Wie sehr sich die Diskussionen in unserer westlichen Welt doch gleichen – und sich dabei zugleich unterscheiden. „Die Menschen sollten nur noch 1 Mal pro Monat Fleisch kaufen.“ Das ist eine Vision, die hierzulande viele haben. Fleisch ist schließlich einer der großen Klimakiller – und die Temperaturen steigen und steigen. „Die Menschen sollten nur noch 1 Mal pro Monat eine Waffe kaufen.“ Das ist eine Vision, die in den USA gerade populär gemacht werden soll. Waffen sind schließlich einer der großen Menschenkiller – und die Todeszahlen steigen und steigen.
Dass das mit den eingeschränkten Waffenverkäufen in den USA überhaupt als reale Vision hingestellt werden kann und nicht die sarkastische Fiktion eines … sagen wir … Schriftstellers ist, ist eigentlich bezeichnend genug. Aber noch bezeichnender wird’s, wenn man erfährt, dass die Forderung nach maximal zwölf Waffenkäufen pro Jahr nicht der Vorstoß irgendeines Republikaners ist, dem ob der vielen Amokläufe und Schulschießereien ein paar Zweifel an der aktuellen Gesetzeslage gekommen sind, sondern dass diese Forderung von einer Demokratin aufgestellt worden ist. Elizabeth Warren ist ihr Name, und sie ist eine der aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidatinnen ihrer Partei. Die Forderung nach „nur“ einer neuen Waffe pro Monat hat sie in das Programm geschrieben, mit dem sie auf großer Wahlkampftour ist.
Elizabeth Warren ist aber nicht die Einzige, die sich zum Thema Waffengewalt äußert. Erst vor wenigen Tagen ist eine Studie des Children’s Defense Fund erschienen und deren Ergebnisse verstören. Und zwar mindestens so sehr wie der Gedanke, dass es schon ein Fortschritt sei, wenn sich die Leute künftig nur noch einmal im Monat ein neues Sturmgewehr kaufen.
Die Zahlen der Studie sind jedenfalls auch so schon verstörend genug. 2017 wurden in den USA 21.611 Kinder und Jugendliche durch Schusswaffen verletzt, 3.410 davon tödlich. Das ist die höchste Zahl seit 1998. Umgerechnet erleidet somit in den USA alle 24 Minuten ein Kind oder Teenager eine Schussverletzung. Aufs Ganze gerechnet sterben in den Vereinigten Staaten durch Schusswaffen mehr Kinder und Teenager als an Krebs, HIV, Lungenentzündungen, Influenza, Asthma und Opioiden zusammen. Schussverletzungen sind in den USA bei jungen Menschen zwischen 1 und 19 Jahren inzwischen die zweithäufigste Todesursache. Bei schwarzen Kindern und Teenagern nimmt der Tod durch Schusswaffen sogar die traurige Spitzenposition ein.
Und das Problem ist nicht neu, es existiert seit vielen Jahrzehnten – und wird deswegen von manchen kaum noch als Problem erkannt. Dabei sind in den vergangenen 65 Jahren in den USA vier Mal so viele Kinder und Teenager durch Schusswaffen gestorben wie amerikanische Soldaten bei Kampfhandlungen in den Kriegsgebieten dieser Welt. (Und die USA haben einige Kriege geführt…)
Kein Wunder, dass Kinder und Jugendliche in den USA ihren Politikern nicht nur Briefe mit Klimaappellen schreiben, sondern von ihren traumatischen Erfahrungen mit Amokläufen berichten oder sich einfach nur wünschen, sie mögen nicht in der Schule erschossen werden. Nicht nur Trump bekommt solche Briefe, auch die Demokraten kriegen sie. Die Angst, in der Schule Opfer eines Amoklaufs zu werden, ist spätestens seit Columbine Teil des Alltags geworden. Nicht umsonst werden die nach 1999 Geborenen „Generation Columbine“ genannt. Was diese Kids eint, ist, dass sie eine Welt ohne School Shootings nicht kennen.
Aber was tun? Die Demokraten haben auf Bundesebene aktuell nicht die Macht, an der Gesetzeslage grundlegend etwas zu ändern. Ihre Präsidentschaftskandidaten können nur Pläne machen. Aber im Weißen Haus sitzen sie nicht. Dort residiert und regiert nach wie vor Donald Trump, und der hat trotz großspuriger Ankündigungen, etwas gegen die wachsende Zahl an Amokläufen unternehmen zu wollen, bisher noch keine konkreten Vorschläge gemacht, wie er die Waffengewalt eindämmen will.
Bisher habe ich immer geglaubt, die National Rifle Organisation (NRA) halte Trump und die im Senat regierenden Republikaner durch ihre Spendengelder von strengeren Waffengesetzen ab. Aber vielleicht war das zu einfach gedacht. Denn tatsächlich stellen die Gelder von der NRA nur einen winzigen Bruchteil der Spendensummen republikanischer Abgeordneter dar. Meist bewegen sich die Anteile im Promillebereich, und selbst bei besonders NRA-nahen Abgeordneten machen die Spenden der Waffenlobby kaum mehr als 0,5 % dessen aus, was diese Leute insgesamt einnehmen.
Die Weigerungshaltung der Republikaner, wirklich etwas zu tun, muss also einen anderen Grund haben als Geld, auch wenn Geld gewiss eine Rolle spielt. Aber man sollte nicht unterschätzen, dass die NRA noch ganz andere Möglichkeiten hat, als den republikanischen Kandidaten einfach nur Kohle in die Taschen zu stopfen, damit sie bei der nächsten Abstimmung wieder fröhlich „Feuer frei!“ rufen.
Nein, die Möglichkeiten der NRA sind weitaus vielfältiger – und auch subtiler. Sie bezahlt mit Kontakten. Und davon gibt es in dem riesigen Netz, das sie im Laufe von Jahrzehnten gesponnen hat, mehr als genug. Genau wie lukrative Posten für die Zeit nach der Politik. Und wo das Zuckerbrot nicht hilft, wirkt noch immer die Peitsche. Republikanischen Politikern, die sich mit strengeren Waffenkontrollen anfreunden können, macht die NRA das Leben gern mal zur Hölle, auch wenn der Einfluss der NRA durch interne Skandale in letzter Zeit ein wenig gelitten hat. Trotzdem: Die NRA dreht TV-Spots gegen unliebsame Abgeordnete noch immer schneller als der gemein(t)e Politcowboy seinen Colt ziehen kann. Oder seinen Anwalt einschalten.
Aber so weit kommt es oft gar nicht. Denn wenn sich (junge) Politiker entscheiden, aufs republikanische Pferd zu setzen, um eine Karriere zu starten, dann entscheiden sie sich im Grunde von vornherein gegen strengere Waffengesetze, sonst werden sie von der Partei bzw. ihren Wählern gar nicht erst ins Rennen geschickt. Man könnte auch sagen: Ohne Revolver kein Republikaner. Das lässt sich sogar statistisch belegen. 63 % der Haushalte, in denen es eine Schusswaffe gibt, haben 2016 Donald Trump gewählt, 31 % Hillary Clinton. Bei Haushalten ohne Schusswaffe war das Zahlenverhältnis nahezu identisch – nur umgekehrt. Da gingen 65 % an Clinton und 30 % an Trump.
Und es sind wohlgemerkt keine Luftgewehre, die die Leute zu Hause im Waffenschrank haben. Und es ist auch nicht allein die NRA, die sie dazu bringt, die Knarren zu kaufen. Waffenbesitz ist für viele Amerikaner integraler Bestandteil ihrer Kultur, und für nicht wenige gilt: nichts formt die eigene Identität mehr als der Laufe einer Waffe. Deshalb werden alle Versuche, die Waffengesetze zu verschärfen, von vielen als Angriff auf das eigene Ich wahrgenommen – und deshalb sind auch die Reaktionen so heftig. Und das nicht nur bei „einfachen Bürgern“.
Als der demokratische Präsidentschaftsbewerber Beto O’Rourke kürzlich eine deutliche Verschärfung der Waffengesetze forderte, antwortete ihm der republikanische Abgeordnete Briscoe Cain: „Mein Sturmgewehr ist bereit für dich.“
Briscoe Cain – der Name klingt nach einem Revolverheld aus einem schlechten Roman. Aber Briscoe Cain ist real. Genau wie seine Visionen. Und er ist einer, der sie auch umsetzen kann. Wenn schon nicht als Mord am politischen Gegner, so doch als Gesetz für die eigenen Leute. Briscoe Cain ist schließlich nicht umsonst Vertreter der Republikaner in Texas geworden.
Aber wie so oft zeigen und formieren sich die wahren Prägekräfte, Werte und Visionen einer Kultur nicht an ihren Rändern und in ihren Extremen, sondern in der Mitte der Gesellschaft – und in den Wünschen, die dieser Mitte entspringen.
„Wir müssen ein Land werden, das seine Kinder mehr liebt als seine Waffen“, forderte der demokratische Präsidentschaftskandidat Eric Swalwell im Juni während einer TV-Debatte, bei der sich alle Kandidaten der Partei vorstellen konnten. Dass sich jemand so etwas wünschen kann, ja, wünschen muss, ist bezeichnend. Aber mindestens ebenso bezeichnend, um nicht zu sagen symptomatisch ist es, dass es einem Demokraten wie Swalwell, der eine stärkere Waffenkontrolle zum Top-Thema seines Wahlkampfes gemacht hat, nicht gelungen ist, damit zu punkten. Aufgrund schlechter Umfrageergebnisse hat Eric Swalwell seine Kandidatur zwei Wochen nach der Debatte zurückgezogen.
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Hintergrund für die Fleischdebatte im ersten Absatz.
Direkt zum „Tagebuch eines Hilflosen“.
Auszüge aus Francis Neniks „Tagebuch eines Hilflosen“
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