LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 80, seit Freitag, 26. Juni im HandelClaudia Rauhut ist nur ein Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Leipzig postkolonial, deshalb will die Ethnologin und Politikwissenschaftlerin gar nicht im Vordergrund stehen. Sie vertritt die Meinung der Gruppe, wenn sie mit der Leipziger Zeitung spricht. Die Meinung zum Umgang mit den kolonialen Spuren in Leipzig ist unbequem. Das Thema steht nicht auf der Agenda der Stadtpolitik und der Akteure.
Der Zoo Leipzig müsste beispielsweise über seine koloniale Vergangenheit aufklären. Vor nicht mal 100 Jahren wurden dort Menschen anderer Kulturen zur Schau gestellt, ohne Handlungsmöglichkeit. Auch im Clara-Zektin-Park hat sich vergessene Leipziger Kolonialgeschichte abgespielt. Die AG postkolonial will das Bewusstsein daran am Leben erhalten, die bis in die Gegenwart reichenden Spuren kritisch aufarbeiten und sich in aktuelle Debatten einmischen.
Für die ehrenamtliche Gruppe gibt es derzeit viel zu tun: Restitutionsdebatte, Reparationszahlungen an Herero und Nama, Erinnerungskultur. Und das sind nur drei Themenfelder. Ein Gespräch.
Frau Rauhut, warum braucht es eine Arbeitsgemeinschaft postkolonial in Leipzig?
Vor zehn Jahren haben Dozierende und Studierende in einem Uni-Seminar über das Thema Kolonialismus in Leipzig debattiert. Sie stellten fest: Innerhalb der Diskurslandschaft in Leipzig, im öffentlichen Raum und in den Medien ist das Thema Kolonialismus in Leipzig unterrepräsentiert. Sie gründeten diese AG. Der Doktorand der Afrikanistik ist längst nicht mehr in der Stadt, aber die Studierenden haben ihr Wirken im Uni-Kontext weitergeführt und es ist bis heute erhalten geblieben.
Die heutigen Aktiven waren damals noch nicht dabei. Wir sind eine Gruppe von überwiegend Akademikern aus den Bereichen Ethnologie, Geschichte, Kulturwissenschaften oder Afrikanistik. Einige studieren noch, andere schreiben ihre Doktorarbeit oder sind Postdocs, andere arbeiten in der Bildungspolitik oder sind selbstständig.
Arbeitskreise und -gemeinschaften sind schnell gegründet. Nicht alle sind wirkungsvoll. Was machen Sie in dieser AG genau?
Wir versuchen die erinnerungspolitische Leerstelle beim Thema Kolonialismus in Leipzig durch verschiedene Aktionen sichtbar zu machen. Wir bieten postkoloniale Stadtrundgänge für Schulklassen, Freiwilligenorganisationen, Studierende, Gewerkschaften, Parteien, Kirchgemeinden oder Verbände an, in denen wir Erinnerungsorte im Zusammenhang mit dem Kolonialismus in Leipzig, unter anderem den Zoo, das Grassi-Museum, das Institut für Ethnologie oder das Café Riquet besuchen.
Die Stadtrundgänge kann man über unsere Homepage anfragen, wir werden für öffentliche Veranstaltungen als Referenten angefragt. Übrigens: Im Gegensatz zur BRD hat es in Leipzig schon in der DDR eine Auseinandersetzung mit Kolonialismus gegeben, allein aufgrund des antikolonialen und antiimperialistischen staatspolitischen Verständnisses der DDR.
Wir besuchen in diesem Zusammenhang das Lumumba-Denkmal und die Lumumba-Straße, um zu zeigen, dass die DDR-Erinnerungskultur, wenngleich sie auch nicht unproblematisch war, zumindest keine Glorifizierung von Akteuren des Kolonialismus vorgenommen hat. Ein großes Themenfeld ist zudem die Umbenennung von Straßennamen. Das ist in allen bundesdeutschen Städten so. In Städten in der ehemaligen BRD ist das noch ein dringlicheres Anliegen während in der DDR diese relativ schnell nach der Gründung umbenannt worden sind.
Patrice Lumumba hat ja im Unabhängigkeitskampf Kongos gekämpft, war der erste demokratisch gewählte Präsident und gilt als einer der Vorreiter der Dekolonisierung Afrikas. Er wurde 1961 umgebracht und kurz danach gab es in Leipzig schon ein Denkmal. Trotzdem tragen auch in Leipzig einige Straßen die Namen von Kolonialakteuren – die Umbenennung von Straßennamen wird derzeit auch im Leipziger Stadtrat diskutiert.
Bei den aktuellen Diskussionen über Postkolonialismus geht es auch um Restitution und Wiedergutmachung. Ist das auch ein Thema der AG?
Ja, wir sind da z. B. in Zusammenarbeit mit dem Grassi-Museum für Völkerkunde. Die Restitutions-Frage besteht darin zu klären, wie diejenigen Objekte, die in der Kolonialzeit geraubt worden und in oftmals ungeklärten Umständen in sächsische Institutionen gelangt sind, in die Herkunftsgesellschaft zurückgebracht werden.
Es geht aber auch um menschliche Überreste und deren Rückgabe. Im letzten Jahr wurde beispielsweise durch das Grassi-Museum eine bestimmte Anzahl von Schädeln und Skeletten an Australien und zuvor Hawai zurückgegeben und das haben wir durch verschiedene Vorträge begleitet. Wir machen auch auf Anfrage themenspezifische Workshops für unterschiedliche Zielgruppen.
Wir haben Radiofeatures gemacht, eigene Veranstaltungsreihen und Publikationen. Unter anderem haben wir im Ostpassage-Theater eine Podiumsdiskussion zur Frage der Reparationszahlungen Deutschlands an die Herero und Nama durchgeführt.
Wir hatten die Aktivstinnen Esther Muinjangue und Sima Luipert aus Namibia zu Gast, die seit Jahren darum kämpfen, dass die Bundesregierung anerkennt, dass es sich bei dem Krieg gegen die Herero und Nama zwischen 1904-1908 in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwest Afrika um einen Völkermord handelte und Deutschland heute für dieses Verbrechen Wiedergutmachung leisten muss.
Sie sagten, es arbeiten viele Akademiker in der AG mit. Wie ist der Kontakt zur Universität Leipzig, in der es doch auch genug Aufarbeitungspotenziale gibt?
Innerhalb der Uni gibt es einige Professoren und Dozenten, die unser Anliegen unterstützen. Gegenwärtig haben wir gute Beziehungen zum ethnologischen Institut, zum Historischen Seminar, zum Institut für Afrikanistik. Die Institute arbeiten ja teilweise selbst ihre Verstrickungen im Kolonialismus auf. Einige Ethnographen und Geographen im 19. Jahrhundert waren aktiv in die Erschließung der deutschen Kolonien involviert. Sie haben dadurch teilweise den Weg geebnet.
Wo finden sich Spuren des Kolonialismus in Leipzig?
Ein prominentes Beispiel dafür ist der Zoo Leipzig. Was viele nicht wissen und was in der Selbstdarstellung des Zoos keine Rolle spielt, ist seine Entstehungsgeschichte, die in die Kolonialzeit fiel. 1876 hat Direktor Ernst Pinkert eine sogenannte Völkerwiese und Völkerbühne errichten lassen, um Menschen aus außereuropäischen Regionen als „primitive Völker“ auszustellen. In Freiburg, Köln, Berlin oder Frankfurt gab es das auch. Bekannt ist vor allem Hamburg mit Carl Hagenbeck, der als erster in Deutschland diese Völkerschauen organisierte.
Im 19. Jahrhundert konnten Afrikaner unmöglich zufällig in Leipzig sein. Wie muss man sich die Organisation vorstellen?
Das muss man sich so vorstellen, dass da in der Tat die Kolonialbeamten und Kaufleute zu diesem Zweck in die Kolonien gereist sind, teilweise mit Auftrag des Zoos, um Menschen anzuwerben, die hier unter fragwürdigen Bedingungen regelrecht ausgestellt worden sind. Ihnen wurde versprochen, dass sie hier Geld verdienen oder Jobs bekommen.
Aus deutschen Kolonien in China, Samoa oder Afrika aber auch aus Gebieten, die nicht direkt unter deutscher Kolonialherrschaft standen, kamen dadurch Menschen hierher. Diese Völkerschauen sollten ein vermeintlich traditionelles Leben aus dem Herkunftsgebiet darstellen. Das ging mit einem hohen Maß an Exotisierung und Objektivierung einher.
Die Menschen wurden nicht als Menschen, sondern als „Kuriositäten“, als Spektakel, gesehen. Sie wurden neben Tieren ausgestellt, dadurch sollten Analogien zu Wildheit, Natur und Unzivilisiertheit hergestellt werden, um diese wiederum im Gegensatz zur europäischen Kultur darzustellen: Natur im Gegensatz zu Kultur, Unzivilisiertheit zu Zivilisiertheit, Tradition zu Moderne etc.
Diese Dichotomien, diese Gegensätze, die damals geprägt worden sind, sind ja bis heute nicht aus den Vorstellungswelten verschwunden. Man findet das bis heute z. B. im Entwicklungshilfediskurs oder in Reportagen über ferne Reisegebiete.
Dazu gab es in Leipzig eine riesige Kolonialausstellung, die zweitgrößte im Kaiserreich. Im heutigen Clara-Zetkin-Park wurde von 1893 bis 1897 die Sächsisch-Thüringische Gewerbeausstellung veranstaltet. Ein Teil davon war die Deutsch-Ostafrikanische Ausstellung 1897.
Die Bedingungen, unter denen die Menschen dort Dinge vorführen mussten, waren entmenschlichend und entwürdigend. Es war viel Gewalt und Zwang im Spiel. Auf dem Südfriedhof liegt eine Person aus Afrika, die damals unter diesen Umständen gestorben ist. Es war ein großes Ereignis, das sehr viel Publikum angezogen hat und den wirtschaftlichen Interessen des Reiches dienen sollte.
Wie meinen Sie das?
Durch diese Schau wurde für die Idee und Praxis des Kolonialismus geworben: „Schaut mal, so sehen Menschen aus Afrika aus.“ Es sollten gezielt Investoren und Spender angeworben werden, die in koloniale Expansionsbestrebungen investieren sollten: Händler, Unternehmer, Wissenschaftler. Es war sehr kostspielig, diese Ausstellung auf die Beine zu stellen. Die Presse berichtete fast täglich und zwar in der Regel aufreißerisch mit rassistischen Stereotypen, um die Neugierde der Leipziger am „Fremden“ und „Exotischen“ zu wecken.
Die Ausstellung haben in den Sommermonaten 1897 650.000 Zuschauer besucht. Das ist die heutige Einwohnerzahl von Leipzig. Diese Bilder, die dort vermittelt wurden, durch die Art und Weise wie die Menschen dargestellt wurden, die keine Handlungsmacht darüber hatten, sind im hohen Maße rassistisch.
Solange man nicht darüber spricht und diese Ereignisse nicht aufgearbeitet werden, können rassistische Vorstellungen und Praktiken nicht überwunden werden.
Welchen Zeugnissen haben Sie Informationen zu der Schau entnehmen können? Die Teilnehmer haben kein Tagebuch geschrieben. Zumindest ist keins überliefert.
Wir haben unser Wissen aus der zeitgenössischen Presse und aus wenigen wissenschaftlichen Aufsätzen. Leider haben wir bis dato keine Tagebücher oder Postkarten, die das Geschehen dokumentieren. Das suchen wir noch, etwa aus privaten Familienarchiven – hier wären wir dankbar für Hinweise.
Eine weitere Spur wäre das Grassi-Museum für Völkerkunde. Das hat eine zentrale Rolle in der Kolonialzeit gespielt, denn viele seiner „ethnographischen Objekte“ sind nicht zufällig in dieser Zeit nach Leipzig gekommen. Die Erwerbsumstände sind oftmals ungeklärt. Der damalige Direktor Karl Weule hat selbst eine große Sammlung aus Deutsch-Ostafrika mitgebracht. Mit dem Museum pflegen wir gute Kontakte, Aufarbeitung ist auch dort ein Anliegen, es gab einige Sonderausstellungen zu Themen des Kolonialismus.
Nicht zu vergessen ist das Riquet-Haus. Es symbolisiert auf der Bilder-Ebene die damals geprägten rassistischen Vorstellungen, aber auch die ungleichen Handelsbeziehungen, beispielsweise durch die Ausbeutung von Konsumgütern wie Kaffee und Schokolade und der Menschen, die diese produzierten.
Die Handels- und Wirtschaftsstrukturen, die damals geschaffen worden sind, machen die Welt heute immer noch ungleich. Das Gebäude ist eine Mischung aus Jugendstil und außereuropäischen Elementen, die auch hier eine gewisse Exotik zeigen, etwa durch die Elefantenköpfe. Im Innendekor finden sich auch rassistische Darstellungen, etwa von Nicht-Weißen-Menschen als Dienern, die häufig über die Figur des „Mohren“ (M.) dargestellt werden.
In einem Beitrag für Radio blau heißt es von AG-Mitgliedern: „Wir möchten dazu anregen, einige Leerstellen in der Stadtgeschichte zu schließen.“ Wie könnte das aussehen?
Einerseits ist uns die Art und Weise, wie man mit solchen Erinnerungsorten umgeht, wichtig: Beispielsweise wäre es toll, wenn im Zoo eine Gedenktafel angebracht werden würde, was hier bis in die 1930er Jahre stattgefunden hat und natürlich auch im Clara-Zektin-Park und vielen anderen Orten.
Warum passiert das nicht?
Unsere Vorgänger haben bereits Protestbriefe an den Zoo geschrieben. Es gab aber keine Resonanz. Wir sind jetzt dabei, dies zu erneuern und Akteure der Stadt und Unternehmen für ihre koloniale Vergangenheit zu sensibilisieren. Das braucht viel Zeit und Vorbereitung und wir arbeiten ehrenamtlich. Aber auf jeden Fall ist das auf unserer Agenda.
Die Reflexion, die wir betreiben, braucht eine Umsetzung. So eine Gedenktafel anzubringen bedeutet, man braucht viele Kooperationspartner, um sich mit diesen Forderungen Gehör zu verschaffen. Gerade verwenden wir viel Zeit darauf, unsere Materialien und unsere Website zu überarbeiten. In den letzten zehn Jahren ist viel passiert. Das muss sich widerspiegeln.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den aktuellen Entwicklungen und der Nichtaufarbeitung des Kolonialismus?
Ja. Das kann ich ganz eindeutig so beantworten. Wenn wir uns nicht mit unserer Kolonialvergangenheit und mit allen wirkmächtigen Strukturen und Mechanismen beschäftigen, können wir das Problem des Rassismus nicht bekämpfen. Je besser wir die Vergangenheit kennen, desto gewappneter sind wir, für eine rassismusfreie Gesellschaft zu kämpfen.
Rassismus spiegelt dominante Machtverhältnisse wider. Er geht bis heute von einer gewissen Überlegenheit im Zusammenhang mit Weiß-sein aus, die damals manifestiert wurde. Das Privileg, Weiß zu sein, spielt noch immer eine große Rolle, nicht zuletzt in der Frage der Repräsentation. Wie viele nicht-Weiße Chefs von Krankenhäusern, Museen, Schulen, Direktoren, Unternehmer gibt es?
Abgesehen davon hat Aufarbeitung auch immer einen gewissen heilenden Aspekt. Nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Menschen, die Nachfolger der Kolonialverbrecher sind und bis heute von Machtstrukturen profitieren, die eben in der Kolonialzeit etabliert wurden. Das alles müssen wir kritisch hinterfragen.
Auch Black Lives Matter ist ja längst nicht mehr nur ein Anliegen der Schwarzen Deutschen oder Nicht-Weißen – Rassismus und Ungleichheit muss die gesamte Gesellschaft etwas angehen.
Kolonialismus in Leipzig ist kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. Es gibt Bezüge zu heute. Das ist etwas, was uns wichtig ist, zu zeigen. Die koloniale Idee lebte lange weiter, auch nach dem formellen Ende der Herrschaft über die deutschen und europäischen Kolonien.
Projekte für die nächste Zeit haben wir genug, wir sind 10 bis 15 Leute insgesamt, je nach Zeit mal mehr, mal weniger aktiv. Wir freuen uns über jede Form der Unterstützung und Mitwirkung.
Über die Website www.leipzig-postkolonial.de kann man uns kontaktieren.
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