Sie gehört für mich zu einer der eindrücklichsten Geschichten zur Weihnacht: das „Märchen vom Auszug aller ‚Ausländer‘“, 1991 verfasst von Helmut Wöllenstein, jetzt Propst in der Hessen-Nassauischen Landeskirche, und erstmals veröffentlicht als Morgenandacht im Hessischen Rundfunk.
Diese Geschichte müsste gerade in hiesigen Regionen auf jeder Vereins- und Betriebs-Xmas-Feier vorgelesen werden, damit den Sprücheklopfern bei gestiegenem Alkoholpegel und der feinen Gesellschaft beim gepflegten Weihnachtsschmaus ihre rassistischen Zoten im Halse stecken bleiben und sie vielleicht doch die „Klarheit des Herrn“, also die Vernunft, umleuchtet (vgl. Die Bibel: Lukas 2,9). Wenn dem dann noch ein heilsames Erschrecken, nämlich Furcht, folgt, besteht die Möglichkeit, dass sich daraus Weihnachtsfreude entwickelt – Freude darüber, dass Gott uns aus unserer dunklen Niedertracht herausführt.
Es war einmal, etwa drei Tage vor Weihnachten, spät abends. Über dem Marktplatz der kleinen Stadt kamen ein paar Männer gezogen. Sie blieben an der Kirche stehen und sprühten auf die Mauer „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen“. Steine flogen in das Fenster des türkischen Ladens gegenüber der Kirche. Dann zog die Horde ab. Gespenstische Ruhe. Die Gardinen an den Fenstern der Bürgerhäuser waren schnell wieder zugefallen. Niemand hatte etwas gesehen.
„Los kommt, wir gehen.“ „Wo denkst Du hin! Was sollen wir denn da unten im Süden?“ „Da unten? Da ist doch immerhin unsere Heimat. Hier wird es schlimmer. Wir tun, was an der Wand steht: ‚Ausländer raus‘!“ Tatsächlich: Mitten in der Nacht kam Bewegung in die kleine Stadt. Die Türen der Geschäfte sprangen auf. Zuerst kamen die Kakaopäckchen, die Schokoladen und Pralinen in ihrer Weihnachtsverkleidung. Sie wollten nach Ghana und Westafrika, denn da waren sie zu Hause.
Dann der Kaffee, palettenweise, der Deutschen Lieblingsgetränk: Uganda, Kenia und Lateinamerika waren seine Heimat. Ananas und Bananen räumten ihre Kisten, auch die Trauben und Erdbeeren aus Südafrika. Fast alle Weihnachtsleckereien brachen auf. Pfeffernüsse, Spekulatius und Zimtsterne, die Gewürze aus ihrem Inneren zog es nach Indien. Der Dresdner Christstollen zögerte. Man sah Tränen in seinen Rosinenaugen, als er zugab: Mischlingen wie mir geht’s besonders an den Kragen. Mit ihm kamen das Lübecker Marzipan und der Nürnberger Lebkuchen.
Nicht Qualität, nur Herkunft zählte jetzt. Es war schon in der Morgendämmerung, als die Schnittblumen nach Kolumbien aufbrachen und die Pelzmäntel mit Gold und Edelsteinen in teuren Chartermaschinen in alle Welt starteten. Der Verkehr brach an diesem Tag zusammen. Lange Schlangen japanischer Autos, vollgestopft mit Optik und Unterhaltungselektronik, krochen gen Osten. Am Himmel sah man die Weihnachtsgänse nach Polen fliegen, auf ihrer Bahn gefolgt von den Seidenhemden und den Teppichen des fernen Asiens.
Mit Krachen lösten sich die tropischen Hölzer aus den Fensterrahmen und schwirrten ins Amazonasbecken. Man musste sich vorsehen, um nicht auszurutschen, denn von überall her quoll Öl und Benzin hervor, floss in Rinnsalen und Bächen zusammen in Richtung Naher Osten. Aber man hatte ja Vorsorge getroffen. Stolz holten die deutschen Autofirmen ihre Krisenpläne aus den Schubladen: Der Holzvergaser war ganz neu aufgelegt worden. Wozu ausländisches Öl?!
Aber die VW’s und BMW’s begannen sich aufzulösen in ihre Einzelteile, das Aluminium wanderte nach Jamaika, das Kupfer nach Somalia, ein Drittel der Eisenteile nach Brasilien, der Naturkautschuk nach Zaire. Und die Straßendecke hatte mit dem ausländischen Asphalt auch immer ein besseres Bild abgegeben als heute.
Nach drei Tagen war der Spuk vorbei, der Auszug geschafft, gerade rechtzeitig zum Weihnachtsfest. Nichts Ausländisches war mehr im Land. Aber Tannenbäume gab es noch, auch Äpfel und Nüsse. Und die „Stille Nacht“ durfte gesungen werden – allerdings nur mit Extragenehmigung, das Lied kam immerhin aus Österreich! Nur eines wollte nicht in das Bild passen: Das Kind in der Krippe, sowie Maria und Josef waren geblieben. Ausgerechnet drei Juden! „Wir bleiben“, sagte Maria, „denn wenn wir auch aus diesem Land gehen, wer will ihnen dann noch den Weg zeigen – zurück zur Vernunft und zur Menschlichkeit?“
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