Wir müssen aufpassen. Nicht nur, um einer möglichen Infektion durch das Coronavirus im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Weg zu gehen. Wir müssen vor allem aufpassen, dass wir in dieser Krise Haltung bewahren. Als einzelne Bürger, als Gesellschaft, als Demokraten. Denn in krisenhaften Zeiten gehen die Maßstäbe schnell verloren. Vor allem dann, wenn sich Krise und Angst paaren und zu einem in uns wild wuchernden Gestrüpp zusammenwachsen.
Darum ist es wichtig, dass wir den Ängsten nicht mehr Raum geben als unbedingt nötig und sie weder laut werden noch verstärken lassen. Dass nicht wenige Menschen Angst umtreibt, ist nur zu verständlich. Dazu sind zu viele existenziell von der Coronakrise betroffen – nicht weil sie erkranken, sondern weil sie ihren Arbeitsplatz verlieren, plötzlich über kein Einkommen mehr verfügen, nicht wissen, ob sie ihren Betrieb vor der Insolvenz bewahren können.
Vor diesem Hintergrund ist es durchaus erstaunlich, wie ruhig es im Lande ist, was sicher auch einem insgesamt angemessenen Krisenmanagement der Verantwortung tragenden Politiker/innen zu verdanken ist.
Dennoch: Wir müssen aufpassen. Denn an vielen Stellen lauern die Gefahren von Angst, Entmündigung und Untertanenbewusstsein. Darum kann es nur hilfreich sein, wenn wir den Begriff Krise etwas genauer betrachten. Krise stellt den Wendepunkt einer Entwicklung dar.
Wir befinden uns mit der Coronakrise also nicht am Anfang einer Entwicklung, sondern an dem Punkt, an dem wir uns zu fragen haben: Was ging der Krise voraus? Können wir Entwicklungen benennen, die als Vorboten der jetzt ausgebrochenen Krise gelten können? Welche Lebensweisen haben unser Immunsystem derart geschwächt, dass Viren zuschlagen können?
Ich möchte das an einem einfachen Beispiel erläutern: Wenn ich von einer Leiter falle und mich verletze, dann ist natürlich als erstes wichtig, dass meine Wunden versorgt werden und ein eventuell gebrochener Arm geschient wird: Krisenintervention. Aber wenn das geschehen ist, dann habe ich mich zu fragen: Wie konnte es zu dem Sturz kommen? Sollte ich mit 70 Jahren nicht mehr auf eine Leiter steigen? Habe ich vorher zwei Gläser Wein getrunken? Ist mein Kreislauf nicht mehr stabil? War eine Sprosse morsch?
Einen oder mehrere Gründe für den Sturz werde ich finden.
Genauso gilt es, für die Zukunft zu fragen: Muss ich eine neue Leiter kaufen? Sollte ich in Zukunft meinen Sohn bitten, auf die Leiter zu steigen? Wenn ich auf die Leiter steige, sollte ich vorher keinen Alkohol trinken. Biblisch gesprochen geht es um Buße (selbstkritische Reflexion des Vergangenen) und Umkehr (Veränderung der Lebensweise in der Zukunft). Beides wird mir in einer Krisensituation ermöglicht. Beides wird uns auch jetzt abverlangt, unabhängig davon ob wir uns als Christen verstehen oder nicht.
Der Berliner Arzt Ellis Huber hat in einem sehr lesenswerten Artikel auf einen Zusammenhang hingewiesen, den schon Virologen und Infektiologen wie Robert Koch oder Louis Pasteur im 19. Jahrhundert aufgemacht haben: Das Virus/Bakterium ist nichts, das Milieu/der Mensch ist alles. Will sagen: Das Virus ist ein Organismus, ein Teil der Schöpfung Gottes, und für sich genommen unschädlich.
Aber wenn es auf einen Menschen trifft und erfolgreich ist, dann müssen wir fragen: Welche Bedingungen haben dazu geführt, dass das Virus im Menschen einen so fruchtbaren Boden vorfinden konnte: „psychosozialer Stress, Ängste, Einsamkeit oder Ausgrenzung schwächen das individuelle und erst recht auch das soziale Immunsystem.“ Huber spricht in dem Zusammenhang auch von einer „kontaktreichen Beziehungslosigkeit“.
Darüber müssen wir reden – und natürlich darüber, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen. Das ist eine Aufgabe, die wir keinem Virologen und keiner Politikerin überlassen dürfen. Hier ist jeder gefragt. Denn es kann und darf nach der Coronakrise kein einfaches „Weiter so“ geben. Um dem gerecht zu werden, sollten wir jetzt schon auf eines verzichten: keine zusätzlichen Ängste zu schüren und Bürgerinnen und Bürger zu verunsichern.
Am 01. April 2020 titelte die Leipziger Volkszeitung (LVZ) „150 Euro Bußgeld bei Verlassen der Wohnung“ und zitierte damit den schneidigen sächsischen Innenminister Roland Wöller (CDU). Heute traf ich eine Frau, die sich ganz verschüchtert umsah. Sie befürchtete, von der Polizei angesprochen zu werden, warum sie auf der Straße ist. Das hat mit Krisenbewältigung wenig, mit Angst schüren ganz viel zu tun.
Das gleiche gilt für ein Argument, mit dem auch die fragwürdigsten Maßnahmen (wie die Entwicklung einer BewegungsAPP) vor Kritik geschützt werden sollen: „Es geht um Leben und Tod“. Das soll signalisieren: Erhebe bloß keinen Einwand! Doch um Leben und Tod geht es immer – auch wenn ich eine Straße überquere.
Etwas anderes ist wichtig: dass wir das Sterben und den Tod als zum Leben gehörig betrachten. Denn jedes menschliche Leben findet mit dem Tod ein Ende. Wäre es deswegen nicht angebracht, nicht nur die Intensivstationen zu erweitern, sondern auch die Palliativmedizin, die Hilfe zum Sterben, zu stärken – gerade jetzt, da vor allem sehr alte Menschen von dem Virus betroffen sind, die vielleicht in ihrer Patientenverfügung festgelegt haben, auf künstliche Beatmung zu verzichten?
Und ein Letztes. Als Kirche haben wir aufzupassen, dass wir verantwortlich mit den Deutungsangeboten des Glaubens umgehen. Wenn jetzt im Blick auf die Coronakrise von einem „Gericht Gottes“ gesprochen wird, dann ist genau zu prüfen: Wie wird hier das Richten Gottes verstanden? Als Strafe für Menschengruppen, mit der gedroht und Macht ausgeübt werden soll durch die, die sich zusätzlich das Recht herausnehmen, die „Bösen“ und das ihnen zukommenden Strafmaß zu bestimmen?
Oder reden wir vom Gericht Gottes so, wie es biblisch geboten ist: Wenn Gott richtet, dann richtet er den Menschen auf und ermöglicht ihm, im Angesicht von Schuld und Verfehlung sein Leben zu erneuern und dadurch zu einem neuen Selbstbewusstsein und neuer Mündigkeit zu finden und alle Ängste hinter sich zu lassen. Bleiben wir in der Krise mehr als aufmerksam und wach!
Gastkommentar von Christian Wolff: Der Exit aus dem Shutdown – nicht das „Wann“, das „Wie“ ist entscheidend
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