Manchmal sind meine Tagebucheinträge wie russische Matrjoschkas. Besonders dann, wenn sie sehr ausführlich von einer Sache erzählen. Dann stecken viele kleine Texte in ihnen. Erst im Schreiben verwachsen sie sich, schachteln die einzelnen Teile zu Sätzen zusammen und verschmirgeln – ganz unmatrjoschkahaft – am Ende sogar noch die Bruchstellen, damit keiner einen Blick in den Betrieb werfen kann.

(Ich erinnere mich, dass einige romantische Dichter es ähnlich gemacht haben. Wobei sie sogar noch einen Schritt weitergegangen sind und alle Aufzeichnungen, die sie im Laufe der Arbeit angefertigt hatten und die gewissermaßen die Grundlage ihres Werkes bildeten, wegwarfen. Genau wie die vielen Zettel mit den Zitaten aus anderen Büchern. Alles flog weg, und übrig blieb nur ein mächtiger Monolith: das große Werk. Und der große Dichter, der – so das Bild, das dadurch entstand – in einem einzigen Rutsch und einem gigantischen Rausch alles aus sich herausgeschrieben hatte und keiner äußeren Bezüge bedurfte. Die Geburt des Genies aus dem Geist des großen Gelösches. Der Dichter als Heros. Als Sockelheiliger, dem der einfache Mensch selbst im Stehen nicht mal bis zu den Socken hinaufreicht. Dabei müssten auf den Denkmälern statt Marmorköpfe eigentlich Matrjoschkas stehen.)

Zwar bin ich meilenweit davon entfernt, ein Genie zu sein und das Verlinken der Quellen führt die Vorstellung eines individuellen Ingeniums ohnehin ad absurdum. Trotzdem wollte ich mich der guten alten Verschleierungstaktik bedienen und aus den wochenlang gesammelten Fragmenten einen großen Tagebucheintrag zimmern. Was sich in diesem Falle auch anbot, schließlich hatte ich ausführlich zur Keystone XL Pipeline recherchiert, einem Großprojekt der Ölindustrie, und bereits jede Menge Notizen dazu gemacht.

Aber dann kamen mir, als ich alles zusammenfügen wollte (und ganz ungeniehaft daran zu scheitern drohte) die russischen Matrjoschkas in den Sinn, und ich musste daran denken, wie die Figuren früher bei uns in der Stube auf dem Regal standen – nebeneinander, damit auch die Kleinste zu ihrem Recht kommt, gesehen zu werden. Warum es also nicht auch mal im Tagebuch so machen?! Russische Matrjoschkas auf dem Regal, Notizen über eine amerikanisch-kanadische Öl-Pipeline auf dem Papier – wo ist der Unterschied? Wer seinen Inhalt präsentieren will, muss ihn auch auspacken können …

31. März: Inmitten der Coronakrise hat die Betreiberfirma TC Energy angekündigt, mit dem Bau der Keystone XL Pipeline zu beginnen. Das Projekt ist jahrelang nicht vorangekommen, weil Umweltschützer und Gerichte es immer wieder blockiert haben. Jetzt aber soll es schon in wenigen Tagen losgehen. Die Logik dahinter ist klar: Da die Umweltschützer aufgrund von Corona nicht mehr protestieren dürfen und die Gerichte ihre Arbeit aufs Allernötigste beschränkt haben, lassen sich Fakten schaffen.

Dafür müssen zwar hunderte Bauarbeiter ins Niemandsland von Montana gekarrt und in Arbeitsbaracken gepfercht werden, aber das ist schon okay. Der Gouverneur der kanadischen Provinz Alberta, in der die Pipeline ihren Anfang nehmen soll, hat erklärt, der Bau von Keystone XL sei „entscheidend für unsere ökonomische Zukunft“. Und der Gouverneur von Montana ist ihm darin gefolgt.

Die Pipeline wird in seinem Bundesstaat auf amerikanisches Territorium treffen. Doch muss er nicht warten, bis die Kanadier bei ihm sind. Er kann schon mal losbauen lassen. Die beiden Teile brauchen dann nur noch verbunden zu werden. Weil aber auch im extrem dünnbesiedelten Montana das Coronavirus um sich greift, hat der Gouverneur die Pipeline-Arbeiter von seiner „Bleibt zu Hause“-Anweisung ausgenommen und die noch nicht vorhandene Ölleitung zur kritischen Infrastruktur erklärt.

Außerdem kann er sich auf die Fußnote eines Memorandums des US-Heimatschutzministeriums berufen, das Arbeiten an Pipelines für systemrelevant erklärt und die Öl- und Gasindustrie explizit von den Corona-Einschränkungen ausnimmt. Rein rechtlich können die Umweltschützer also nichts tun, zumal das zuständige Gericht bei der letzten Anhörung im Januar keinen Baustopp verhängt hat, da TC Energy erklärt hatte, es plane in nächster Zeit nicht, mit den Arbeiten zu beginnen.

2. April: Die ersten Arbeiter sind da.

3. April: Donald Trump, der den von Obama verhängten Stopp des Pipelinebaus direkt nach Amtsantritt aufgehoben hatte, twittert: „Diese Woche gibt es großartige Neuigkeiten bezüglich der Keystone XL Pipeline – es geht voran mit fantastisch bezahlten Construction-Jobs für hart arbeitende Amerikaner. Versprechen gemacht, Versprechen gehalten!“

4. April: Darrell Morehouse, Besitzer eines Ladens für Sportartikel und Westernkleidung in der Kleinstadt Glasgow im Norden Montanas, teilt einem lokalen Radiosender mit, er habe bereits warme Sachen und Stiefel mit Stahlkappen an die Neuankömmlinge verkauft.

5. April: Es kommt heraus, dass die Arbeiterbaracken direkt an indigenes Land grenzen. Noch gibt es dort keine Coronainfizierten, aber wenn hunderte Arbeiter kommen, wächst die Gefahr. Einer der Indigenen erklärt: „Das lässt gespenstische Erinnerungen wachwerden“. Er meint damit die pockenverseuchten Decken, die früher absichtlich an die Indigenen gegeben wurden, um sie zu dezimieren. 90 % starben damals an den Folgen der Epidemie.

Wie ich erst heute erfahren habe, hat die Regierung der Provinz Alberta bereits Ende März zugesagt, den Bau der Keystone XL Pipeline im Zuge der Coronakrise mit zusätzlichen 1,5 Milliarden kanadischen Dollar zu unterstützen. Darüber hinaus bekommt TC Energy eine staatliche Darlehensgarantie über 6 Milliarden.

6. April: Die Presse beginnt umfassend über die Neuentwicklungen der Keystone Pipeline zu berichten. Im Netz formiert sich Protest gegen den geplanten Baubeginn. TC Energy erklärt, den Start der Arbeiten auf Mitte April verschieben zu wollen.

In der Zwischenzeit hat die Ratingagentur Moody’s die Geschäftsaussichten von TC Energy von „neutral“ auf „negativ“ herabgestuft. Bei Moody’s glauben sie nicht mehr, dass die Keystone XL Pipeline fertiggestellt wird. Die Ratingagentur erwartet, dass die Proteste nach dem Ende der Corona-Einschränkungen zunehmen und sich zu sozialen Unruhen auswachsen könnten. Außerdem drohen weitere Gerichtsverfahren und die Entwicklung des Ölpreises spricht auch gegen die Pipeline.

12. April: Donald Trump setzt ungeachtet der neuesten Entwicklungen weiter auf amerikanisches Öl und die Keystone XL Pipeline. Die von der OPEC beschlossene Drosselung der Ölproduktion um 10 % ist die größte in der Geschichte. Damit soll der Preisverfall gestoppt werden. Auch die Produktion in den USA wurde auf Anweisung Trumps erst einmal heruntergefahren. Der Rückzug scheint wie so oft nur dazu da, um Anlauf zu holen. Trump will zum großen Sprung ansetzen – zurück ins fossile Zeitalter.

14. April: Donald Trump klopft sich mal wieder selbst auf die Schulter und feiert sich als großen Geschäftsmann. Vor lauter Freude über seinen (vermeintlichen) Erfolg bei den Verhandlungen mit der OPEC und Putin zitiert er sogar einen Artikel des von ihm sonst wenig geliebten Wall Street Journal, der mit „The Art of an Oil Deal“ überschrieben ist.

15. April: Die Pipeline hat ihren Anfang genommen. In Montana haben Arbeiter bereits vor zwei Tagen die ersten Meter auf us-amerikanischem Boden verlegt. Von jetzt an geht es abwärts. 1.900 Kilometer quer durchs halbe Land. Vom nördlichen Montana immer weiter nach Süden, direkt bis nach Steele City, wo die Pipeline auf eine existierende Versorgungslinie trifft. 830.000 Barrel Rohöl am Tag sollen es werden.

16. April: Brian Morris, seines Zeichens oberster Bundesrichter von Montana, hat TC Energy eine wichtige Erlaubnis für den Bau der Pipeline entzogen. Seinem Urteilsspruch nach hat das an dem Projekt beteiligte U.S. Army Corps of Engineers potentielle Risiken für die Umwelt nicht ausreichend dargelegt und die Auswirkungen auf besonders gefährdete Tier- und Pflanzenarten nicht angemessen berücksichtigt. Besonders den rund siebenhundert Flüssen, Bächen und Seen, die auf dem Weg der Pipeline liegen, würde austretendes Öl zum Verhängnis werden.

An der Pipeline gehen die Arbeiten ungehindert weiter. Der Richterspruch betrifft den aktuellen Bauabschnitt nicht, da auf dem ersten Teilstück keine Wasserwege gekreuzt werden.

17. April: Die Indigenen protestieren gegen die Fortführung des Pipeline-Baus. Einer ihrer Anwälte erklärt, TransCanada versuche so viel Strecke als möglich fertigzustellen, um ein Druckmittel zu haben, die Pipeline zu Ende bauen zu können

20. April: Der Ölpreis ist vollends abgeschmiert. Dabei wollte Donald Trump, das selbst ernannte „stabile Genie“, ihn vorm Absturz bewahren. Noch am 12. April hatte er im üblichen Prahlton auf Twitter verkündet. „Der große Öldeal ist perfekt, er wird hunderttausende Jobs im amerikanischen Energiesektor retten.“ Der Preis der amerikanischen Rohölsorte West Texas Intermediate (WTI) stand damals bei rund 22 Dollar pro Barrel. Seitdem ging es ständig bergab. Zu Handelsbeginn waren es heute noch 14,80 Dollar, aber selbst dieser Preis hat sich nicht lange gehalten.

Im Laufe des Tages ging’s immer tiefer, so lange, bis Angebot und Nachfrage die Rollen getauscht haben, und zwar derart komplett, dass zwischendurch nicht die Käufer, sondern die Verkäufer für das Öl zahlen mussten. Bei minus 37,63 Dollar pro Barrel war Schluss und der Tiefpunkt erreicht, und jetzt, wo ich diese Zeilen hier schreibe, hat sich der Preis bei 37,45 Dollar unter Null „stabilisiert“. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass der Preis für amerikanisches Öl im Minusbereich liegt.

Die Gründe sind so klar wie das Öl schwarz ist: Durch die Coronakrise gibt es ein extrem großes Angebot, eine extrem geringe Nachfrage und kaum noch Lagerkapazitäten. Vor allem aber gibt es Termindruck. Denn der Großteil des Öls wird an der New Yorker Rohstoffbörse Nymex in Form von Termingeschäften gehandelt, was im Grunde nichts anderes bedeutet als dass mit Öl in großem Stil spekuliert wird.

Weil die Spekulanten aber wissen, dass in den USA im Mai die Lager volllaufen könnten und deshalb niemand im Mai Öl geliefert bekommen will, haben sie ihre Mai-Optionen, die noch bis morgen handelbar sind, schon heute auf Juni umzubuchen versucht, woraufhin die Preise dem Fass den Boden ausschlugen und kurzerhand in jene Tiefe rauschten, aus der das Öl ursprünglich gekommen ist.

Trumps großer Deal hat also überhaupt nichts gebracht. Er war viel zu klein. Er hat dem Fass nur einen Tropfen entzogen, bevor es übergelaufen ist und die Welt mit dem billigsten Öl der Geschichte überschwemmt hat.

21. April: Trump gibt nicht auf. Auf Twitter verkündet er: „Wir werden die großartige Öl- und Gasindustrie der USA niemals im Stich lassen. Ich hab den Energie- und den Finanzminister angewiesen, einen Plan zu machen, der Gelder bereitstellt, damit diese sehr wichtigen Unternehmen und die dazugehörigen Jobs auf lange Zeit gesichert sind.“

22. April: Wie bekannt wurde, haben die Lobbyisten der Ölindustrie – allen voran die US-Handelskammer – allein im Jahr 2019 über 61 Millionen Dollar ausgegeben, um die Keystone XL Pipeline politisch durchgedrückt zu bekommen. Demgegenüber stehen 100.000 Dollar, die von den Stämmen der Indigenen ausgegeben worden sind, um zu verhindern, dass die Ölleitung ihr Land durchquert und ihre Gewässer verschmutzt.

Gleichzeitig kam heraus, dass der republikanische Senator Steve Daines aus Montana von TC Energy Spenden in Höhe von 5.500 Dollar bekommen hat. Insgesamt hat die Firma mittels des eigens dafür gegründeten „Political Action Committee“ im Jahr 2019 fast 100.000 Dollar an US-Politiker gezahlt.

Ich muss an den Tagebucheintrag vom 14. Februar 2017 denken. Damals hatte Trump den kanadischen Premier Justin Trudeau getroffen. Im Tagebuch hieß es: „Beide wollen das Öl, um den Sand aus dem Getriebe der Keystone-Pipeline zu spülen. Die Schmiermitteldiplomatie hat gerade erst begonnen.“

Inzwischen fließen die Dollars reichlich. Nur in meinem Kopf steht alles still. In Gedanken sehe ich eine Landkarte, darauf lauter Matrjoschkas, die den Weg der Pipeline markieren. Die kleinste von ihnen steht oben in Montana, die größte thront unten in Texas. Sie lächeln. Und in ihren hohlen Bäuchen gurgelt das Öl.

Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.

Direkt zum „Tagebuch eines Hilflosen“.

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