So müssen die Freizeit-, Präventions- und Förderangebote für die wachsende Gruppe der Lückekids im öffentlichen Raum dringend ausgebaut werden. Sie drängen in die Öffentlichkeit. Sie überrennen die Freizeiteinrichtungen im Viertel. Sie sind laut und dürsten nach Aufmerksamkeit. Und sie werden immer mehr. Sie sind: DIE LÜCKE-KINDER! Was wie der Trailer zum neuesten Monsterfilm klingt, ist die etwas überspitzte Darstellung einer Entwicklung, die nicht nur wir Mobilen Jugendarbeiter*innen bereits seit einigen Jahren verfolgen.

Doch was sind Lücke-Kinder überhaupt? Der Begriff entstammt der Kinder- und Jugendarbeit und bezeichnet „eine nicht eindeutig abzugrenzende Altersgruppe von etwa 9- bis 13-jährigen Kindern“ (1). Die Lücke entsteht dadurch, dass die Racker für klassische Kinder-Angebote (z.B. den Schulhort) bereits zu alt sind bzw. diese nicht mehr attraktiv finden, für „echte“ Jugendangebote (z.B. Jugendclub) dann aber doch noch etwas zu jung sind. Sie mäandern also sowohl in Bezug auf adäquate Angebote als auch im entwicklungspsychologischen Selbstverständnis in einer Lücke umher. Und sie sind ständig auf der Suche nach Möglichkeiten, diese Lücke für sich zu schließen.

Ein Beispiel aus der Praxis: Eines lauen Sommernachmittags kam ein 10-jähriger Junge zu unserem Grünauer „Kübel“ geradelt. Auf dem Gepäckträger hatte er seinen 9-jährigen Kumpel dabei. Beide quälte Langeweile. Da wir nicht geöffnet hatten, empfahlen wir ihnen das Spielmobil, welches gerade in der Nähe Station machte. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein nonverbales Interesse über ihre Gesichter – bevor der Jüngere vom Gepäckträger aus in betont coolem Tonfall bekrittelte: „Die haben doch dort bestimmt nur so Kinder-Spielzeug!“ Und kurz darauf machten sie sich auf den Weg.

Sie sind also da, sie sind Viele, und sie brauchen passende Angebote sowie (Frei-)Räume, um nicht schon frühzeitig der Gefahr von Entwicklungsdefiziten anheim zu fallen, die im späteren Verlauf nur noch schwierig zu kompensieren sind. In Grünau – um bei diesem Beispiel zu bleiben – gibt es diesbezüglich bereits einige Lichtblicke. So übt hier insbesondere das Offene Kinderhaus der Caritas – inklusive des dazugehörigen Bauspielplatzes – eine ganz besondere Anziehungskraft auf die Lückekids aus. Die Projektgruppe „greater form“ bietet jener Altersgruppe ebenfalls eine Plattform, aktiv mitzugestalten. Und auch die bereits erwähnten Spielmobile haben natürlich nicht nur Kinder-Spielzeug an Bord.

Doch selbst mit allerbestem Willen können diese Angebote den Ansturm der Lückekids nicht abdecken. Und so sehen sich die Offenen Jugendtreffs und auch wir als MJA zunehmend mit der Altersgruppe Lücke-Kinder konfrontiert – einer Altersgruppe, die z.B. im ursprünglichen Handlungskonzept von Mobiler Jugendarbeit gar nicht wirklich enthalten ist. Und hier wird es ambivalent. Einerseits ist es klar, dass wir als Streetworker*innen auf die sich ändernden Bedingungen im Kiez adäquat und konstruktiv zu reagieren versuchen. Andererseits sehen wir es aus fachlicher Sicht als bedenklich an, wenn sich die eigentliche Kernzielgruppe – nämlich die Jugendlichen – aufgrund der hohen Präsenz der Lücke-Kinder aus den ursprünglich für sie vorgehaltenen Angeboten allmählich zurückziehen bzw. sich die Ressourcen verknappen, die wir ihnen zur Verfügung stellen können.

Daher bedarf es neuer, externer Angebote, die genau auf die Bedürfnisse der Lückekids zugeschnitten sind. Wie im Zuge der Pilotstudie „Die soziale Welt der ‚Lückekinder‘“ (2)(3) festgestellt wurde, erleben diese die für ihr psychisches Wachstum so wichtige Selbstwirksamkeit vor allem im buchstäblichen Zu-Eigen-Machen von Plätzen bzw. Räumen. Das heißt, sie suchen bevorzugt Orte auf, die geeignet sind, sie entsprechend der eigenen Bedürfnisse „umzufunktionieren“. Ein Skaterplatz wird dann z.B. nicht mehr primär zu einem Ort, an dem man sportlich aktiv sein kann, sondern bietet eher ein attraktives Ambiente, um mit Freunden abzuhängen, dabei Teil einer gewissen Öffentlichkeit zu sein und die Anlage je nach Laune für mehr oder weniger angedachte Zwecke benutzt.

Ein geeigneter Platz sollte laut des Artikels „Die Umfunktionierung von Plätzen“ (3) von seinem Nutzungskonzept her also offen genug sein, um noch herausfordernd zu wirken und Entscheidungen abzuverlangen. Das könnten beispielsweise auch Brachflächen, Natur oder Baulücken sein, die für Lückekids frei verfügbar bleiben sollten, also weder pädagogisiert noch kommerzialisiert werden sollen. Denn, so das Fazit des o.g. Artikels: „Lücke verlangt nach Uneindeutigkeit“. Es ist also an der Zeit, Mut zur Lücke zu beweisen.

Quellen:
(1) Wikipedia, Suchbegriff „Lückekinder“: https://de.wikipedia.org/wiki/Lückekinder, zuletzt aufgerufen am 29.09.2019 um 23:03 Uhr

(2) Manuela Gulde, Katharina Steinicke, Franziska Köhler-Dauner, Kathrin Mörtl, Jörg M. Fegert, Ute Ziegenhain: „Die soziale Welt der ‚Lückekinder‘. Analyse einer vergessenen Gruppe“, In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis, Ausgabe 2/2016, Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (Hrsg.), S. 43-48

(3) Katharina Steinicke, Kathrin Mörtl, Manuela Gulde, Ute Ziegenhain, Jörg M. Fegert: „Die Umfunktionierung von Plätzen. Aneignungsprozesse im öffentlichen Raum in der Altersgruppe der Lücke-Kinder“, In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis, Ausgabe 2/2016, Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (Hrsg.), S. 49-53

Download der kompletten Ausgabe unter: https://www.kjug-zeitschrift.de/de/Ausgabe/2016-2

Infos zur Thesen-Aktion: Anlässlich seines 25-jährigen Bestehens hat der Mobile Jugendarbeit Leipzig e.V. einen Kalender mit 25 Thesen aus der Praxis zusammengestellt. Diese beziehen sich auf aktuelle Gegebenheiten und Entwicklungen in Gesellschaft und Jugendarbeit, auf die die Streetworker des Vereins in ihrer täglichen Arbeit stoßen. Die Thesen sollen zum Nachdenken und zur Diskussion anregen – und im Idealfall den Anstoß für einen Veränderungsprozess geben.

Mehr Infos zur Mobilen Jugendarbeit Leipzig e.V.:
www.kuebelonline.de

These #10: Die Angst vor Status- und Fördermittelverlust in der Sozialen Arbeit verhindert Politisierung.

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