Menschen im Ausnahmezustand werden schnell ungeduldig. Kaum sinkt das Fieber, möchte der Kranke wieder aufstehen. Kinder wollen nach einer Grippe so schnell wie möglich wieder zum Spielen nach draußen. Die Arbeit ruft, auch wenn das Herz noch schmerzt. So werden auch noch in der Krankheit die STOP-Signale überfahren. Genau dieses jedem Menschen sehr vertraute Verhalten spiegelt sich in der seit Tagen entbrannten Diskussion darüber wider, wann der sogenannte „Shutdown“, also das systematische Herunterfahren des öffentlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Lebens, beendet werden kann.
Natürlich wird die Debatte noch durch absolut nachvollziehbare Existenzängste derer befeuert, deren Einnahmen sich als Selbstständige oder Arbeitnehmer/-innen von einem Tag auf den anderen in bis zu Nichts auflösen. Betont fürsorglich lassen sich die Bundeskanzlerin, die Ministerpräsident/-innen und Virologen vernehmen: Nein, der Zeitpunkt für diese Diskussion ist noch nicht gekommen. Bis zum 19. April 2020 wird der Shutdown auf jeden Fall andauern – und damit auch die Diskussion darüber.
Doch leider erdrückt diese Debatte eine Auseinandersetzung, die politisch, gesellschaftlich dringend geboten ist: Wie wollen wir denn – abseits von Abstandsregeln – nach dem Shutdown das öffentliche, soziale, wirtschaftliche, kulturelle Leben wieder hochfahren? So, als wäre nichts geschehen? So, als ob es nur darum ginge, in Zukunft mehr Atemmasken und Schutzbekleidungen für den Notfall zu lagern? So, als ginge es jetzt nur noch darum, die Wirtschaft wieder schnell ins Laufen zu bringen, um möglichst bald den „Status quo ante“ zu erreichen?
So, als hätte unsere Lebensweise nichts mit dem Virus zu tun?
Abseits aller Verschwörungstheorien (das Virus sei eine gezielt Kampfwaffe des internationalen Finanzkapitals) und aller Verharmlosungen (Covid-19 sei nicht gefährlicher als ein normaler Grippevirus) – wenn ich mich richtig erinnere, dann haben die Klimaforscher schon seit langem davor gewarnt, dass eine Folge des globalen Klimawandels das Aufkommen von Viren sein wird, die sich global schnell ausbreiten und die zu bekämpfen sich als äußerst schwierig herausstellen wird.
Covid-19 ist kein „chinesischer“ Virus, wie Donald Trump nicht müde wird zu behaupten. Covid-19 ist lediglich in China entdeckt worden. Die Möglichkeit, dass ein solches Virus auch in Schweden oder auf Teneriffa erstmals auftaucht, ist genauso gegeben. Also kommt es jetzt darauf an, dass jede/r die Zeit der Entschleunigung seines/ihres Alltags dazu nutzt, sich zu fragen: Wie soll es denn nach dem 19. April weitergehen, wenn sich wieder „Normalität“ einstellt?
Natürlich fällt es jedem von uns schwer, von lieb gewordenen Gewohnheiten Abschied zu nehmen.
Aber eine sehr persönliche, kritische Bestandsaufnahme ist für jede/n angebracht. Es würde uns auch sehr helfen, wenn wir den Zusammenhang von Coronavirus und Klimawandel ernst nehmen, wenn wir also alle Maßnahmen für den Klimaschutz verstärken, anstatt diese weiter als Hemmnis für das Wirtschaftswachstum zu verdrängen. Alle Häme gegen FridaysForFuture ist deshalb völlig unangebracht. Ihr Klima-„Streik“ war – um im Bild des Arbeitskampfes zu bleiben – der Vorlauf für die „Aussperrung“, die uns – und zwar Arbeitnehmer/-innen wie Vorständen – global verordnet wurde.
Jetzt geht es darum, die Bedingungen des globalen Zusammenlebens neu zu justieren. Dabei kommt es darauf an, dass die Rückkehr zur Normalität nicht dazu missbraucht wird, um alle missliebigen und dringend zu beschließenden Maßnahmen für den Klimaschutz erst einmal außer Kraft zu setzen bzw. nicht in Angriff zu nehmen. Vielmehr sollte die Zeit des Shutdowns genutzt werden, um das Hochfahren der Wirtschaft ohne aus Kohle gewonnene Energie zu erreichen; um die Autoproduktion entschlossener umzustellen.
Dazu gehört, dass wir das Mobilitätsverhalten kritisch überprüfen – sowohl im Berufsleben wie bei der Freizeitgestaltung, in der Wirtschaft wie in der Kultur. Dazu gehört, dass wir die durch das Coronavirus erzwungenen Beschränkungen des Lebens in Freiwilligkeit umwandeln. Dazu gehört, sehr genau abzuwägen zwischen digitaler und analoger Kommunikation.
Und noch ein „Wie“ ist überfällig
Wie wollen wir in Zukunft in Europa leben? Ein Europa, dem jede friedenspolitische Vision abhandengekommen ist? Ein Europa, das seine eigenen Werte auf Lesbos im Schlamm überfüllter Flüchtlingslager verrotten lässt und die Menschenwürde mit Füßen tritt? Ein Europa, das meint, mit der Reaktivierung von Grenzen globale Entwicklungen abwehren zu können statt Zusammenarbeit zu verstärken? Ein Europa, das jede Solidarität, die über Spontanhilfe hinausgeht, vermissen lässt?
Solange wir uns vor diesen Fragen drücken, sie nicht offen debattieren, werden wir die Einflugschneisen für neue Viren, vor allem auch für den Virus Rechtsnationalismus und Autokratie, öffnen. Übrigens: Für letztere Viren liegt der Impfstoff schon bereit: „Im Bewusstsein vor Gott und den Menschen … als Glied in einem geeinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk … dieses Grundgesetz gegeben“ (Präambel des Grundgesetzes).
Kümmern wir uns also in der geschenkten Zeit um das „Wie“ – jede/r an seinem Ort durch Wort und Tat.
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P.S. Manch einer vermisst einen Abschnitt zum Thema „Wie weiter in der Kirche?“. Dazu jetzt nur ein paar Hinweise. Sie müssen später vertieft werden:
- Welche Bedeutung hat die digitale Kommunikation für Seelsorge und Verkündigung bzw. soll sie bekommen? Wie sieht das Verhältnis von digitaler und analoger Kommunikation aus?
- Wie gehen wir mit der Sehnsucht nach Bedeutung und Anerkennung derer um, die das gesellschaftliche Alleinsein besonders stark verspüren – gerade in einer Krisenzeit, in der alle zusammenrücken und damit Randgruppendasein noch schmerzlicher wird?
- Welche Bedeutung messen wir der Gerechtigkeit zu in einer Zeit, in der wir in Kirchgemeinden angesichts einbrechender Einnahmen Personalkürzungen/Kurzarbeit vornehmen müssen?
- Krisenbewältigung in einer säkularen Gesellschaft: Woraus ziehen Menschen Kraft und woran knüpfen sie an und was ist der Beitrag der Kirchen?
Gastkommentar von Christian Wolff: Die große Unterbrechung
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