Warum bunkern Menschen in der Corona-Krise Toilettenpapier und Nudeln? Wie kann es gelingen, die sozialen Herausforderungen durch die Ausgangsbeschränkungen zu meistern? Und wie lange kann das alles noch gutgehen? Die L-IZ befragte dazu Prof. Dr. Immo Fritsche. Er ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Leipzig.
Die Menschen kaufen Klopapier in rauen Mengen, mittlerweile wird es unter Polizeischutz in Läden gefahren. Was hat dieses Produkt so Magisches in der Krise?
Toilettenpapier symbolisiert in der Krise für Viele die Aufrechterhaltung persönlicher Kontrolle. Kontaktverbote schränken das Freiheitsgefühl von Menschen ein und auch steigende Gesundheitsbedrohung kann bedeuten, dass man persönlich nicht mehr alles unter Kontrolle hat. Da ist es eine Strategie, sich selbst möglichst unabhängig zu machen, indem man sich mit dem Nötigsten eindeckt.
Interessant ist, dass es hier kulturelle Unterschiede zu geben scheint. In anderen Ländern werden andere Güter in den Läden knapp, wie Wein (Frankreich) oder Handfeuerwaffen (USA). Unsere eigenen Forschungen zeigen, dass sich Menschen in Zeiten persönlicher Bedrohung und gesellschaftlicher Krisen stärker an dem orientieren, was andere in ihrem Umfeld tun. Und wenn ich sehe, dass in meinem Laden das Nudelregal leer ist und in der Zeitung lese, dass die Leute Klopapier horten, halte ich das Horten von Nudeln und Klopapier für den sozialen Konsens darüber, was auf diese unübersichtlichen Zeiten die angemessene Reaktion ist.
Ist dies Teil des veränderten Sozialverhaltens bedrohter Menschen?
Ganz genau. Allgemein lässt sich sagen, dass kollektives Denken unter Bedrohung wahrscheinlicher wird. Mit all seinen positiven, negativen und – wie beim Toilettenpapier – auch absonderlichen Folgen. Hilfreich kann es in Krisen sein, dass unter Bedrohungswahrnehmung die Motivation von Menschen steigt, sich mit handlungsfähigen Gruppen zu identifizieren, also beispielsweise mit einem wirksamen Staatswesen oder einer solidarischen Nachbarschaft. Auch unterstützen wir eigene Gruppen unter Bedrohung stärker und verhalten uns eher solidarisch mit anderen Mitgliedern unserer Gemeinschaft.
Dies bedeutet aber auch, dass wir intoleranter werden, wenn diese von sozialen Normen und Vereinbarungen abweichen, also sich beispielsweise über Klopapierhamstern amüsieren. Oder unsere politischen oder religiösen Ansichten nicht teilen. Aber auch die Tendenz nimmt unter Bedrohung zu, Personen abzuwerten und zu diskriminieren, die wir außerhalb unserer Gemeinschaften verorten.
Daher müssen wir in dieser Situation der Krise besonders wachsam sein, dass wir unser Handeln nicht von diesen ungewollten – automatischen – Tendenzen beeinflussen lassen. Krisen sind Nährboden für Fremdenfeindlichkeit, aber auch für Solidarität gegenüber jenen, die wir mental in die Gemeinschaft einschließen. Jetzt wäre also eine gute Zeit dafür, das „Wir“ möglichst umfassend zu begreifen, im Kleinen in der Nachbarschaft und im Großen in der internationalen Gemeinschaft.
In einem Beitrag der Universität Leipzig sagen Sie: „Für Familien oder Wohngemeinschaften sollte es auf der einen Seite leichter sein, das Gefühl persönlicher Zugehörigkeit in gemeinsamer Isolation zu bewahren.“ Wie kann das gelingen?
Das Gefühl sozialer Zugehörigkeit ist ein psychologisches Grundbedürfnis. Dieses Gefühl auch bei fehlendem physischen Kontakt aufrechtzuerhalten ist eine große Herausforderung für Alleinlebende, insbesondere dann, wenn sie sich schon vorher sozial eher randständig vorkamen oder nur wenige institutionalisierte Kontakte (z.B. in Sportvereinen) hatten.
Für gemeinsam Isolierte ist es hingegen einfacher, Zugehörigkeitsbedürfnisse zu befriedigen. Allerdings gibt es hier andere Herausforderungen. Plötzlich müssen ganz neue Dinge koordiniert werden. Wenn WG-Mitglieder sich plötzlich nicht nur vereinzelt am Abend begegnen, muss nun die gemeinsame Nutzung von Küche und Balkon im Tagesverlauf zu allseitiger Zufriedenheit geregelt werden. In Familien geht es darum, die Lernzeiten der Kinder zu überwachen und zu begleiten. Und nicht jeder Esstisch kann so mir nichts dir nichts in ein permanentes Home-Office verwandelt werden.
Das schafft zusätzliche persönliche und soziale Belastung und natürlich Konfliktpotenzial. Daher empfehle ich, sich über die empfundene Belastung untereinander offen auszutauschen. Auch sollten wir mit den anderen in der häuslichen Gemeinschaft nachsichtig sein, wenn es bei denen einmal an Geduld oder Leistungsfähigkeit mangelt. Viel ist gewonnen, wenn man die Krise als gemeinschaftliche Aufgabe begreift oder sich über die viele Zeit zusammen freut, die man sich doch sonst immer gewünscht hat.
Das kann Form annehmen, wenn eine Wohngemeinschaft zu gemeinsamen Projekten findet, wie kollektives Mundschutzbasteln, das Umgestalten der Wohnung oder nachbarschaftlicher Krisenhilfe. Gleichzeitig braucht jede und jeder Auszeiten vom Zusammensein. Wenn die Wohnsituation nicht viel Spielraum für Vereinzelung lässt, kann man solche Auszeiten auch untereinander vereinbaren oder selbst signalisieren (Kopfhörer aufsetzen!).
Nicht zuletzt sollten wir Gelegenheiten wahrnehmen, den akuten persönlichen Freiheitsverlust zu kompensieren. Dadurch, dass wir uns bewusst Freiheiten im Alltag nehmen. Schlafen wir einfach mal wieder aus. Gönnen wir uns die verbotene Süßigkeit. Schauen wir auch mal Streaming-Serien ohne intellektuellen Mehrwert.
Kritiker der Ausgangsbeschränkungen sehen vor allem die Probleme häuslicher Gewalt durch den engen Raum, den sich Familien nun länger teilen müssen. Sehen Sie dies auch als Gefahr?
Natürlich können schon vor der Krise angelegte Konflikte und Probleme des Zusammenlebens in Familien jetzt besondere Sprengkraft entwickeln. Dies wird durch die ohnehin erhöhte Belastung verschärft und natürlich auch dadurch, dass soziale Flucht in gemeinschaftlicher Isolation nur eingeschränkt möglich ist. Zu den Folgen von Isolation für häusliche Gewalt liegen mir allerdings keine Studien vor.
Welche Strategien sollten Kinder wie Eltern nutzen, um sich auf diese Situation bestmöglich einzustellen?
Grundsätzlich gelten die Hinweise oben. In Fällen, in denen es eine Vorgeschichte häuslicher Gewalt gibt, bedarf es auch einer besonderen Aufmerksamkeit von außen. Nicht nur jede/r Einzelne sollte – beispielsweise im Nachbarschaftsumfeld – ansprechbar sein. Gerade öffentliche Unterstützungs- und Beratungssysteme müssen jetzt präventiv arbeiten und bestehende Sozialarbeit unbedingt aufrechterhalten werden.
Wie lange werden Menschen in dieser Ausnahmesituation leben können, ehe sie rebellieren und sich nicht mehr an die Maßnahmen halten? Wochen, Monate?
Der Mensch ist in seinem Denken und Handeln sehr flexibel. Viele eigene Ansprüche und Erwartungen können wir recht mühelos an sich wandelnde Rahmenbedingungen anpassen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn wir diese Anpassungen für sozial geteilt und angemessen halten. Wenn wir also wahrnehmen, dass sich im Prinzip alle einig darüber sind, dass die aktuellen Maßnahmen notwendig und hilfreich sind, sollten wir das lange durchhalten.
Schließlich akzeptieren wir ja auch ganz unterschiedliche Komfortstandards, je nachdem ob wir uns in einem teuren Hotel, in unserer eigenen Wohnung oder auf Wildnis-Trip mit Höhlenübernachtung im Elbsandsteingebirge befinden. Ausschlaggebend ist unser Eindruck, dass unser Verhalten in der jeweiligen Situation sozial „normal“ ist. Sollte eine kontroverse gesellschaftliche Debatte über die Notwendigkeit von Ausgangssperren und Schulschließungen beginnen, kann sich diese Norm aber natürlich verändern und persönliche Unzufriedenheit plötzlich ansteigen.
Wie lange die sozialen Präventionsmaßnahmen noch aufrechterhalten werden können, hängt also ganz wesentlich von diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab, aber auch von dem Vertrauen der Einzelnen in die Institutionen des Gemeinwesens. Auf persönlicher Ebene sollte die Situation jenen schneller zu viel werden, die zu psychosozial verletzlichen Gruppen zählen. Dies sind Menschen, die sich bereits vor der Krise sozial randständig gefühlt haben oder die die fehlenden physischen Kontakte nicht auf anderem Wege kompensieren können oder wollen.
Nicht jeder sieht die Corona-Gefahr, die postuliert wird. Vor den Ausgangsbeschränkungen in den einzelnen Bundesländern kam es dennoch zu „Corona-Partys“ genannten Treffen Jugendlicher. Welche Motivation haben diese zu diesen Treffen?
In diesen Tagen erleben wir eine starke allgemeine Rückbesinnung auf breite gemeinschaftsbildende Institutionen, wie die öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformate, der Bundesregierung oder auch der Wissenschaft. Diese täuscht möglicherweise darüber hinweg, dass sich unsere Gesellschaft natürlich aus sehr unterschiedlichen Gruppen und Subkulturen zusammensetzt.
Dazu trägt sicherlich auch eine stärkere Segmentierung und Personalisierung der Mediennutzung bei. Daher sollte zu Beginn der Krise eine deutlich geringere soziale Einigkeit darüber geherrscht haben, welche Maßnahmen die angemessenen sind. Gleichzeitig bewahrt abgrenzendes Verhalten natürlich auch die Besonderheit und Erkennbarkeit sozialer Gemeinschaften, was ja insbesondere im Jugendalter wichtig erscheint.
Was ist aus sozialpsychologischer Sicht für das Verhalten von Menschen zu erwarten, wenn die Beschränkungen aufgehoben werden?
Freiheiten, die eingeschränkt werden, erscheinen uns subjektiv plötzlich umso wertvoller und begehrenswerter. Wir nennen das „Reaktanz“. Daher ist sicherlich einerseits mit einem erhöhten Drang nach sozialen Kontakten und dem Bad in Menschenmengen zu rechnen. Gleichzeitig könnten sich – je nach Dauer der Krise – natürlich auch neue soziale Konventionen des Kontakts eingestellt haben.
Beispielsweise könnten virtuelle private Kontakte, dienstliche Sitzungen oder auch Schulstunden sich viel normaler anfühlen und wir viel besser darin geübt sein. Dies könnte die Realität unser Sozialpraktiken nachhaltig verändern. Sollten wir die Corona-Krise am Ende gemeinschaftlich bewältigt haben, könnte sich die Zuversicht einstellen, auch die viel größeren kollektiven Menschheitskrisen zusammen angehen zu können. Klimawandel und Artensterben machen schließlich keine Corona-Pause.
Coronavirus: „Wohnumfeld“ als 5-Kilometer-Regel? „Nicht praktikabel“ laut Polizei Leipzig
Coronavirus: „Wohnumfeld” als 5-Kilometer-Regel? „Nicht praktikabel“ laut Polizei Leipzig
Hinweis der Redaktion in eigener Sache
Natürlich werden auch die L-IZ.de und die LEIPZIGER ZEITUNG in den kommenden Tagen und Wochen von den anstehenden Entwicklungen nicht unberührt bleiben. Ausfälle wegen Erkrankungen, Werbekunden, die keine Anzeigen mehr schalten, allgemeine Unsicherheiten bis hin zu Steuerlasten bei zurückgehenden Einnahmen sind auch bei unseren Zeitungen L-IZ.de und LZ zu befürchten.
Doch Aufgeben oder Bangemachen gilt nicht 😉 Selbstverständlich werden wir weiter für Sie berichten. Und wir haben bereits vor Tagen unser gesamtes Archiv für alle Leser geöffnet – es gibt also derzeit auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de ganz ohne Paywall zu entdecken.
Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere selbstverständlich weitergehende Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.
Vielen Dank dafür.
Keine Kommentare bisher