LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 78, seit 24. April im HandelNeulich hatte ich einen Traum. Darin begegnete mir eine seltsame Art von grauen Herren. Keiner von ihnen war unter 50 und sie alle ähnelten sich auf eine gespenstische Weise. Was mir in dem Traum auch begegnete, waren Covid-19, der Lockdown und eine Welt, die gleichermaßen abgefuckt war wie die reale. Sie war offenbar sogar auf exakt dieselbe Weise abgefuckt worden.
Die grauen Herren in meinem Traum waren nervös. Das Volk drohte sich von ihnen abzuwenden. Die Pandemie hatte auch bei den grauen Herren tiefe Kerben ins Kontor geschlagen. Ihr treuer Onkel Olaf von der Regierung reagierte jedoch prompt, öffnete das Staatssparsäckel und schenkte daraus großzügig an die grauen Herren aus. Auch in meinem Traum lebte man in einer Demokratie. Deshalb musste von Onkel Olafs Geldsegen auch etwas für die kleineren Leute abfallen. Trotzdem blieb reichlich für die grauen Herren und deren Dividendenritter übrig.
Außerdem brauchte man die kleinen Leute ja auch wieder, sobald das Wirtschaftsrad sich wieder schneller drehte. Da war es nur nützlich, dass den kleinen Leuten auch ein paar Almosen aus des Onkel Sparsäckel zukamen.
Aber dann das!
Einige übereifrige Vertreter der Politikerkaste griffen ins falsche Rhetorikfach. Sie verwendeten Kriegsmetaphern und klopften Durchhalteparolen, sprachen von Opfern, die alle gemeinsam zu bringen hätten, und vom Kampf gegen und dem Sieg über den Feind. Aber – erschraken die grauen Herren – wer von Opferbereitschaft sprach, die „Gemeinschaft“ beschwor, zu „Datenspenden“ aufrief und über „Krieg“, „Sieg“ und „Kampf“ predigte, der gab damit zwischen den Zeilen auch ein Versprechen ans Volk ab.
Nämlich, dass all die Opfer, die die Pandemie dem Land aufzwang, nicht Selbstzweck seien, sondern zu Veränderungen des Status Quo führen würden. Der böse Begriff von der Corona-Dividende machte die Runde.
Verdammte Hacke, dachten sich die grauen Herren in ihren Vorstandsetagen, so hatten wir nicht gewettet! Flugs beraumte man Telkos mit Politikern und Medieninfluencern an, um vor übertriebenen Erwartungen an die Nach-Pandemie-Ära zu warnen. Die Freunde der grauen Herren tippten Kommentare und Kolumnen und gaben Studien heraus, die der Nation das Mantra der grauen Herren erneut in die temporär verwirrten Hirne pumpten: „Der Markt wird’s schon richten! Denn der Markt ist alles, was zählt! Ist die Wirtschaft gesund, freut sich der Mensch!“
Man musste dem zuweilen sturen Stimmvieh möglichst früh jegliche Hoffnung auf tiefergreifende Reformen austreiben, die es sozusagen als Belohnung für die breite Opferbereitschaft in Zeiten der Pandemie hegen mochte.
Die Operation war erfolgreich.
Die linksgestrickten natürlichen Feinde der grauen Herrn hatten außer einer schwammigen Verheißung auf ein bedingungsloses Grundeinkommen gerade keine griffige Utopie anzubieten, hinter der sich das Wahlvolk hätte sammeln können. Aber – gaben einige graue Herren zu bedenken – so weit ging die Pandemieverlotterung schon, dass Linke in all ihren von pink bis dunkelrot schillernden Facetten wieder ziemlich medienpräsent waren.
Hinzu kam, dass sich die rechtsradikale Brüllfraktion, die die Linken in den letzten Jahren so verlässlich übertönte, untypisch still verhielt.
Nun ja, vielleicht bedenklich, aber auch nicht gefährlich, fanden einige andere unter den grauen Herren. Ein bisschen rötlicher Sand im Getriebe, das war nur gut fürs Image des liberalen, freiheitlichen Staatswesens. Sollte einer dieser Rotsocken nur mal „Sozialismus“ zu laut sagen! Dann würde er schon sehen, wie weit er damit käme, dachten die grauen Herren und lächelten in sich hinein, weil sie sich einige Monate zurückerinnerten. Als ein angeblich linker Jungpolitiker öffentlich von „Sozialismus“ sprach, ohne das ironisch zu meinen, und dafür einen bösen Shitstorm erntete.
Die Ruhe der grauen Herren erwies sich als trügerisch. Denn einer der Gefährten des Jungpolitikers ergatterte einen Medienauftritt und nutzte den, um genau jene Ideen zu äußern und Fragen zu stellen, vor denen die grauen Herren sich am meisten fürchteten. Er fragte nämlich, wer für die Geschenke, die Onkel Olaf den grauen Herren machte, zahlen solle. Denn – so meinte er – seine Generation würde es nicht tun. Die musste nämlich bereits die Welt vor dem Klimawandel retten, den die grauen Herren zu verantworten hatten.
Und überdies für vorangegangene Geschenke an die grauen Herren aufkommen, die Onkel Olafs Vorgänger verteilt hatte, um sie aus einer Klemme zu befreien, die sie selbst verursacht hatten. Die jüngere Generation hatte auch während der Pandemie für die Älteren eingestanden, war brav zu Hause geblieben während des Lockdowns, hatte dabei hunderttausende Jobs und Einkommen verloren oder riskierte beim Dienst in den Krankenhäusern ihr Leben.
Dafür – fand der Jungpolitiker – musste sich gefälligst endlich grundlegend etwas ändern im Land. So schlug er vor, dass man zur Begleichung von Onkel Olafs Rechnung sämtliche Aktientransaktionen über einem Wert von einer Viertelmillion Euro angemessen besteuerte. Außerdem schlug er vor, einige tausend zusätzliche Steuerfahnder einzustellen, die die Bilanzen, Konten und Schließfächer der grauen Herren auf steuerliche Unregelmäßigkeiten durchkämmen sollten.
Überdies sollte man im Kabinett endlich die längst versprochene Reform der Erbschaftssteuer beschließen und dabei auch die Vermögensteile der grauen Herren berücksichtigen, die Onkel Olaf und dessen Freunde bisher als unantastbar betrachteten.
Die grauen Herren amüsierten sich über den Jungpolitiker. Wie herrlich naiv der war. Erfrischend! Weiter dachten die grauen Herren nicht über ihn nach. Sie waren zu beschäftigt, viel Geld mit dem Verkauf von Daten zu machen, die das Volk über eine App ansammelte, welche Onkel Olafs Kabinett ihm als Wundermittel zur Eindämmung der Pandemie aufgeschwatzt hatte.
Doch die grauen Herren wurden unruhig, weil sich jenes Volk, das für sie nie mehr war als nützliche Arbeitskräfte und Stimmvieh, plötzlich die Forderungen des charismatischen Jungpolitikers zu eigen machte und in Petitionen, Artikeln, Aufrufen und hunderttausendfachen E-Mails und Anrufen bei Onkel Olafs Politikerkollegen deutlich machte, dass es sich dieses Mal nicht noch einmal von den grauen Herren hinters Licht führen lassen würde.
Gerade als die grauen Männer in ihren Vorstandsbüros die größte Telko seit Menschengedenken organisierten, um die Flut jener unbotmäßigen Forderungen einzudämmen … klingelte mein Wecker.
Ich lag einige Zeit wach und fragte mich, was Traum und was Realität war. Dann öffnete ich mein Handy und klickte eine Kolumne von Wirtschaftsredakteur Patrick Bernau in der FAZ an: „Dass Arbeit dem Verwertungsdruck unterliegt, ist ein sehr nützliches Prinzip der Marktwirtschaft. Geld verdient man nur dann, wenn man etwas für andere tut – und zwar nicht irgendetwas, sondern eine Tätigkeit, die den anderen auch etwas wert ist. So wird der Egoismus fürs Gemeinwohl nutzbar gemacht […] es gibt zu viele Modedesigner und Künstler, die mit dem bedingungslosen Grundeinkommen mehr Freiheit für unprofitable Projekte gewinnen möchten. Sie sollten sich ernsthaft eine Frage stellen: ob wirklich die Mitmenschen ihre Selbstverwirklichung finanzieren sollen.“
Plötzlich konnte ich zwischen Traum und Realität unterscheiden. Eine solch dummdreiste Abkanzelung von Ideen, die Millionen Menschen in diesem Land unterstützten, hätten sich nicht einmal die zynischen grauen Männer in meinem Traum gewagt.
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 78: Wie Corona auch das Leben der Leipziger verändert hat
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