhaupt“ zeigen würde. Die New Yorker strömten in Massen herbei, jedoch nur um sich dann im Bronx-Zoo mit einem Spiegel konfrontiert zu sehen, in dem sie sich selbst in die Augen blickten. Ein einziger Satz verwandelte einen schlichten Spiegel in ein hochkomplexes Kunstwerk. Dass dieser Spiegel und der Satz darüber ein Kunstwerk herstellten, bedeutet allerdings ganz und gar nicht, dass jener Satz auch nur einen Jota an Wahrheitsgehalt verloren hätte.
Wer immer damals auf jene Idee kam, hat hoffentlich jede Menge Kunstpreise dafür kassiert. Aber er hat uns Menschen auch gezeigt, was wir wirklich sind und sein können: gefährliche Raubtiere. Und Macht ist eine Droge, die extrem süchtig macht. In manchen Fällen so sehr, dass Menschen es für ihren Machterhalt oder ein paar Minuten im Mediensonnenschein in Kauf nehmen, das Leben und die Gesundheit ihrer Mitbürger zu riskieren.
Haltungsnote: Apocalypse next time – Eine Kolumne über die Corona-Dividende
Haltungsnote: Apocalypse next time – Eine Kolumne über die Corona-Dividende
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