Wer in den vergangenen Stunden bei seinem Weg zur Arbeit oder in eines der wieder geรถffneten Innenstadt-Geschรคfte den nordwestlichen Teil des Augustusplatzes kreuzte und etwas aufmerksam statt des Smartphones die Umgebung sah, konnte eine lange Reihe bunter Striche finden. Relativ regensicher unter der รberdachung auf der Opernseite des Platzes, wie eine Zรคhlung aufgereiht. Ohne groรes (Corona)-Getรถse hatten am Sonntag, 3. Mai 2020 ein paar Menschen damit der 70.000 Euthanasie-Opfer der Aktion โT 4โ des NS-Regimes in Leipzig gedacht. Unweit des โDemokratie-Eiยดsโ, fรผr jedes Opfer ein Strich, gegen die Ideologie der Ungleichwertigkeit von Menschen.
Es war eine der seit der Coronakrise populรคr gewordenen leiseren Aktionen statt lautstarker Demonstrationen, die die Linksjugend am Sonntag ab 15:30 Uhr begann. Im Statement zur Aktion heiรt es unter anderem, man wolle so erinnern, an โdie Schrecken der mindestens 216.000 Euthanasiemorde unter der Naziherrschaft. Wir wollen uns vor Augen fรผhren, dass bei der โT4 Tรถtungswelleโ ab 1940 รผber 70.000 Menschen in wenigen Monaten, oft durch Gas, umgekommen sind. Aber auch mahnen, dass diese Welle gestoppt wurde, da genug mutige Menschen sich beschwerten und aufbegehrten.โGanze 70.000 Striche wurden es am Ende wohl nicht, doch genรผgend, um an ein Verbrechen zu erinnern, welchem die Nachwelt den Namen โAktion T4โ nach der Adresse Tiergartenstraรe 4, Berlin Mitte gab. Von einer damaligen Villa leitete das NS-Regime ab 1940 die systematische Tรถtung von รผber 70.000 behinderten Menschen in ganz Deutschland ein, erst offen, nach Protest aus der โ anders als bei so manchem Abtransport jรผdischer Familien nun auch selbst betroffenen โ โdeutschenโ Familien dann heimlicher.
Und pervertierte dabei zynisch den Begriff der Euthanasie vom antiken passiven โwรผrdevollen, schmerzlosen Todโ in einen im NS-Jargon, aktiven vollfรผhrten โGnadenaktโ mittels Vergasung oder Giftspritze an anderen Menschen. Die Namen der Tatorte in und um Leipzig lauteten unter anderem Altscherbitz, Leipzig-Dรถsen, Pirna-Sonnenstein und Bernburg.
Systematische Vorbereitungen via Gesetz
Die Linien dafรผr hatte das NS-Regime schon 1933 gelegt, mit dem โGesetz zur Verhรผtung erbkranken Nachwuchsesโ vom 14. Juli 1933 begann der Weg รผber anfรคngliche Zwangssterilisationen von 400.000 Menschen (bei geschรคtzt 6.000 Toten), รผber die Gesetze โZum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehreโ vom 15. September 1935 sowie dem โEhegesundheitsgesetzโ vom 18. Oktober 1935 hin zu den ersten Tรถtungswellen 1939 beim รberfall auf Polen in dortigen Heilanstalten.
Hier traf es wie auch in Deutschland vor allem Kinder, spรคter setzte sich das Morden in den Konzentrationslagern oder durch รberdosierungen oder Nahrungsentzug in den โNervenheilanstaltenโ bis zum Kriegsende nahtlos fort.
Dabei glaubte man sich, wie auch bei der begleitenden โRassenlehreโ auf wissenschaftlichem Boden, scheinbar vorbereitet durch die Aufklรคrung und den Ableitungen der darwinschen Auslese. Doch erst die Nationalsozialisten machten aus den vorangegangenen Debatten um eine Begleitung im Sterben oder die Mรถglichkeiten der Schmerzlinderungen aus der Euthanasiefrage eine Lehre der Eugenik, der deutschen โErbgesundheitโ samt Ermordung von mindestens 300.000 Menschen.
Reichen die Linien bis zur Verwertungslogik von heute?
Immer ging es dabei um die โVernichtung lebensunwerten Lebensโ, in Kategorisierungen, denen nicht grundlos heute ein grundgesetzlich verbriefter โMinderheitenschutzโ entgegensteht. Wie nรถtig dieser auch in der heutigen Verwertungslogik menschlicher Existenz ist, zeigt sich in der zweiten, fast noch durchgreifenderen, materialistischen โBegrรผndungโ der Tรคter bis 1945, bei behinderten Menschen handele es sich um โunnรผtze Esserโ, ja โSchรคdlinge am deutschen Volkโ.
Denn was bei den Nazis in eine geplante und systematische Ermordung von โErb- und Geisteskranken, Behinderten und sozial oder rassisch Unerwรผnschtenโ mรผndete, hatte Vorlรคufer und lange Linien bereits in den 20er und 30er Jahren verstรคrkt auch in den USA aufkommenden Eugenik. Also jene Debatte der Ungleichwertigkeit von Menschen, gipfelnd in der Frage, wer leben und wer sterben oder weggesperrt werden sollte. Bereits da wurden die inhumanen Tรถtungsideen meist mit รถkonomischen โGrรผndenโ untersetzt.
Was den zweiten Grund der Aktion der Leipziger Linksjugend andeutet. Mit den Kreidestrichen wolle man โein Zeichen setzten, gegen die entmรผndigenden Maรnahmen der Zwangspsychiatrie, die in direkter Nachfolge zu dieser Nazi-Ideologie stehenโ. Wie dies gemeint ist, haben wir zwei Beteiligte der Aktion, Angela Fuchs und Natalie Prautsch gefragt (siehe Audio).
Das Gesprรคch mit den Initiatorinnen der Aktion (Audio)
Audio-Player
Weitere Informationen unter
Was heiรt eigentlich Euthanasie? Auf Gedenkort T4 im Netz.
Eine Seite zum Gedenken an die NS-Euthanasie
Einige einfรผhrende Begriffe zur Eugenik auf Wiki
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