Es sind Zahlen, die seit Wochen unsere Tage bestimmen: Infektionszahlen, Reproduktionszahlen, Todeszahlen – alles wird gemessen, akkumuliert und in eine Grafik gepackt. Während früher die Schuttschlepper des Tatsachentums in kafkaesken Amtsstuben hockten und ihre Datens(ch)ätze in abschließbaren Archivschränken horteten, können wir den Statistiken jetzt live beim Entstehen zuschauen. Leben in Echtzeit und Sterben erst recht. Wenn die einen eingehen, beginnt bei den anderen der Balken im Schaubild zu wachsen.
Und immer, wenn man an der Gegenwart stumpf zu werden droht, kommt die Geschichte daher und hebt ihren dreckigen Zeigefinger. Das ist in Deutschland nicht anders als in den USA. Beispiel gefällig? Na schön. Seit Dienstag dieser Woche gibt es in den USA mehr als 1 Million Corona-Infizierte. Und auch die Zahl der Toten hat am Dienstag eine historische Marke geknackt, denn an diesem Tag ist sie auf 58.365 gestiegen. Damit gibt es in den USA jetzt mehr Corona-Tote als amerikanische Kriegstote in Vietnam, denn deren Zahl beträgt offiziell 58.318.
In den vergangenen Tagen sind diese Zahlen von zahlreichen Medien zitiert worden. Und später werden Historiker kommen und sie in ihren Büchern einschreiben. Nationale Meilensteine einer weltweiten Pandemie. Richtwerte von Gerichteten.
Andere Zahlen werden dagegen in Vergessenheit geraten – und wiederum andere werden überhaupt nirgendwo auftauchen, denn sie haben keine Verbindung zum Virus. So wie diese hier: 100.165 Billiarden und 101.038 Billiarden.
Die erste Zahl (100.165 Billiarden) beschreibt die Menge an Energie, die 2019 in den USA verbraucht worden ist, gemessen in British term units. (Nebenbei bemerkt: British term units sind eine alte imperiale Maßeinheit, die in den 1880er Jahren in Großbritannien entstand und seit 1897 in der englischsprachigen Welt anerkannt ist, aber nicht zum internationalen Einheitssystem gehört. 1 Btu entspricht in etwa der Menge an Energie, die beim Abbrennen eines Streichholzes freigesetzt wird.)
Die zweite Zahl (101.038 Billiarden) beschreibt die Menge an Energie, die 2019 in den USA produziert worden ist. Vergleicht man die beiden Zahlen, fällt auf, dass die produzierte Menge größer ist als die verbrauchte. Es ist das erste Mal seit 1957, dass das in der USA der Fall ist. Allerdings basiert dieser „Energieüberschuss“ nicht – wie gemeinhin angenommen und vielfach auch behauptet wird – auf einem starken Anstieg der erneuerbaren Energien, sondern auf einer massiven Steigerung der Energieproduktion im fossilen Sektor.
Seit Donald Trump im Amt ist, haben Öl, Kohle und Gas in den USA jedes Jahr mehr Energie produziert. Waren es 2017 noch 68.437 Billiarden Btu, so ist die Menge im Jahr 2018 auf 75.670 Billiarden Btu angewachsen und hat 2019 sogar 80.938 Billiarden Btu erreicht. Verglichen mit dem letzten Jahr unter der Obama-Regierung, wo die Fossilen 65.420 Billiarden Btu produziert haben, ist das ein Anstieg um fast 24 %. Bei den Erneuerbaren war er im gleichen Zeitraum mit knapp 12 % gerade mal halb so groß.
Aber das alles ist gerade kein Thema, weder in den großen Medienhäusern noch in den kleinen Menschengehirnen. Nicht nur, weil die Coronazahlen seit Wochen in den Medien alles überlagern, sondern auch, weil viele Menschen bereits das Ende der fossilen Energieträger beschwören und dabei auf die im Zuge der Coronakrise gesunkenen Emissionswerte verweisen.
Jetzt, wo sich der Smog verzogen hat und die Skylines der Städte wieder sichtbar werden, muss die Zukunft doch rosig aussehen. Und wenn dann auch noch die Internationale Energieagentur fürs Jahr 2020 einen historischen Rückgang der weltweiten Kohlendioxid-Emissionen um 8 % prognostiziert, den globalen Energieverbrauch um 6 % fallen sieht und der Direktor der Energieagentur erklärt, dass die Nachfrage nach Öl, Kohle und Gas geradezu eingebrochen ist und einzig und allein die erneuerbaren Energien dieses Jahr wachsen werden, ja, dann bekommt die Pandemie fast schon den Anstrich einer grünen Vision.
Aber wenn man dann mal genauer hinschaut und liest, was da tatsächlich steht, dann sieht man, dass die Internationale Energieagentur die Wachstumsraten für die Erneuerbaren im Zuge der Coronakrise nicht nach oben, sondern nach unten korrigiert hat.
Mit anderen Worten: Geradewegs ins Glück läuft die Geschichte nicht. Das hat sie noch nie getan. Und damit fängt sie auch jetzt nicht an. Gut möglich, dass die klare Sicht in den Städten dem ökologischen (Wunsch-)Denken den Blick auf die Realitäten verstellt. Corona ist keine Blaupause fürs kommende Grün. Wer glaubt, dass die Messen bereits gesungen sind und die Erneuerbaren in Zukunft den Inhalt des Gesangbuchs bestimmen, irrt sich gewaltig.
Zwischen Sollen und Sein liegt noch immer das Ist – und das wird in den USA trotz Corona noch immer von Öl, Gas und Kohle am Brennen gehalten. Und von der Trump-Regierung, die angesichts von Corona Milliarden in die Ölindustrie pumpt. Das Geld ist als Investition in die Zukunft gedacht, darf aber auch zum Begleichen von Altschulden benutzt werden, die sich schon vor der Krise aufgetürmt haben. Es wird, so scheint’s, alles auf Anfang gesetzt. Und bei den Fossilen dazu noch auf Sieg.
Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.
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