LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 78, seit 24. April im HandelAnders als bei den meisten Menschen aus meinem Umfeld hat sich mein Leben durch Corona in den letzten Wochen kaum verändert. Ich habe das Glück, über ein Arbeitsstipendium für einige Monate finanziell abgesichert zu sein. Wie es für mich ab Juni mit Unterrichten an der Musikschule und den geplanten Projekten in Kulturbetrieben weitergeht, ist noch nicht greifbar. Ich habe es doch aber sehr gut: Ich lebe in einem wunderschönen Haus mit Garten, direkt in der Nähe eines Parks, kann jeden Tag Sport machen … Momentan sind meine Sorgen während Corona viel mehr bei anderen als bei mir.
Konkret denke ich an meine Kolleg/-innen der Kunstschaffenden im schon immer unterfinanzierten prekären Sektor, die Kredite und Zuschüsse beantragen und sich mit der ganzen Bürokratie herumschlagen, Stichwort „laufende Betriebskosten“. Dabei laufen die Mieten zu Hause ja auch weiter. Und dann ein Zigfaches an große Unternehmen fließen sehen, ist bitter. Ich finde es großartig, dass sich Kunstschaffende in Petitionen und Offenen Briefen einsetzen, um die Situation zu verbessern. Ich unterstütze das, wo ich kann.
An diese Menschen denke ich, aber auch an Alleinerziehende, die zugleich Kinder betreuen und arbeiten, an alte Menschen, die gerade sehr einsam sind, und an Opfer von häuslicher Gewalt. Und ganz besonders denke ich an Geflüchtete; sowohl an die, die hier in Deutschland auf ihre Verfahren warten und an die in den Unterkünften in puncto Hygiene zuletzt gedacht wurde, als auch an die Menschen beispielsweise auf Lesbos, daran also, wie die EU seit Monaten und mittlerweile Jahren mit ihnen umgegangen ist und nun auch jetzt.
Wie eine Kameralinse, die auf einen neuen Fokus geschärft wird, macht dieser Virus eine Fratze in Europa offenbar, die sich in der Tiefenunschärfe „europäischer Werte“ zu tarnen versucht, nämlich, dass es Minderheiten, Randgruppen und Menschen, die eh schon Opfer rassistisch-motivierter bzw. struktureller Gewalt sind, stets am härtesten trifft, für sie am wenigsten gesorgt wird und ihre Menschenrechte am meisten missachtet werden: neben Geflüchteten und Wohnungslosen auch z. B. Roma und Sinti.
Mich beschäftigt ebenso die Lage der Pflegekräfte, die völlig überlastet sind, die sich jeden Tag in Gefahr begeben. Das sind enorme Opfer, die diese Menschen bringen. Und dann kommt – Applaus! Stattdessen man endlich einsieht, dass längst vor Corona der ganze Pflege- und Gesundheitssektor völlig unterfinanziert war!
Wenn ich in die Zukunft blicke, so muss ich gestehen, ist mein Glas halbleer. Meine Hoffnung ist, dass diese Zeit eine transformative Kraft haben könnte und gewisse positive Veränderungen, die bisher als abwegig galten, in einem Jahr nicht mehr abwegig sind. Ich halte es für wichtig, im Kulturbereich jetzt nicht auf inflationären Digitalmodus umzusteigen, sondern die gewaltige Lücke, die nicht stattfindende Liveveranstaltungen hinterlassen, spürbar auszuhalten.
Vielleicht wird nach der Pause die unersetzliche Magie eines analogen Theaterabends und die spürbare Schwingung eines Konzertes an Bedeutung gewinnen – und damit auch die Wertschätzung der Kunstschaffenden für die Gesellschaft. Ich hoffe auch, dass Strukturen wie das Bedingungslose Grundeinkommen, für welches ja gerade eine Petition an den Bundestag läuft, keine Tabus mehr darstellen. Angst macht mir dabei jedoch, dass diese Tabubrüche auch z. B. in Richtung staatlicher Überwachung offen sind, was furchtbar wäre.
Trotzdem fällt es mir schwer, eine Utopie nach Corona zu träumen. Ich selbst glaube ja nicht einmal an einen Wandel. Vielleicht wird es im Kleinen, auf der Ebene einer Graswurzel geschehen. Vielleicht werden auf einer Mikroebene sehr starke und schöne Veränderungen stattfinden. Vielleicht werden hier und da Bande, die jetzt während der Nachbarschaftshilfen oder zwischen Familien und Kolleg/-innen geschlossen werden, dauerhaft halten. Aber dennoch fällt es mir schwer, die Hoffnung zu hegen, dass diese Pandemie uns zu besseren Menschen machen wird. Das schmerzt.
Mehr aktuelle Träume auf L-IZ.de, in der Coronakrise 2020 und aus den letzten Jahren
Träume in der Coronakrise
Normalerweise warten wir bis Weihnachten, bis wir Menschen, die wir interessant finden, dazu einladen, ein bisschen zu träumen. Immer kurz vor dem Ende eines Jahres erscheinen dann in der LEIPZIGER ZEITUNG und auf L-IZ.de häufig sehr persönliche Texte, die sich aber auch dem gesellschaftlichen Ganzen widmen.
Unser Zusammenleben als Gemeinschaft hat sich in den vergangenen Wochen so schnell und drastisch geändert wie es viele niemals für möglich gehalten hätten. Mittlerweile wagt man zwar hier und dort einen Schritt zurück zur Normalität, doch Kontaktverbote und Maskenpflicht erinnern uns jeden Tag an den wohl noch lange andauernden Ausnahmezustand.
Wie die Menschen mit dieser Situation umgehen, ist sehr unterschiedlich. Manche werden krank und einige sterben, andere kommen mit der Isolation mehr oder weniger gut zurecht und viele denken in die Zukunft: Wie lange müssen und können wir mit den Einschränkungen leben? Wird unsere Welt in der Zeit nach Corona eine andere sein? Und falls ja: Wie wird sie dann aussehen?
Wir haben also Menschen gebeten, für uns zu träumen und uns zu erzählen, was die Coronakrise mit ihnen macht und wie sich das Leben aus ihrer Sicht verändern könnte.
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 78: Wie Corona auch das Leben der Leipziger verändert hat
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 78: Wie Corona auch das Leben der Leipziger verändert hat
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