Nun brodelt es mal wieder, wird in Kommentarspalten und Foren über den übergriffigen Staat diskutiert, die Einkassierung von Grundrechten, wird Big Brother heraufbeschworen und mal wieder eine Verschwörung ausgemalt, mit der die „da oben“ die Bürger da unten mit geheimen Absprachen entmündigen wollen oder sie gar einem riesigen, weltweiten Experiment unterwerfen. Und wenn man dann diese Rauner und Beschwörer gar noch in ihren ach so alternativen Medien sieht, wird es ganz und gar muffig. Über Freiheit haben diese Leute allesamt noch nie wirklich nachgedacht.

Freiheit ist ein süffiges Wort. Seit über 200 Jahren berauschen sich Leute daran, die nichts anderes aus diesem Wort heraushören, als jetzt alles tun zu dürfen, von niemandem mehr bevormundet zu werden. Freiheit ist für diese Leute ein Absolutum. Das Recht, sich durch kein Gesetz und keine Vorschrift einschränken lassen zu wollen. Am Küchentisch drehen sie nun ihre ganzen rebellischen Videos gegen den ach so mutwillig agierenden Staat.

Und die ganz renitenten vergreifen sich ja mittlerweile auch wieder an Rosa Luxemburgs – meist radikal verkürztem – Satz: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“

Weil sie denken, dass sie anders denken. Tun sie aber nicht. Dazu muss man nämlich ein gut trainiertes Gehirn haben und eine Menge wissen darüber, wie die Welt und wie unsere Gesellschaft funktionieren. Oh ja, das hat etwas mit Natur- und Sozialwissenschaften zu tun. Und mit Gesetzen.

Eine nicht ganz unwichtige Frage: Warum haben freiheitliche Demokratien trotzdem so einen Haufen Gesetze? Kann es sein, dass wir so, wie es die Homeoffice-Verfechter der großen Freiheit deklamieren, gar nicht frei sind und auch gar nicht frei sein können?

Dass es in Wirklichkeit nur Spielräume der Freiheit gibt?

Eine Frage, über die sich Philosophen seit Jahrhunderten Gedanken machen. Angefangen bei Platon und seinem Höhlengleichnis, in dem dieser kluge alte Grieche sich sehr gründliche Gedanken macht, über unsere Erkenntnisfähigkeit und das, was wir von der (wirklichen) Welt tatsächlich wahrnehmen können. Wie frei können wir sein, wenn wir nicht wirklich verstehen, wie die Welt in ihren grundlegenden Gesetzmäßigkeiten funktioniert?

Da fällt manchem dann schnell der berühmte Satz von Rousseau ein: „Der Mensch wird frei geboren.“ Auch das wieder so ein verkürzter Satz, der falsch wird, wenn man den Rest weglässt. Er steht natürlich in Rousseaus berühmtem „Gesellschaftsvertrag“ von 1762, einem jener klugen Bücher, die den intellektuellen Nährboden für die Französische Revolution bereitet haben.

Der komplette Satz lautet aber: „Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Banden. Mancher hält sich für den Herrn seiner Mitmenschen und ist trotzdem mehr Sklave als sie.“

Denn Rousseau hatte keine Tomaten auf den Augen. Er sah, dass kein Mensch im schönen Königreich Frankreich absolut frei war. Alle Bürger steckten in einem Regelwerk aus Normen, Sitten und Gebräuchen. Und für alle galten Standesregeln und Gesetze. Und gerade der Absolutismus, der damals in Frankreich regierte, machte es allen Untertanen sichtbar: Für die Einhaltung der Regeln sorgte der Staat, an dessen Spitze ein König thronte, der auch schon mal sagte: „L’etat, c’est moi!“

Warum aber schaffen sich Menschen Staaten, wenn sie doch frei sein wollen? Weil sonst Willkür regiert und die Rücksichtslosesten einfach die Schwächeren tyrannisieren. Die Begründung des Staates ist tatsächlich so etwas wie ein Gesellschaftsvertrag, der überhaupt so etwas wie ein friedliches Zusammenleben und ein Mindestmaß an Freiheit für alle garantiert. Mit Betonung auf „alle“.

Rousseau etwas weiter in seinem Buch: „Die erste und wichtigste Schlußfolge aus den bis jetzt aufgestellten Grundsätzen ist die, dass der allgemeine Wille allein die Kräfte des Staates dem Zwecke seiner Einrichtung gemäß, der in dem Gemeinwohl besteht, leiten kann; denn wenn der Gegensatz der Privatinteressen die Errichtung der Gesellschaften nötig gemacht hat, so hat sie doch erst die Übereinstimmung der gleichen Interessen ermöglicht. Das Gemeinsame in diesen verschiedenen Interessen bildet das gesellschaftliche Band; und gäbe es nicht irgendeinen Punkt, in dem alle Interessen übereinstimmen, so könnte keine Gesellschaft bestehen. Einzig und allein nach diesem gemeinsamen Interesse muss die Gesellschaft regiert werden.“

Der Staat garantiert also ein Mindestmaß an Freiheiten, indem er das Gemeinwohl zu seinem zentralen Interesse macht.

Auch jetzt, in der Coronakrise, wo er – manchmal auch mit trial and error – versucht, den Laden am Laufen zu halten und gleichzeitig eine ungebremste Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Er greift dazu zu bewährten Mitteln, die teilweise schon uralt sind. Das verstört natürlich. Gibt es heute keine klügeren Wege, mit so einer Epidemie umzugehen, die Schwachen zu schützen, ohne dabei zu viele Freiheiten einzuschränken oder aufzugeben?

Das ist eine ganz simple Frage, die aber leider bei den Narren in ihren Küchentisch-Echoräumen stets verabsolutiert wird. Die Einschränkung von Grundrechten wird bei ihnen gleich zum Verbot, die Verhängung von Ausgangsbeschränkungen zum Eingriff in ihre Freiheitsrechte.

Ganz so, als wenn sie ohne diese Corona-Schutzmaßnahmen jemals freie Menschen gewesen wären.

Das klingt jetzt etwas frech. Aber die klügeren unter unseren Philosophen haben die Wirklichkeit nicht ausgesperrt, wenn sie sich über Freiheit Gedanken gemacht haben. Oft wird auf Baruch de Spinoza verwiesen, der sich in argem Grübeln über Gott und seine Beziehung zu uns Erdenwürmern am Ende ziemlich verfitzte und die menschliche Freiheit durch Gottes Willen beschränkt sah. Was natürlich schon zu seiner Zeit nicht haltbar war.

Auch in den damals schon sehr freien Niederlanden war die Freiheit jedes Bürgers mehrfach durch lauter Dinge beschränkt, die ganz irdischer Natur waren – angefangen von den simplen Naturgesetzen, mit denen sich damals schon die ersten wirklich naturwissenschaftlich denkenden Köpfe beschäftigten, über die (oft ungeschriebenen) Normen des gesellschaftlichen und familiären Zusammenlebens, durch Verantwortung, die jeder Mensch übernimmt, bis hin zu den Regeln einer frühkapitalistischen Wirtschaft, die auch jedem Marktteilnehmer Zwänge auferlegt, denen er nicht entkommen kann.

150 Jahre später, als dann die frühe Industrialisierung einsetzte, kamen die Philosophen erst recht nicht mehr um die Einsicht herum, dass die Möglichkeiten jedes Menschen, etwas zu unternehmen, begrenzt sind. Natürlich durch ihr verfügbares Wissen über die Welt und ihre Gesetze (siehe Platon), aber auch ganz simpel durch die Bedingungen seines Lebens, seiner materiellen und geistigen Fähigkeiten. Und dann natürlich durch diese ganzen anderen Zweibeiner um ihn herum, deren Handeln seinem Handeln Grenzen setzten (oder es ermöglichten).

In seinem „Anti-Dühring“ hat Friedrich Engels 1877 diesen Erfahrungsschatz aus den Vorlesungen des Berliner Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel so zusammengefasst: „Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. ‚Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird.‘ Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen.“

Man kann hier nicht nur die „geträumte Unabhängigkeit von den Naturgesetzen“ als Flucht ins Reich der Phantasie nennen, sondern auch die geträumte Unabhängigkeit von den Gesetzen einer gut verwalteten Gesellschaft. Siehe Rousseau: Gemeinwohl.

Menschen schaffen sich Staaten eben nicht nur zur Abgrenzung von anderen und zur Abwehr von Feinden, sondern auch zur Bändigung der anarchistischen Freiheit, zu der einige Zeitgenossen immer neigen. Nicht nur die Radikalinskis aus extremistischen Terrorgruppen, sondern auch empörte und frustrierte kleine Bürger aus der wütenden „Mitte“, die diese Einordnung in ein für alle gleich definiertes Gemeinwohl nicht aushalten möchten. Und dann bekanntlich dazu neigen, Parteien zu wählen, die sich die Abschaffung der Freiheiten für die Mehrheit der Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben haben.

All die Leute, die so gern über die Einschränkung „ihrer“ Grundrechte zetern, beanspruchen für sich immer besondere Freiheiten, die eigentlich Vorrechte sind – sich eben nicht nach den Regeln richten zu wollen, die für alle gelten. Regeln, die dem Wohl der Gemeinschaft dienen. Was eben oft eine Eingrenzung der individuellen Freiheiten bedeutet – übrigens nicht nur in Zeiten von Corona-Epidemien. Derselbe Kampf tobt auf dem Feld „Freie Fahrt für freie Bürger“, beim Steuernzahlen, in der Debatte über die Impfpflicht, in der Emanzipation bislang benachteiligter Bevölkerungsgruppen, aber auch im Reich der Meinungsfreiheit.

Und da sind wir wieder bei Rosa Luxemburg, deren Satz „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ heute so gern von Leuten benutzt wird, denen die Meinungsfreiheit der aus ihrer Warte Andersdenkenden geradezu unerträglich ist.

Eigentlich ein herrlicher Aspekt, den all diese Grundrechtebeschwörer immer ausblenden: Wie sehr das Aushalten von Freiheitsrechten auch eine Zumutung sein kann, etwas zutiefst Verstörendes. Und: eine direkt empfundene Einengung der eigenen Freiheit. Da wird etwas sichtbar, was die Freiheitsfanatiker einfach nicht sehen wollen: Dass Freiheit in allen menschlichen Beziehungen immer nur ein Spielraum ist, eine Ermöglichung, die aber niemals grenzenlos ist.

Denn die eigene Freiheit wird immer durch die Freiheit aller anderen eingeschränkt. Wenn ich selbstbestimmt leben und handeln will, dann brauche ich die Einsicht in die Rechte und Freiheiten aller anderen. Und sollte sie besser akzeptieren, wenn ich meine Handlungsmöglichkeiten behalten oder erweitern möchte.

Genau das steckt in den Thesen von Hegel, auch wenn der dem preußischen Idealstaat noch weit mehr Eingriffs- und Beschränkungsrechte zugestand, als wir es unserem heutigen Staat zugestehen.

Und wie ist das nun mit dem Luxemburg-Spruch?

Den schrieb sie – nach einigen heftigen Erfahrungen mit Lenin und seinem rabiaten Staatsverständnis – damals gemünzt auf die „Russische Revolution“ und noch genauer: auf das, wie Lenins Bolschewiki eigentlich Parteidemokratie verstanden.

Der komplettere Satz: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ,Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ,Freiheit‘ zum Privilegium wird.“

Ein Staat, dessen Regierungspartei nur ihre eigene Meinungsfreiheit als Absolutum setzt, wird genauso anarchistisch wie ein Staat, in dem es für die Freiheiten der Bürger keine verbindlichen Regeln gibt. Erst die gemeinsamen Regeln ermöglichen ein Feld der Freiheit.

Diese simple Sicht auf die Wirklichkeit ist in den letzten Jahrzehnten unter Beschuss gekommen. Denn das passt natürlich nicht zur enthemmten Freiheit eines „liberalisierten“ Marktes, der den Individualismus propagiert, weil man Individualisten zu Konsumisten machen kann, die in einer heillosen Jagd nach einer wie auch immer versprochenen „Freiheit“ bereit sind, selbst die Grundlagen aller Freiheit zu opfern.

Man denke nur an ihre Bereitwilligkeit, sich der Komplettüberwachung riesiger Digitalkonzerne auszuliefern und damit anderen, von niemandem gewählten Mächten Macht über ihre Daten zu geben.

Die meisten Menschen denken wirklich nicht über Freiheit nach und schon gar nicht über die Grundlagen menschlicher Freiheit, die auch etwas mit Gesundheit (und Gesundheitswesen), Recht (und Justiz), Mobilität (und Verkehrsregeln) zu tun haben. Nicht zu vergessen die Grundlage, die die Verkünder des „freien Marktes“ (was für ein Lügengebilde!) völlig ignorieren: Die lebendige Natur, deren Teil wir nicht nur sind (das Coronavirus lässt grüßen), sondern ohne die wir auch keine Lebensgrundlagen hätten. Es ist eindeutig falsch verstandene Freiheit, wenn propagiert wird, dem Menschen sei alles möglich und alles erlaubt. Das meiste verbietet sich sogar, weil es mit seiner Zerstörung auch das Ende des menschlichen Lebens bedeutet.

Frei ist der Mensch nur, wenn er die Grundlagen seines Seins begreift und die Grenzen seines Handelns auch akzeptieren kann. Man kann es Notwendigkeit nennen.

Aber mal so formuliert: Die Notwendigkeit pfeift auf uns, wenn wir sie nicht akzeptieren. Dann verschwindet die ach so freie Spezies einfach von der Erde, verschenkt Millionen Jahre einer möglicherweise blühenden Zivilisation. Unserer Freiheit, zu tun was wir wollen, sind ganz natürliche Grenzen gesetzt. Wir können sie nicht ungestraft übertreten. Und selbst in freiheitlichen Gesellschaften muss immer wieder neu die Balance gefunden werden, die das Überleben aller sichert, ohne ihre persönlichen Freiheiten zu stark zu beschneiden. Wir können natürlich so tun, als würden uns ein paar Viren dabei überhaupt nicht interessieren. Klug oder gar weitsichtig wäre das nicht.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

Freitag, der 17. April 2020: Maskenpflicht im ÖPNV und Einzelhandel

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Ein Denkansatz wäre vielleicht, die Freiheit als Recht zu begreifen, in Würde als Mensch an unserer Gesellschaft teilzuhaben.
Und dem gegenüber die Pflicht, zum Wohle aller beizutragen.

Und das jeder nach seinen Möglichkeiten, bei den (selbst- oder fremdbestimmten) Bedürfnissen wird es da schon wieder noch schwieriger.

Wird ein Arbeitsloser depressiv, weil er keine Arbeit hat? Oder weil er gewöhnt ist, dass die (fremdbestimmte) Arbeit seinem Leben einen Sinn gibt und seinen Tagesablauf strukturiert?
Und muss ein Mensch jede Arbeit ausführen, auch wenn sie seinen persönlichen moralischen Werten widerspricht?

Normalerweise sollte es von staatswegen keine ‘unmoralische’ Arbeit geben,
aber wie ist mit der Rüstungsindustrie, einer Finanzbuchhalterin die krumme Geschäfte ‘ihrer’ Firma decken soll,
Abzocke-Schneeball-Systemen in der Finanzbranche etc.

Im Moment arbeiten nur Menschen, die direkt für Menschen arbeiten.
Wer kann und möchte, darf sich freiwillig einbringen.

Depressiv macht wohl eher, wenn man nicht weiß, ob man seine finanzielle Sicherung (ja die durch eigene Arbeit) auch im nächsten Monat noch hat oder schon beim Darübernachdenken ins Nichts fällt.

Wieviel und welche ‘Wirtschaft’ braucht das Land?
Muss ein Unternehmer auf Kosten der Allgemeinheit überhöhte Gewinne machen, weil er eine ‘Marktlücke’ gefunden hat?
Braucht es immer wieder neue ‘Luxusgüter’ für einzelne ohne die Umweltkosten einzubeziehen,
oder kann man einen Toaster auch reparieren?
Inwieweit unterscheidet er sich von einem Künstler, der die Lebensfreude der Menschen erhöht?

Wer von beiden soll gefördert werden und warum?

Einfach so Gedanken, die mir zum Thema Freiheit so durch den Kopf gehen.
Mag ja utopisch sein, aber darüber nachdenken kann man ja mal.
Solange die Zeit noch ist..
bis alles wieder ‘hochgefahren’ wird und es dann zusätzlich noch darum geht, sich an die zu frühen Toten als Normalität, weil die älteren, Asthma-, COPD- usw. Kranken und Lebensmüden würden ja sowieso sterben,
zu gewöhnen. Und der nächste Virus kommt bestimmt.

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