Heute, am 21. März 2020, ist der 335. Geburtstag von Johann Sebastian Bach (1685–1750). Aus diesem Anlass musizieren Menschen aus aller Welt wie am Krankenbett, auf das unsere Welt niedergeworfen wurde und gefesselt ist, den Choral von Paul Gerhardt (1607–1676): „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt“.

Es lohnt, sich dieses Video anzusehen und anzuhören, sich dadurch trösten und stärken zu lassen. Beim Hören sollte jede/r einmal versuchsweise die derzeitige beunruhigende, Ängste auslösende Lage unserer Welt mit einer plötzlich eintretenden Erkrankung – eine starke Grippe, ein Bandscheibenvorfall, ein Herzinfarkt – bei sich selbst vergleichen (wohl wissend, dass jeder Vergleich hinkend ist): Wie fühlen wir uns, wenn wir plötzlich nicht mehr so können, wie wir wollen?

Through Music We Are Connected

Natürlich denken wir zunächst: Ist nicht so schlimm … und: Ich darf jetzt nicht ausfallen; ich muss noch unbedingt an der Sitzung teilnehmen; darf die Feier, das Fußballspiel, das Treffen nicht verpassen. Doch dann merken wir: Es geht nicht. Die Kräfte fehlen. Eine heftige Niederlage des eigenen Egos: Das Leben geht weiter ohne mich. Nicht ich bin der Akteur, sondern nun werde ich behandelt, wird über mich verfügt. Ursache: die Krankheit.

Wirklich? Denn wenn ich da liege, müde und matt, die vergangenen Wochen reflektiere, dann wird mir bewusst: Eigentlich hast du dich schon seit Wochen nicht mehr wohlgefühlt, hast nur noch funktioniert, warst getrieben, Stress wie in einem Hamsterrad, hast den Zusammenbruch kommen sehen. Und dann die schmerzliche Erkenntnis: Du hast zahllose STOP-Schilder überfahren – solange, bis dich die Krankheit aus dem Verkehr gezogen hat.

Genau das findet derzeit global statt: Unsere Erde ist vor dem STOP-Schild Coronavirus zum Stillstand gekommen und auf der Krankenstation gelandet – nachdem alle STOP-Schilder, die gerade durch den Klimawandel unübersehbar waren und mittels zahlloser Katastrophen deutlich aufblitzten, überfahren wurden.

Das Bewusstsein von der Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten ist zusammengebrochen. Hilflosigkeit und Ängste machen sich breit. Denn die Folgen des Coronavirus sind unabsehbar. Auf die Frage: Was wird aus dieser Erde, wenn sie wieder auf die Beine kommt? wagt kaum einer eine Prognose.

Aber dann treten sie ans Krankenlager, die Ärzte: kluge, nüchterne, menschlich kommunizierende, und die anderen: die arroganten Halbgötter in Weiß, die alles wissen, keine Kooperation brauchen und auf die eigenen Radikalmethoden setzen. Das sind die Merkels, Scholz, Spahns, Dreyers, Drostens auf der einen und die Trumps, Johnsons, Bolsonaros und zahllosen Verschwörungspropheten auf der anderen Seite.

Die einen appellieren an die Selbstheilungskräfte des Körpers und verordnen Entschleunigung, die anderen bedienen sich einer martialischen Kriegsrhetorik und meinen weiter, alles im Griff zu haben. Ja, wir können in Deutschland bei aller Einzelkritik froh sein um das zumeist umsichtig, menschennah agierende „medizinische Personal“ auch in der Politik.

Und wir können froh sein um die klare Aufteilung der Verantwortlichkeiten: die Regierung, die pragmatisch die politischen, sozialen, finanziellen Rahmenbedingungen setzt für die nächsten Wochen. Diese können aber nur umgesetzt werden, wenn alle Bürgerinnen und Bürger mitmachen – nicht im blinden Gehorsam, sondern in Wahrnehmung ihrer demokratischen Verantwortung.

Und schließlich sind da die vielen Menschen, die in Praxen, Kliniken, Dienstleistungszentren dafür sorgen, dass die medizinische, soziale Grundversorgung von uns allen gewährleistet bleibt. Ebenso wichtig sind aber auch Institutionen wie die Kirchen, die einen Beitrag zu leisten haben, um Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Vertrauen, Zuversicht, Gewissenhaftigkeit zu stärken und den Blick immer wieder vom eigenen Ich auf den/die andere/n, vom eigenen Land auf globale Zusammenhänge, von den eigenen Schwierigkeiten und Problemen auf das viel größere Leid bei anderen zu lenken.

Hier haben wir als Kirche, als Kultureinrichtungen viel zu tun – wohl wissend, dass Gottvertrauen, Hoffnungskraft, Zuversicht zur Gesundung ebenso wichtig sind wie die notwendige medizinische Versorgung oder die Botschaft „Through music we are connected“. Darum verleiht gerade ein Choral wie „Befiehl du deine Wege“ neue Kraft, schärft den Blick, schenkt Aussichten und Geistesgegenwart – nicht als Ersatz für irgendeine notwendige materielle Maßnahme, sondern als Ausgangspunkt dafür, diese zu ergreifen und verantwortlich zu handeln.

So jedenfalls verstehe ich die 7. Strophe des Chorals: Auf, auf, gib deinem Schmerze / und Sorgen gute Nacht, / lass fahren, was das Herze / betrübt und traurig macht; / bist du doch nicht Regente, / der alles führen soll, / Gott sitzt im Regimente / und führet alles wohl.

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