Ja, ich hatte mir eine andere Doppelspitze gewünscht: Michael Roth und Christine Kampmann. Aber hätte sich dieses Paar gegen Olaf Scholz und Klara Geywitz durchgesetzt – es wäre ein ähnliches, mediales Lamento angestimmt worden wie jetzt, da Norbert Walter-Borjans und Saskia Eskin die designierten Vorsitzenden der SPD sind. Darum die gute Nachricht vorneweg: Endlich ist es vorbei, das Vorsitzenden-Casting der SPD!
Hoffentlich der letzte Ausfluss einer zerrütteten Parteizentrale, die seit Jahren den Niedergang der SPD befördert hat – zuletzt mit der Absurdität, die Kandidatenkür über Wochen zu strecken und während drei Landtagswahlkämpfen in ostdeutschen Bundesländern durchzuführen. Nun haben die SPD-Mitglieder mit klarer Mehrheit Walter-Borjans und Esken zum Vorsitzendenpaar für den Parteitag nominiert – und allein die Tatsache, dass es zwei Sozialdemokrat/innen sind, die vor August 2019 niemand auf dem Schirm hatte, sorgt dafür, dass alles neu sortiert werden muss. Ohne einen solchen Start keine Erneuerung.
Denn diese hat ja bis jetzt nicht wirklich stattgefunden. Dass viele Medien mit dem Votum der SPD-Mitglieder fast noch größere Schwierigkeiten haben als Führungsriegen historisch gewachsener Institutionen, sei am Rande bemerkt. Hoffentlich befördert diese Situation eine programmatische und organisatorische Neuausrichtung der SPD. Es ist die letzte Chance. Darum verdienen Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken jetzt allseitige Unterstützung innerhalb der SPD.
Alles Gerede, sie seien unerfahren und keine Sympathieträger, sie seien nicht ausreichend vernetzt und könnten es nicht, sollte verstummen – bis zu dem Zeitpunkt (der hoffentlich nicht eintritt), dass sie die jetzigen Negativschlagzeilen durch eigenes (Zu-)Tun gerechtfertigt werden.
Der SPD-Parteitag am kommenden Wochenende muss aber nicht nur die Doppelspitze wählen, sondern auch den Vorstand neu besetzen. Da ist es ein gutes Signal, dass Klara Geywitz ihre Kandidatur als stellvertretende Parteivorsitzende in Aussicht gestellt hat. Denn eines muss der SPD und ihrer neuen Doppelspitze klar sein: Ohne eine wieder belebte SPD in den ostdeutschen Ländern kann sie bundesweit nicht über 20 Prozent kommen – einmal ganz abgesehen davon, dass die SPD in Ostdeutschland eine sehr junge Partei ist.
Da muss die Gesamtpartei kräftig investieren und das Personalangebot aus den ostdeutschen Landesverbänden annehmen. Vor allem aber muss die SPD alles dafür tun, dass sie ihre Basis in den Kommunen nicht weiter schmälert. Die Wiederwahl von Burkhard Jung (SPD) zum Oberbürgermeister von Leipzig am 2. Februar 2020 erfährt da eine besondere Bedeutung. Die neue Parteispitze wird gut daran tun, das Ziel strategisch zu unterstützen – zumal Burkhard Jung in einem nicht parteipolitisch gebundenen Amt gezeigt hat, wie sich sozialdemokratische Grundsätze in konkretem Handeln umsetzen lassen.
In den nächsten Wochen wird aber entscheidend sein, dass die SPD endlich zwei Sackgassen verlässt bzw. sich da nicht länger hineindrängen lässt:
- Sackgasse eins: Das ewige sich Abarbeiten an der Agenda 2010. Nicht sie kann und darf Negativ-Maßstab für das politische Handeln sein, sondern es müssen jetzt die politischen Entscheidungen auf den Weg gebracht werden, die der sozialen Gerechtigkeit dienen und denen zugutekommen, denen es an gesellschaftlicher Teilhabe mangelt.
- Sackgasse zwei: Die leider nicht nur medial, sondern auch innerparteilich hochgezogene Frage: Große Koalition ja oder nein, drin bleiben oder die Regierung platzen lassen. Die SPD muss eine ganz andere Frage beantworten: unter welchen Bedingungen sie am besten ihre Programmatik umsetzen kann. Vielleicht erweist es sich jetzt als große Chance, eine Parteiführung zu haben, die programmatisch unabhängig von Regierung und Fraktion handeln kann – und so dafür sorgt, dass zunächst und vor allem die Mitglieder in den Ortsvereinen und so Regierungshandeln zu einem dynamischen Prozess wird. Eines aber sollte auch klar sein: Das Mitgliedervotum zur Doppelspitze war kein Votum gegen die Regierungsbeteiligung der SPD auf Bundesebene.
Nun wird es darauf ankommen, dass die Sozialdemokratie programmatisch wieder interessant und attraktiv wird für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen. Das geht nicht von heute auf morgen.
Es wird nur gelingen, wenn die SPD Themen aufwirft und diese inhaltlich entfaltet, durch die wieder viele Bürgerinnen und Bürger angesprochen werden können: friedenspolitische Ausrichtung des vereinten Europas; Klimaschutz und diesem angepasste Mobilität; Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt als Ziele der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik; Bedeutung und Anwendung von digitaler und analoger Kommunikation in der Bildungspolitik und Demokratieentwicklung; positive Verankerung der Grundwerte der Verfassung im gesellschaftlichen Alltag.
Nur wenn es gelingt, dafür Menschen innerhalb und außerhalb der Partei in Anspruch zu nehmen, wird die Sozialdemokratie das Label „Auslaufmodell“ ablegen können. Hoffen wir, dass wir am kommenden Wochenende eine SPD im Aufbruch erleben. Vielleicht hilft ja den Delegierten, sich vom Bibelwort für den 2. Advent motivieren zu lassen: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Die Bibel: Lukas 21,28)
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