Es war am Abend des 11. Juni 2020. Anlässlich des Feiertages Fronleichnam berichtete das heutejournal über den sich in Deutschland dramatisch vollziehenden Niedergang der Friedhofskultur. Immer weniger Menschen werden auf Friedhöfen beerdigt, immer mehr Menschen suchen alternative Grabstätten – in einem sog. Friedwald oder in Urnenfächern in den Räumlichkeiten eines Bestattungsinstitutes. Die Folge: Friedhöfe verwaisen.
Der Grund für diesen Trend ist vor allem in der rasant fortschreitenden Säkularisierung und der damit verbundenen Kirchenferne vieler Menschen zu finden. Beides zeitigt weitreichende Folgen – auch im Verständnis von Tod und Leben. Friedhöfe zeigen an, dass der Tod zum Leben gehört. Deswegen waren die Friedhöfe mitten in den Städten rings um die Kirchen angesiedelt.
Friedhöfe wurden so auch zum Stadtgedächtnis – ein öffentlicher Ort für die Lebenden, der viel über das Leben und die Geschichte eines Dorfes oder einer Stadt erzählt. Heute wird der Tod zunehmend privatisiert, individualisiert, anonymisiert. Mit dem Tod verschwindet der Mensch nicht nur aus dem Leben, für ihn ist auch kein Platz mehr im öffentlichen Gedächtnis.
Die Zahl der anonymen Bestattungen nimmt zu – damit verschwindet mit dem Sterben auch der Name. Doch der Name eines Menschen ist Ausdruck seiner Identität und Individualität. Er soll nicht in der Masse untergehen. Der Mensch ist im Leben und bleibt im Sterben ein Geschöpf Gottes.
In den Niederlanden ist die aktive Sterbehilfe – dort belegt man diese mit dem in Deutschland sehr belasteten Begriff „Euthanasie“ – per Gesetz erlaubt. Euthanasiekommissionen kontrollieren, dass die für die Sterbehilfe festgelegten Kriterien eingehalten werden. In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ („Tod wider Willen“, Nr. 25 vom 10. Juni 2020, Seite 16) wird von einem Fall aus dem Jahr 2016 berichtet.
Eine Ärztin leistete bei einer 74-jährigen, an Demenz erkrankten Frau – sie lebte in einem Pflegeheim – aktive Sterbehilfe, indem sie diese zunächst in einen Tiefschlaf versetzte und dann das tödliche Mittel spritzte. Die Ärztin berief sich auf die vorliegende Patientenverfügung, in der die 74jährige Frau festgelegt hatte, dass sie Sterbehilfe in Anspruch nehmen wolle, sollte sie dement werden.
Als dieser Zustand eintrat, hat die Frau gegenüber der Ärztin deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie jetzt doch noch nicht sterben wolle. Dennoch verabreichte die Ärztin ihr den Todescocktail. Für die Ärztin wog die Patientenverfügung schwerer als der aktuell zum Ausdruck gebrachte Wille der Frau.
Das höchste Gericht der Niederlande hat nun in einem Urteil das Vorgehen der Ärztin in allen Punkten für rechtens erklärt. Abseits der juristischen Frage, ob eine schriftliche Patientenverfügung durch die betroffene Person einfach widerrufen werden kann und welche Aussagekraft einem solchem Widerruf zugemessen werden kann, zeigt der Fall an, wie weit fortgeschritten in Sachen aktiver Sterbehilfe pure Nützlichkeitserwägungen sind und die viel beschworene Selbstbestimmung in den Hintergrund rückt.
Doch die Selbstbestimmung eines Menschen endet nicht, wenn sein Leben in welcher Form auch immer geistig oder körperlich beschädigt ist. Die Geschöpflichkeit des Menschen, seine Würde bleibt bis zum letzten Atemzug und darüber hinaus eine zu achtende und schützende Wirklichkeit – unabhängig von dem Grad der Pflegebedürftigkeit und der Art der körperlichen und geistigen Einschränkungen.
Seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd steht er obenan auf der gesellschaftspolitischen Agenda: der alltägliche Rassismus, nicht nur in den USA – also die auf meist gewaltsam vollzogene Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen aus der Menschengemeinschaft aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, religiöser Überzeugung.
Schnell wurde in den vergangenen Tagen deutlich, dass der tödliche Polizeiübergriff von Minneapolis ein weltweites Problem offenbart: Wie können Menschen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe, weltanschaulicher Überzeugung in einer Gesellschaft friedlich zusammenleben? Wie können sie, wie können wir dem gerecht werden, dass die Würde des Menschen unteilbar ist?
Doch ist das ist seit Jahrhunderten umstritten: dass jedes Menschenleben den gleichen Wert hat – selbst in den christlichen Kirchen. Dabei müssten sie es besser wissen. Schließlich bewahren sie den großen Schatz des biblischen Glaubens, dass jeder Mensch, auch der, der sein Leben verwirkt, der Rechtfertigung durch die Gnade Gottes teilhaftig werden kann und darum auf Erden keine Benachteiligung wie Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben oder Verdammnis wie die Todesstrafe erfahren darf.
Immer wieder haben sich auch die Kirchen daran beteiligt, dass Menschen vor allem wegen ihrer Hautfarbe oder wegen ihrer Religion als minderwertig betrachtet wurden und der gewaltsamen Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt waren. Damit haben sie die Grundwerte des Glaubens mit Füßen getreten.
Bis heute ist auch im politischen Bereich Rassismus an der Tagesordnung – etwa wenn rechtsnationalistische AfD-Politiker wie Alice Weidel von „Messermigranten“ sprechen oder Alexander Gauland mal eben feststellt, dass „die Leute … einen Boateng nicht als Nachbarn haben (wollen).“
Nun werden sich etliche fragen, wieso ich drei unterschiedliche Themen auf diese Weise zusammenbinde. Aus meiner Sicht zeigen sie an, wie notwendig für die gesellschaftspolitische Debatte um die Grundwerte unseres Zusammenlebens eine Verankerung des Denkens und Handelns im biblischen Menschenbild ist, um die Orientierung nicht zu verlieren, Grundwerte nicht zu schnell Opportunitätserwägungen zu opfern und sie gegenüber völkischen und rassistischen Bewegungen zu verteidigen.
Dieses Menschenbild ist durch drei grundsätzliche Aussagen gekennzeichnet (siehe auch: http://wolff-christian.de/zum-reformationsfest-2015-mein-kleiner-katechismus/):
- Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ein Stück von Gott in des Wortes doppelter Bedeutung: von Gott gemacht und ein Teil Gottes (so ist die Gottebenbildlichkeit des Menschen zu verstehen, vgl. Die Bibel: 1. Mose 1, 27). Er trägt also die Göttlichkeit in sich: „Du hast ihn (den Menschen) wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“ (Die Bibel: Psalm 8,6). Darin liegen die Würde und Achtung des Menschen begründet – unabhängig von seiner Herkunft, seiner körperlichen Beschaffenheit, seines Alters, seiner Überzeugungen. Diese Aussage gilt für jede und jeden, nicht national sondern global.
- Alles Leben ist endlich. Entscheidend ist nicht die zeitliche Länge des Lebens. Entscheidend ist, dass wir die Zeit, die Gott uns schenkt, sinnvoll und verantwortlich gestalten – in der Hoffnung, dass uns die Fülle des Lebens nach dem Tod bevorsteht. Wir haben keinen Anspruch auf Leben wohl aber allen Grund zur Dankbarkeit für das Leben.
- Wir Menschen sind fehlbare Wesen. Obwohl wir Menschen trotz aller guten Vorsätze immer wieder an uns selbst scheitern und wissentlich das Falsche tun, begegnet uns Gott als der, der das Böse in Gutes umdenkt und uns durch die Zusage der Vergebung für das so erneuerte Leben wieder in den Dienst nimmt. In diesem Sinn ist Vergebung die Befreiung des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit.
Wer diesen Grundüberzeugungen folgt, kommt nicht umhin, aller militanter Selbstbehauptung des Menschen gegenüber dem Menschen zu widerstehen, der Gleichberechtigung zu dienen und dem demokratisch gestalteten Zusammenleben den Vorzug zu geben. Was aber wird, wenn immer weniger Menschen sich auf einem solchem Fundament bewegen und sich dafür mit einem atemlosen Turboleben einen Überbau schaffen, in dem kein Platz mehr ist für die Endlichkeit, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Würde eines jeden Menschen?
Gastkommentar von Christian Wolff: Sieben Lehren aus der Coronakrise
Gastkommentar von Christian Wolff: Sieben Lehren aus der Coronakrise
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