Das Coronavirus zu entschlüsseln, seine Wirkweise zu verstehen und dann entsprechende Gegenmittel zu entwickeln, das ist Aufgabe der Viro- und Infektiologen. Den gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen Auswirkungen des Coronavirus politisch zu begegnen und diese organisieren, ist Aufgabe der Parlamente und Regierungen, begleitet von einem öffentlichen, kritischen, gesellschaftlichen Diskurs. Jede/r einzelne/r Bürger/in aber steht in der Verantwortung und vor der Aufgabe, dem nachzuspüren, warum das Coronavirus gerade jetzt und global so erfolgreich sein kann und warum das Immunsystem von Individuen wie von Gesellschaften offensichtlich so schwach ausgeprägt ist.
Wir werden jetzt in die Debatte darüber eintreten müssen, wie wir mit dem Covid-19-Virus leben wollen; wie unser gesellschaftliches Leben aussehen soll, wenn alle Beschränkungen aufgehoben sind und die unmittelbare Gefahr, die vom Covid-19-Virus ausgeht, eingedämmt werden konnte. Wie sollen sich Demokratie, Freiheit, Offenheit, europäisches Zusammenleben weiterentwickeln – nach der Erfahrung massiver Eingriffe in die Grundrechte? Soll dann möglichst alles so weitergehen wie bis vor acht Wochen? Soll spätestens ab 2021 genauso viel konsumiert, geflogen, gefahren werden wie noch Anfang des Jahres?
Aber auch: Wie wird unsere Gesellschaft und die Demokratie die sozialen Verwerfungen verkraften, die in einem halben Jahr in ganz anderer Weise sichtbar werden – dann wenn der große „Gleichmacher“ Coronavirus aufhört zu wirken und die rumorenden Ungleichheiten stärker denn je zum Vorschein kommen?
Einige Maßnahmen und Vorschläge lassen befürchten, dass diesen Fragen schon jetzt aus dem Weg gegangen wird. Kann mir einer erklären, warum trotz des fast hundertprozentigen Stillstands im Flugverkehr das Nachtflugverbot aufgehoben und der Sonntagsverkauf im Einzelhandel zugelassen wurde? Wie sind die Forderungen einzuordnen, die Einführung der Grundrente und Bestimmungen für den Klimaschutz aufzuschieben?
Dabei müssen wir in ganz andere Richtungen denken – nicht zuletzt aufgrund der Bereitschaft vieler Menschen, sich auf neue Lebensweisen einzustellen, um mit dem Virus leben zu können. Gott sei Dank nutzen viele Bürgerinnen und Bürger die Zeit der Entschleunigung, um sich einzustellen auf notwendige Veränderungen. In den letzten Wochen habe ich in vielen Gesprächen gehört: „Die Natur wehrt sich.“
Ja, Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Coronavirus, zwischen Turbokapitalismus und der globalen Zwangspause spüren viele Menschen instinktiv und lassen sich deswegen auf eine grundsätzliche Neuorientierung ein – jenseits der derzeit diskutierten Fragen, wie der Weg von den Einschränkungsmaßnahmen zur Normalität des Alltags aussehen soll.
Denn vor einem verschließen viele Menschen nicht mehr die Augen: Mit einem neuen Medikament ist es nicht getan; und mit der sich in diesen Tagen dramatisch abzeichnenden Trockenheit und Dürre hat sich das nächste STOP-Schild in den Weg gestellt. Darum sollten wir jetzt mit einer offensiven Debatte über folgende Fragen beginnen:
– Wie können wir die positiven Erfahrungen der Entschleunigung verstetigen? Das sollte in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu einer kritischen Kontrollfrage werden, um dem krankmachenden Turbotempo und dem Gleichzeitigkeitsfaktor wirksam begegnen zu können. Ein ganz praktisches, überfälliges Signal wäre es, jetzt das Tempolimit auf Autobahnen und im Innenstadtbereich entschlossen umzusetzen: Tempo 130, besser wäre noch Tempo 120, bzw. 30 km/h. Wenn das viel beschworene Argument „Es geht um Leben und Tod“ ernst gemeint ist, dann muss es hier greifen.
– Wie können wir die Daseinsvorsorge im Gesundheitswesen stärken? Eine rein ökonomistische Betrachtungsweise wirtschaftlichen Handelns darf im Bereich der Krankenversorgung und Pflege keinen Platz haben. Denn diese vernachlässigt den Faktor der Vorsorge. Ebenso müssen die Berufe im Gesundheitswesen (aber auch bei der Polizei) profiliert werden – durch angemessene Arbeitsbedingungen und Entlohnung.
Dabei wird es darauf ankommen einen Ausgleich zu finden zwischen staatlich kontrollierten Standards bei Ausstattung und Arbeitsbedingungen auf der einen und der durchaus gesunden Konkurrenz zwischen öffentlich-rechtlichen und freien bzw. privaten Trägern auf der anderen Seite. Wir brauchen nicht den Wettbewerb des kostengünstigsten Angebots, aber den Wettbewerb um die beste Versorgung.
– Was können wir tun, um das individuelle und kollektive Immunsystem zu stärken? In den inzwischen Dutzenden Sondersendungen zum Coronavirus kommt eines kaum vor: Anregungen dazu, wie wir unser Immunsystem stärken können – durch gesunde Ernährung, Bewegung, Sport und einer gezielten Verringerung des Angstfaktors. Also: Wie wird in Zukunft die Ernährung aussehen in Kitas, Schulen, Mensen, Kantinen, vor allem auch in den Krankenhäusern? Was kann jeder dazu beitragen, Ängste abzubauen, Anerkennung und Beachtung zu stärken, Vertrauen zu festigen?
– Wie können wir jetzt im Klimaschutz vorankommen? Eine Folge der Coronakrise ist: Die Natur erholt sich global. Der Preis dafür ist allerdings hoch, zu hoch. Darum ist es notwendig, dass jetzt alles dafür getan wird, dass das Erreichen der Klimaziele und der Wiederaufbau des wirtschaftlichen Lebens zusammengedacht werden: den Kohleausstieg jetzt vollenden; den Flugverkehr und die Kreuzfahrten zurückfahren; den Bau von Benzin- und Dieselmotoren weitgehend einstellen und durch alternative Antriebsmöglichkeiten ersetzen.
– Wie halten wir es mit Leben und Tod? Wie beziehen wir in die Debatte um Schutzmaßnahmen gegen Viren ein, dass unser Leben endlich und das Sterben Teil des Lebens ist. Wir benötigen für alle Maßnahmen eine Überschrift, einen Konsens: Leben bewahren, Sterben zulassen. Darum muss die Palliativmedizin ausgebaut werden.
In den nächsten Monaten sind wir zwei großen Herausforderungen ausgesetzt: Zum einen die massiven sozialen Folgen des Shutdowns für diejenigen, die in diesen Wochen ihren Arbeitsplatz, ihr Einkommen, ihren Betrieb verloren haben. Zum andern müssen wir der Endlichkeit des Planeten gerecht werden und unsere Lebensweise entsprechend anpassen.
Denn eines zeigt sich deutlich: Die Schöpfung verträgt nicht, dass alle Menschen weltweit den Lebensstandard haben, den wir hier (noch) pflegen. Wir benötigen mehr globale Solidarität. Wir sollten deutlich sehen: Dass bei uns die Anzahl der an oder mit dem Coronavirus Gestorbenen sehr viel niedriger ist als in anderen Ländern, hat vor allem damit zu tun, dass bei uns die Verarmung von Bevölkerungsschichten (noch) nicht so weit fortgeschritten ist wie in Italien, Spanien oder den USA.
Dort trifft zu, was ein Sprichwort sagt: Wenn der Reiche hustet, hat der Arme eine Lungenentzündung. Darum wird es – unabhängig von einem Impfstoff – darauf ankommen, den sozialen Zusammenhalt als wichtigsten Schutz gegen aggressive Viren zu gestalten und auszubauen. Erst wenn wir das im Blick haben, beginnen wir, das Coronavirus zu verstehen.
Gastkommentar von Christian Wolff: Ostern live
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