Das ist der Lauf der heutigen Dinge: In der täglichen Nachrichtenflut verschwimmt nicht selten die Chronologie der Ereignisse, Tatsachen gehen unter, tauchen als Halbwahrheiten wieder auf und werden zu Gerüchten, die sich mit der Zeit zu reinen Fiktionen auswachsen und im Kleid vermeintlicher Fakten im großen Nachrichtenstrom ihr Unwesen treiben. Deshalb hier zunächst mal eine kleine Erinnerung an das Jahr 2016: Damals forderte der Oberbürgermeister der Stadt Salzgitter, Frank Klingebiel (CDU), eine Zuzugsperre für Flüchtlinge.
In der Folge wurde in ganz Deutschland über diese Maßnahme diskutiert, zumal mehrere Städte und Gemeinden bereits Ähnliches planten. Ihr Versuch, sich gegen die Aufnahme weiterer Flüchtlinge zu wehren, war spätestens 2017 eines der politischen Top-Themen.
In den TV-Studios der Nation gaben sich Kommunalpolitiker die Klinke in die Hand, in den Zeitungen liefen die Kommentarspalten voll und in den sozialen Medien kochte – mal wieder – die Volksseele über. Und als sei das alles noch nicht genug, schickte der Oberbürgermeister der sächsischen Stadt Freiberg, Sven Krüger (SPD), im April 2017 Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Rechnung über 736.200 Euro, die er für Flüchtlinge ausgegeben hatte und nun beglichen wissen wollte.
Seitdem sind zweieinhalb Jahre vergangen. In Salzgitter ist der Zuzugstopp seit Oktober 2017 wirksam. Das Land Niedersachsen hatte damals mit der Genehmigung einen Präzedenzfall geschaffen, dem sich inzwischen im gesamten Bundesgebiet zahlreiche Städte und Gemeinden angeschlossen haben. Freiberg ist eine von ihnen. Die Stadt nimmt seit 2018 keine Flüchtlinge mehr auf und hat diese Maßnahme im Juni 2019 auf unbestimmte Zeit verlängert.
Dennoch spielt das Thema Zuzugsperre hierzulande – zumindest medial – aktuell keine große Rolle mehr. Dafür ist es in den USA angekommen, wo man die Entwicklungen in Europa sehr genau beobachtet und die eigenen Einwanderungsbestimmungen entsprechend angepasst hat. Aber auch im Land selbst soll es Veränderungen in der Flüchtlingspolitik geben. Die Trump-Regierung hat jedenfalls das politische Potential von Zuzugstopps erkannt – nur berichtet darüber hierzulande fast niemand.
Dabei hat Trump am 26. September ein entsprechendes Dekret unterschrieben, das noch am selben Tag in Kraft getreten ist. Er gibt Regierungen von Bundesstaaten, Counties und Stadtverwaltungen des Recht, eigenständig über die Aufnahme neuer Flüchtlinge zu entscheiden. Aber in den hiesigen Medien findet sich darüber kaum ein Wort, und auch die seit September in zahlreichen Städten und Counties im Land aufflackernden Diskussionen bleiben seltsamerweise unerwähnt.
Dabei bewegt das Thema in den USA die Menschen nicht weniger als in Deutschland. Es genügt, sich zu Illustrationsgründen mal die Diskussionen anzuschauen, die diese Woche in Bismarck geführt wurden, der Hauptstadt des Bundesstaates North Dakota, die zugleich Verwaltungssitz des Burleigh County ist.
Die County Commission, die über die Frage der Flüchtlingsaufnahme entscheidet, hatte die Sitzung extra in eine Schul-Cafeteria verlegt, um dem zu erwartenden Andrang Herr zu werden. Aber selbst die Cafeteria reichte nicht aus, um all die Menschen zu fassen. Über 500 waren gekommen, um der Entscheidungsfindung der fünfköpfigen Kommission beizuwohnen oder sich an der Diskussion zu beteiligen.
Mehr als 50 meldeten sich mit Redebeiträgen zu Wort. Die Kommissionsmitglieder hörten zu, brachten selbst Argumente und Gegenargumente vor und gaben das Wort dann wieder ins Auditorium zurück. Viereinhalb Stunden lang ging das so.
Die Gegner des Zuzugstopps erklärten, man brauche die Flüchtlinge, da in manchen Gewerben schon jetzt Arbeiter fehlten. Überdies wolle man, dass Leute nach Burleigh County kommen und dort investieren, da auf diese Weise alle am American Dream partizipierten. Zudem sei es ein Akt gebotener Nächstenliebe, Flüchtlinge aufzunehmen.
Die Befürworter des Flüchtlingsstopps erklärten dagegen, die entstehenden Kosten seien unüberschaubar. Außerdem gebe es bereits genug Hilfsbedürftige, um die man sich kümmern müsse und deren Versorgung schon jetzt nicht gewährleistet sei.
Applaus gab es für Redner beider Seiten – aber immer nur aus einer Seite des Raumes, denn Befürworter und Gegner hatten sich weitgehend getrennt in der Cafeteria platziert. Die einen links, die anderen rechts – und in der Mitte ein Gang, der es beiden Seiten erlaubte, nach vorn zu treten und ihre Meinung zu sagen.
Am Ende entschied die County Commission mit 3 zu 2 Stimmen, weiterhin Flüchtlinge aufzunehmen. 25 waren es bisher und 25 sollen es auch im kommenden Jahr für das gut 80.000 Einwohner zählenden Burleigh County sein.
Worüber aber seltsamerweise niemand sprach, war die Geschichte des Ortes, an dem die Diskussion stattfand. Die Stadt Bismarck, die zu Teilen auf dem ehemaligen Gebiet des Stammes der Mandan-Indianer liegt, war 1872 unter dem Namen Edwinton von europäischen Siedlern gegründet und nur ein Jahr später in Bismarck umbenannt worden. Man wollte dadurch den deutschen Reichskanzler ehren, erhoffte sich aber vor allem, auf diese Weise mehr deutsche Einwanderer in die Gegend zu locken und ein paar zahlungskräftige „German investors“ für den Eisenbahnbau zu gewinnen.
Aber wie so oft war es nicht die Politik, sondern das Gold, das die Leute ins Land zog, und nachdem 1874 welches gefunden worden war, kamen sie auch. Aber damit endet die „deutsche Geschichte“ von Bismark noch nicht, denn während des Zweiten Weltkriegs gab es direkt südlich der Stadt ein Internierungslager, in dem hauptsächlich deutsche Emigranten und Kriegsgefangene untergebracht waren. Und auch heute finden sich noch überall Anklänge an die deutsche Geschichte, schließlich haben über 50 % der Einwohner von Bismarck deutsche Wurzeln.
Das alles wäre Stoff genug für eine große Reportage. Aber keiner schreibt sie. Und ich habe nicht die Möglichkeiten dazu. Ich hocke in meinem kleinen sächsischen Dorf und komme nicht weg. Ich muss dem Töchterchen bei den Abiturvorbereitungen helfen, die Schafe füttern und den Hühnern die Eier aus dem Nest klauen, um sie meinem Großvater zu bringen, der mit einem Fläschchen Sekt am Fenster sitzt und die fünf Autos zählt, die jede Stunde hier vorbeikommen. Ich bin der rasende Reporter meiner eigenen kleinen Welt.
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