Das ist schon nicht mehr schizophren – es ist entlarvend, wenn der „Spiegel“ am 21. Dezember ein Interview mit „Ludger Heidbrink, 58, ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Kiel“, veröffentlicht und es mit der Überschrift aufmotzt: „Wer wählt die Grünen? Die mit dem größten CO2-Fußabdruck“. Schizophren ist es deshalb, weil dasselbe Magazin schon am 28. Juni das völlige Gegenteil berichtete: „Grün wählen, SUV fahren – das ist nur ein Klischee.“ Damals übrigens mit Fakten, nicht mit dem Bauchgefühl eines Moralprofessors.
Denn um nichts anders geht es ja bei Ludger Heidbrink, der „Spiegel“-Interviewer Alexander Kühn gleich mit Beginn des Interviews in die berühmte deutsche Moral-Ecke führt. Mit Betonung auf „deutsche“, da wird es nämlich gefühlig. So wie in der Medienberichterstattung der großen deutschen Zeitungen und Magazine, denen der Zeigefinger vor lauter Moralisierei ja schon ganz steif geworden ist.
Nur. Sie zeigen auf die Falschen.
Und sie prägen falsche Bilder.
„Herr Heidbrink, ist es okay, beim Shoppen einfach nur an sich zu denken – und nicht an Umweltschutz und Menschenrechte?“, fragte der „Spiegel“.
Und Heidbrink antwortete: „Wenn wir es rein moralisch betrachten: nein. Dazu wissen wir inzwischen zu gut, was unser Konsum anrichten kann. Aber wir sollten uns vor lauter Moral nicht die Lust am Konsum nehmen lassen.“
Konsum sei etwas, was ursprünglich gar nicht moralisch bewertet wurde, behauptet der Kieler Professor noch. „Die Moral kam erst in jüngster Zeit dazu.“ Und dann sagt er einfach mal forsch: so seit den 1990er Jahren.
Entweder hat er alle Geschichtsfächer abgewählt in der Schule oder er lebt wirklich im Elfenbeinturm. Nicht mal den legendären Brecht-Spruch scheint er gehört zu haben: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“
Zu hören seit 1928 in der „Dreigroschenoper“.
Konsum hatte schon immer eine moralische Dimension. Sogar schon bei den alten Griechen, die der Professor augenscheinlich auch nicht gelesen hat, denn die machten sich sehr viele Gedanken über Konsum, Völlerei und Übermaß. Und das hielten sie in den Sagen über zwei bis heute berühmte Könige fest: König Midas und Krösus. Beides Idealgestalten für Leute, die vor lauter Gier nach immer mehr nicht mehr wissen, wo die Grenze ist.
Erstaunlich, dass ein Kieler Moralprofessor das nicht weiß. Und die Völlerei der Gegenwart (für die das Wort Konsum nur eine Verschleierung ist) nicht mit den mahnenden Erzählungen der Griechen in Verbindung bringt, die genau hier nämlich die Frage nach dem glücklichen Leben ansetzten. Sehr wohl wissend, dass Glück eben nicht die Erfüllung aller Wünsche ist, sondern erstaunlicherweise gerade in der klugen Beschränkung auf das wirklich Wesentliche beginnt.
Damit macht der „Spiegel“ aber auch deutlich, wie die Verdrängungsmechanismen in den großen Medienhäusern passieren.
Denn am 20. Dezember brachte der „Spiegel“ ja noch so ein Scheinheiligen-Interview, diesmal mit dem großen Verdränger Christian Lindner, Chef der FDP, der gleich mal vor einer „Verzichtsideologie“ warnte. Motto: „Viele Menschen haben auch noch andere Sorgen als das Klima“.
Diesen Leuten ist nicht mal verständlich, dass Menschen aus reinen Vernunftgründen ihr Konsumverhalten ändern, freilich auch aus Qualitätsgründen – denn ein Leben mit gesunden Nahrungsmitteln, viel Fahrradfahren, Verzicht auf teure Anschaffungen schafft auch (oder gerade erst) Lebensqualität.
Dass die Legende von den SUV-fahrenden Grünen-Wählern überhaupt in die Welt kam, hat mit einem anderen Effekt zu tun, mit Bildung, Qualifikation und Urbanisierung.
Denn die Verkoppelung von Grünen-Wählern und SUV-Bestand hat ja statistische Ursachen. Grünen-Wähler dominieren in Großstädten und dort besonders in innenstadtnahen und attraktiven Vierteln. Sie haben überdurchschnittlich hohe Schulabschlüsse und Berufsqualifikationen – was unter anderem dazu führt, dass sie sich ein bisschen öfter mit den Folgen ihres Lebenswandels beschäftigten. Die Grüne-Partei ist ja kein Placebo, sondern Ergebnis einer Wählerstimmung.
Aber die Grünen leben in ihren Vierteln ja nicht allein. Denn auch andere Parteianhänger leben (gern) in der Großstadt und in lebendigen Vierteln. Nur dass sie eben seltener mit dem Rad fahren, sondern – auch aus Prestige-Gründen im Beruf – große schwere Autos fahren. Und natürlich gibt es auch Leute, die von ihren Lastern nicht loskommen und trotzdem grün wählen. Der Mensch ist ja kein Rein-Produkt.
Aber die Grünen sind auch nur der Ersatz-Esel, der hier mit Wonne von Leuten geprügelt wird, bei denen man nicht mal mehr raten möchte, was die eigentlich auf ihrem Wahlzettel ankreuzen.
Es geht um etwas anderes. Das schwingt in Lindners „Verzichtsideologie“ mit: Verachtung und Angst.
Denn dass Grünen-Wahlergebnisse in Stadtteilen besonders hoch sind, wo auch der Besatz an großen Autos hoch ist, hat etwas mit Einkommen zu tun und mit dem Bild, wie bürgerliche Medien heutzutage Wohlstand definieren. Da denkt kein Schwein an Selbstgehäkeltes, Urban Gardening oder Lastenrad, sondern genau an den ganzen überflüssigen Status-Bembel, mit dem sich um ihr Ansehen besorgte Bürgerlein umgeben, um die Nachbarn, den Chef, die Kollegen zu beeindrucken.
Sie füllen die Leere, die sie eigentlich leben, mit lauter teuren Luxusartikeln, benehmen sich also genauso wie der zunehmend überflüssig gewordene Adel des Barockzeitalters, der Prunk und Protz geradezu zum Lebensinhalt machte.
Menschen mit niedrigen Einkommen aber können sich den ganzen Protz nicht leisten und leben deshalb eher notgedrungen relativ klimaschonend – aber halt eher in billigeren Wohnungen am Stadtrand. Oft nicht einmal ahnend, dass das auch ein Wert ist und dass selbst die Dinge, mit denen sie sich ein Leben lang umgeben müssen, dadurch einen höheren Wert bekommen als all der glänzende Babel, den sich die Zu-gut-Verdienenden ständig kaufen und logischerweise auch gleich wieder entsorgen. Es sind nicht die Geringverdiener, die unsere Müllberge wachsen lassen, sondern die Zu-gut-Verdiener. Die aber ohne ein Angstbild nicht auskommen. Und das Angstbild ist „Verzicht“.
So ein wenig steckt das in der von Heidbrink erwähnten „Scheinheiligkeit“. Aber die wirklich Scheinheiligen wählen andere Parteien, die ihren völlig sinnfreien Konsum gar nicht erst infrage stellen oder durch politische Weichenstellungen (wie die CO2-Abgabe) gar verteuern. Wer Grün wählt, rechnet auch damit, dass die Grünen sich ab und zu mal durchsetzen.
Dass also etwas Vernunft „von oben“ durchgesetzt wird, also von unten, denn damit erfüllen sie ja einen Wählerauftrag. Genug Wähler wollen, dass für unseren Konsum endlich ein paar vernünftige Regeln eingeführt werden. Regeln, die wir begreifen und nach denen wir uns richten können. Und die es leichter machen, eine vernünftige Wahl zu treffen.
Dann muss es eben übers Geld funktionieren und jeder, der von einem unvernünftigen Verhalten nicht lassen kann oder will, muss dafür bezahlen. Das hat – anders als Heidbrink meint – nichts mit Moral zu tun, sondern mit Vernunft. Manche von uns sind sehr wohl in der Lage, das Vernünftige zu tun oder zumindest vieles davon.
Aber wir dürfen auch nicht vergessen – und da liegt Heidbrink eben völlig falsch – dass die Grundlage unserer jetzigen Gesellschaft das Gegenteil von vernünftig ist. Denn die basiert auf permanenten Steigerungsraten in allen Bereichen, was so gern mit dem Wort „Wachstum“ kaschiert wird. Und das Wachstums-Mantra vertritt keine Partei so rigoros wie die FDP.
Einfach ignorierend, dass alle Ressourcen endlich sind und die Folgen dieses wilden Wachsens überall schon sichtbar sind. Und die Bewohner dieser Gesellschaft werden auf dieses Mantra hin geprägt, es wird ihnen eingeimpft von Kind an. So funktioniert nicht nur alle Werbung (man beachte die freche Autowerbung gleich neben dem Scheinheiligkeits-Artikel. DAS ist scheinheilig. Aber es ist eingebaut. Auch in den „Spiegel“), sondern auch im politischen Framing.
Denn wer das Vernünftige zu Ende denkt, der weiß, dass wir mit Verbrennern und Flugzeugen und vielen, vielen anderen wirklich unnützen Dingen unser Klima nicht retten. Und in der Folge auch unsere Gesellschaft nicht. Es geht also – konsequent gedacht – einer Menge fossilen Konzernen an den Kragen. Und sie wehren sich mit Händen und Füßen. Und nutzen alle Register, ihre Moral in die Köpfe der Menschen zu hämmern. Denn nichts anderes steckt hinter Lindners „Verzichtsideologie“. Das ist Moral. Fett aufgetragen und vorwurfsvoll in das Magazin gekippt, das augenscheinlich nur zu bereit ist, das, was es gestern veröffentlicht hat, heute noch zu wissen.
Was das mit dem Menschen in dieser Gesellschaft wirklich anrichtet, darüber hat ein anderer Philosoph schon viel tiefgründiger und ehrlicher geschrieben: Jürgen Große, dessen Bände „Der gekränkte Mensch“ wir hier schon vor einiger Zeit besprochen haben.
Denn all das, worauf die Verkünder der „Verzichtsideologie“ meinen, nicht verzichten zu müssen, ist nichts als Plombe, Ersatz, Surrogat für ein Leben, das die in lauter Abhängigkeiten verstrickten Malocher, Angestellten und Umgetriebenen nicht leben können. Der wilde Konsum kaschiert nur, wie unglücklich sich die meisten Menschen heute in ihren Beschäftigungsverhältnissen fühlen. Und wie ratlos sie sind, aus diesem Tretrad herauskommen zu können. Denn wer das Tretrad verlässt, wird auch fallengelassen.
Davon erzählt übrigens auch die gärende Unruhe in unseren Provinzen.
Das Thema ist riesengroß. Aber mit den Plattitüden von „Wachstum“ und „Verzicht“ kommt man ihm nicht bei. Das sind Vokabeln, mit denen man die Leser für dumm verkauft, sie in ein falsches Denken zwingen will. Denn irgendwer will ja all seinen Quark an Menschen verkaufen, die aus lauter Verzweiflung nur noch im Shoppen Erfüllung sehen.
Die ganze Serie „Nachdenken über … “
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