Heute gibt's ein paar lustige Zahlen und Fakten, heute schlage ich eine Schneise durchs Dickicht der Ökonomie und des gewerkschaftlichen (Des-)Organisiertseins. So denn, auf in den Wald! Auf nach Island!
Zugegeben, in Island gibt’s gar keinen Wald, zumindest keinen, der den Namen verdient, aber dafür haben sie Gewerkschaften. Und eine davon ist groß, auch wenn man bei 350.000 Isländern natürlich nur bedingt von groß sprechen kann. Aber was macht’s. Der Isländische Gewerkschaftsbund, die Icelandic Confederation of Labour, ist für isländische Verhältnisse jedenfalls groß. Um nicht zu sagen riesig. 105.000 Mitglieder.
Das ist nicht nur die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung, sondern – gemessen an der Mitgliederzahl – genau so viel wie die Gewerkschaft der Amerikanischen Briefzusteller auf dem Lande hat, die National Rural Letter Carriers’ Association.
Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, warum ich über isländische Gewerkschaften und amerikanische Landpostboten schreibe. Ob ich vielleicht nichts Besseres zu tun habe? (Hab ich). Ob ich als Schriftsteller nicht auch mal wieder einen Roman schreiben muss? (Muss ich). Und ob ich nicht auch eine Familie habe, um die ich mich kümmern sollte? (Hab ich, muss ich, werd ich).
Aber solange die Bälger ihre bleichen Gesichter in den Handydisplays spiegeln und der Lektor kopfschüttelnd über dem Manuskript des neuen Romans sitzt, kann ich frohgemut durch den gewerkschaftlichen Zahlen- und Zauberwald stromern. Vielleicht treff ich ja dort Donald Trump. Oder eine isländische Elfe. Oder zumindest einen Postboten, der mir Landei aus dem Muldental endlich mal eine Karte aus Amerika bringt.
Einen Brief aus Washington hab ich vor einigen Tagen immerhin schon bekommen. War zwar nur ein digitaler, aber dafür wurde er frei Haus geliefert, direkt in mein Postfach. Absender war das Bureau of Labour Statistics, eine Abteilung des Arbeitsministeriums der Vereinigten Staaten, die die US-Regierung im Bereich der Arbeitsökonomie und der Wirtschaftsstatistik berät. Klingt spannend, nicht wahr?
Jedenfalls hat mir das Statistikbüro einen Haufen Daten und Zahlen in den E-Mail-Eingang gekippt, in der Hoffnung, dass ich was draus mache. (Wussten Sie, dass nur 3,5 % der amerikanischen Kellner gewerkschaftlich organisiert sind? Und dass sie im Schnitt in der Woche 666 Dollar verdienen? Teuflisch gute Informationen, nicht wahr?!)
Aber gut, was mich noch mehr als Servierkräfte interessiert, sind diejenigen, die abserviert werden. Und das sind die Gewerkschaften selbst. Der Anteil der Arbeiter und Angestellten, die in den USA gewerkschaftlich organisiert sind, ist 2019 nämlich weiter gesunken und zwar von 10,5 auf 10,3 Prozent. Damit sind noch gerade mal noch 14,6 Millionen Arbeiter und Angestellte Mitglied einer Gewerkschaft.
Wie kann das sein? Wirtschaftlich geht es den USA doch ganz gut. Und an Donald Trump kann es – zumindest auf den ersten Blick – auch nicht liegen. Schließlich haben ihn 2016 viele Gewerkschaftsmitglieder gewählt. Seit Ronald Reagan hatte kein republikanischer Präsidentschaftskandidat mehr so viele Stimmen von Gewerkschaftlern bekommen wie Donald Trump. Außerdem hat Trump die Gewerkschaftsbosse hofiert, sie ins Oval Office eingeladen und erklärt, solange er Präsident ist, stehe die Tür des Weißen Hauses offen für sie. (Zumindest für die Vertreter der Ruß- und Rumpel-Industrien wie Kohle, Auto und Stahl. Die Gewerkschaft der Briefzusteller hat Trump dagegen noch nie eingeladen und auch sonst noch nie ein Wort über sie verloren. Wahrscheinlich weil sie Briefe bringen. Und Briefe mit Lesen verbunden sind. Und Lesen mag Dyslexic Donnie nunmal nicht gern).
Aber wie dem auch sei. Trump hat den Gewerkschaftsbossen jedenfalls in aller Öffentlichkeit Honig ums Maul geschmiert – und der für die Gewerkschaftsmitglieder zuständigen Behörde hinterrücks die Mittel gekürzt. Womit wir beim National Labor Relations Board wären, also jener Behörde, die dafür verantwortlich ist, die Rechte der Arbeitnehmer zu schützen. Zum Beispiel wenn sie sich gewerkschaftlich organisieren wollen. Oder Wahlen abzuhalten gedenken. Oder in Tarifverhandlungen stehen. Oder sich gegen unlautere Arbeitspraktiken engagieren. Oder oder oder …
Die Aufgaben der Behörde sind jedenfalls äußerst zahlreich. Ganz im Gegensatz zu den Dollars, die sie dafür von der Trump-Regierung erhält, denn die hat dem National Labor Relations Board sechzehn Millionen aus dem Budget gestrichen. Was nicht nur dazu geführt hat, dass der Behörde die Mittel, sondern inzwischen auch die Mitarbeiter ausgehen.
Mehr Geld bekommt dagegen das Office of Labor-Management Standards, das gewissermaßen die Gegenseite vertritt, das heißt die Gewerkschaften kontrolliert, ihre Finanzen und Funktionäre überprüft, die Mitgliederlisten checkt und auch sonst dafür sorgt, dass niemand behumst, bestochen oder sonst irgendwie bevor- oder benachteiligt wird.
Im Grunde eine sinnvolle Sache, vor allem wenn man bedenkt, dass Gary Jones, Boss der mächtigen United Auto Workers-Gewerkschaft, im Jahr 2015 in einem Zigarrengeschäft in Arizona an nur einem einzigen Tag 13.000 Dollar an Mitgliedsbeiträgen in Rauch aufgehen ließ. (Immerhin bekam Jones wegen seiner Großbestellung zu Weihnachten vom Besitzer des Rauch- und Schmauch-Shops eine handgeschriebene Dankeskarte geschickt, was zumindest die Briefträgergewerkschaft gefreut haben dürfte.)
Aber das macht das Kraut am Ende auch nicht mehr fett. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder sinkt jedenfalls seit Jahren. Und das, obwohl die amerikanische Wirtschaft wächst und wächst. Und sich immer mehr Menschen einen stärkeren Einfluss der Gewerkschaften wünschen. Die Mitgliederzahlen steigen trotzdem nicht an.
Obwohl das Einkommen von Arbeitern und Angestellten, die von einer Gewerkschaft vertreten werden, in fast allen Branchen deutlich höher liegt als das Einkommen von nicht gewerkschaftlich Repräsentierten (außer bei Managern, die bekommen mehr, wenn sie nicht in einer Gewerkschaft sind – aber das war irgendwie zu erwarten…)
Wie sich das Dilemma auflösen lässt, ist aus dem Datenhaufen, den mir die Statistiker vor die digitale Tür gekippt haben, nicht unmittelbar zu ersehen. Aber es gibt Grund zu der Annahme, dass es nicht zuletzt am Dienstleistungsgewerbe liegt, wo die Mitarbeiterzahlen silvesterfeuerwerksmäßig in die Höhe schießen, während die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder aus (Arbeits-)Klimaschutz-Gründen am Boden verweilt. (Von den über neun Millionen Menschen, die in Bars, Cafés, Restaurants und sonstigen Fress- und Saufbuden arbeiten, sind gerade mal 1,4 % Mitglied einer Gewerkschaft.)
Hinzu kommt, dass in vielen Bundesstaaten auch jene Arbeiter und Angestellten, die nicht in einer Gewerkschaft organisiert sind, von gewerkschaftlich erstrittenen Lohnsteigerungen profitieren.
Wobei die Sache mit den Lohnzuwächsen und dem Wirtschaftsaufschwung meist glorreicher aussieht als sie eigentlich ist. Denn Fakt ist, dass der ökonomische Daueraufschwung vor allem den Besserverdienenden zugute kommt. Deshalb wächst mit jedem Monat, in dem die us-amerikanische Wirtschaft zulegt, auch die Ungleichheit in den Einkommen. Was wiederum auch etwas mit dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Arbeiter und Angestellten zu tun hat, denn historisch gesehen sind die Einkommensungleichheiten in den USA immer dann besonders hoch, wenn der Prozentsatz der Gewerkschaftsmitglieder niedrig ist.
Wenn dieser Desorganisiert-euch-Trend so weitergeht, wird in nicht allzu ferner Zukunft der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder in den USA ungefähr dort liegen, wo in Island der des Waldes an der Gesamtfläche liegt – nämlich bei 0,5 %. Aber die Isländer können sich trösten. Denn erstens wird hier und da aufgeforstet, und zweitens haben sie den weltweit höchsten Grad an gewerkschaftlicher Organisiertheit. Über 90 % der Arbeiter und Angestellten sind Mitglied einer Gewerkschaft.
Die Einzigen, die an diesen Fabelwert rankommen und ihn sogar noch übertreffen, sind – Sie werden’s kaum glauben – ein paar amerikanische Briefträger. In der Briefträger-Gewerkschaftsgruppe Nummer 82 in Portland haben sie nämlich vor Kurzem die 95 %-Marke geknackt. Aber dort sitzen die Gewerkschaftsfunktionäre auch nicht in teuren Zigarrengeschäften rum, sondern gehen auf die Straße und protestieren gegen Donald Trump, der in ihren Augen kein Präsident, sondern ein „korrupter Rüpel“ ist, der den gesamten Regierungsapparat mit „rechtskonservativen Lakaien“ besetzt hat, um seine gewerkschaftsfeindliche Politik durchzudrücken. Und so wie es aussieht, gelingt ihm das auch.
Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.
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