Weltweit sind in diesem Jahr die Kirchen und die Gotteshäuser anderer Religionen in der Passions- und Osterzeit geschlossen – und doch können wir das Leiden Jesu am Kreuz und seine Auferstehung wie eine gegenwärtige, monumentale Inszenierung auf der Weltbühne erleben. Dabei sitzen wir aber nicht auf Zuschauerrängen wie in Kirchenbänken bei einer Aufführung der Matthäuspassion oder einer Osternachfeier.
Wir sind Teil des Dramas, Akteure des Geschehens von einer Rolle in die andere wechselnd – mal Jünger, mal sich hilflos rechtfertigende Täter, mal grölende Mitläufer, mal stumme Zuschauer hinter den Gardinen und auch, natürlich, mal an den Weltläufen Leidende mit durch Angst gepresste Schweißperlen auf Stirn und Brustkorb, in den Flüchtlingslagern vor sich hin Vegetierende, auf den Intensivstationen nach Luft Ringende.
Da dringt Ende Februar 2020, also zu Beginn der Passionszeit, das Corona-Virus, schon in anderen Regionen dieser Welt aktiv, nach und nach in die Körper der Menschen ein und bemächtigt sich unseres Lebens – nicht nur des Lebens der Menschen, in das sich das Virus frisst und Leid, Krankheit, Sterben verursacht.
Über Nacht dreht sich alles nur noch darum, wie wir uns schützen können vor der tödlichen Dynamik dieser immer unheimlicher werdenden globalen Bedrohung. Es geschieht das, was in den Evangelien in aller Dramatik geschildert wird: Unerbittlich rückt das Leiden uns näher, fordert Opfer, beraubt uns aller Lebenssicherheit. Zusätzlich deckt es schonungslos unser Beteiligtsein auf.
Denn dieses Virus, wie auch das Leiden Jesu, ist kein Schicksal, das einfach so über uns kommt – so als hätten wir nichts damit zu tun, seien nur unschuldige Opfer einer Katastrophe. Seine Tod bringende Gewalt hat sich schon lange wie sich am Horizont auftürmende Gewitterwolken, die ein schreckliches Unwetter ankündigen, aufgebaut. Sie setzen sich zusammen aus den sehr unterschiedlichen Facetten unserer Selbstbehauptung, Ignoranz, unseres Versagens.
In der Passionsgeschichte Jesu wird erzählt, wie mit dem Kreuzestod Jesu sich Finsternis ausbreitet und ein Erdbeben Verwüstung anrichtet – und dann steht die Erde still. Genau das können wir an diesem Karsamstag erleben, auch bei strahlendem Sonnenschein: den totalen Shutdown mit all seinen angenehmen und bedrohlichen Seiten, neue Zuwendung in den Familien und nackte Existenzangst um Einkommen und Arbeitsplatz.
Endlich kommt der Turbomotor eines unersättlichen Lebensstils zum Stillstand. Plötzlich ist Zeit im Überfluss vorhanden. In dieser kann uns bewusst werden: Gespürt haben wir es schon lange, dass es so nicht weitergehen kann. Wie viele STOP-Schilder, all die guten Ratschläge der Wissenschaftler zum Klimawandel, all die Angebote zur Mäßigung des Lebensstils haben wir ignoriert, überfahren, gedacht, dass wir diese Störung nicht brauchen, dass das unsere Wirtschaft nicht verkraftet, ja, dass wir sie aus dem Weg räumen können, all die Störfaktoren eines rastlosen Daseins?
So haben wir uns in den vergangenen Jahren in die Tasche gelogen: als könnten wir uns vor dem Elend der Geflüchteten abschotten, als hätte das ewige Kriegführen ganz woanders keine Auswirkungen auf das Hier und Jetzt, als könnten wir uns mit ein paar Schlagbäumen die Folgen unseres Tuns vom Halse halten.
Nur: Wenn sich die Kreatur wehrt, wenn das Kreuz aufgerichtet wird, dann verschwinden die Unterschiede zwischen gerecht und ungerecht, Opfer und Täter. Dann ist jede/r gemeint, herausgefordert. Dann sollten wir bedenken, wo all dies endet, wenn wir immer so weitermachen und auch den aus dem Weg räumen, der am Anfang seiner Tätigkeit den Menschen zugerufen hat: Kehrt um! Ändert euer Leben! Schenkt den Verheißungen Vertrauen! Nehmt das weihnachtliche Angebot an: Gott die Ehre, der Erde Frieden, den Menschen Gerechtigkeit.
Wir können die tiefe Stille des Karsamstag nutzen – nicht, um uns zurückzuziehen in geschlossene Räume, um unsere verletzten Seelen, unsere Ängste zu pflegen oder um uns einfach nur aus allem herauszuhalten. Denn wir sollten das nicht versäumen, was vom Kreuz ausgehend im Abseits geschieht: Menschen übernehmen Verantwortung, stehen füreinander ein, üben Solidarität – genau das, was sich jetzt Gott sei Dank in unserer Gesellschaft an vielen Orten ereignet.
So wie sich damals Maria um Johannes kümmert, wie ein Simon von Kyrene das Kreuz Jesu trägt, wie ein Josef von Arimathäa eine Grabstelle für Jesus zur Verfügung stellt. All das entwickelt sich aus dem Leiden Jesu. All das kann aus dem Bösen, aus einer Katastrophe erwachsen, wenn wir uns weiter als Teil von Gottes Schöpfung verstehen. Es lohnt sich also, sich unter das Kreuz zu begeben und in seiner Anschauung zu erkennen, was jetzt dran ist: Verantwortung übernehmen, Ermutigung erfahren.
Das aber ist eine riesige Herausforderung – sich nicht erdrücken zu lassen von dem Leiden dieser Welt und gleichzeitig neue Ansatzpunkte zu finden für verantwortliches Leben. Schon damals sahen sich die Jünger überfordert – und verrammelten die Räume, in die sie schutzsuchend geflüchtet waren. Eine Quarantäne besonderer Art. In diese dringt der von den Toten auferstandene Jesus ein, und öffnet von innen die Türen und Fenster.
Nachzuvollziehen ist dies nur, wenn wir Jesu Auferstehung in einem direkten Zusammenhang mit dem Sterben, dem Leiden und den damit verbundenen Verwerfungen sehen: Der, der an dieser Welt so gelitten hat wie die Opfer der Kriege, die im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge, die schwer Erkrankten auf den Intensivstationen, die verzweifelten Trauernden, die sich in ihrer einsamen Verlassenheit immer wieder fragen WARUM?, dieser Jesus zeigt mit Auferstehung einen Weg auf, wie wir mit all unserem Leid, unseren Unzulänglichkeiten und auch mit einem Coronavirus leben können, ohne uns ihrem Machtanspruch auszuliefern.
Das ist das österliche Angebot und unsere tägliche Aufgabe: Mit dem Virus, mit den bedrohlichen Entwicklungen leben, sich aber nicht von ihnen das Leben diktieren lassen, ihren Machtanspruch radikal bestreiten und so der Orientierung folgen, die durch die Auferstehung neu in Kraft gesetzt wurde. Das sollte sich an Ostern und weit darüber hinaus live abspielen.
Gastkommentar von Christian Wolff: In angespannter Zeit – Drei Erinnerungen an Dietrich Bonhoeffer (1906-1945)
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