LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 72, seit 25. Oktober im HandelIhr Ministerpräsident in spe ist entsetzt. Von einer Tat, bei der nicht klar ist, ob die Dummheit des Angreifers oder die Hysterie der Menschen in den Stunden nach dem Anschlag das bedenklichere Moment darstellt.
„Geh rein und töte alles”
Der Täter von Halle, dessen Name unwichtiger ist, als die offensive Nennung desselben in den großen Medien von „Bild“ bis „Spiegel“ suggeriert, sei weltfern und sozial abgeschottet gewesen. Doch daran glaube ich nicht. Er besaß nur einen völlig anderen, für viele mittlerweile mythisch aufgeladenen Sozialraum, nämlich ein virtuelles Nahfeld von Menschen, die ihre Sozialität durch Tastendruck bedienen. Natürlich ist der Täter ein soziales Wesen, sicherlich entfremdet und enttäuscht durch das „Real Life“, aber dafür umso stärker verwachsen mit einer Szene, die ihre Anerkennung misst an der Zahl ermordeter Menschen.
Als der Täter feststellt, dass er sein Hauptziel, die Ermordung von mehr als 60 Menschen in der Synagoge von Halle, nicht erreichen wird, bezeichnet er sich selbst als Verlierer, wohl wissend, wie es abfällige Kommentare in der Hass-Community für seine mangelhafte Erfolgsquote hageln wird. Er wird kein neuer Christchurch-Held werden.
Am deutlichsten wird dieses gekränkte Ego, das sich Macht und Dominanz herbeigesehnt hat, an der Ermordung von Jana L. Eine 40-jährige Frau, die ihn antrifft, als er vor der Mauer des jüdischen Friedhofs steht und Sprengsätze zündet. Ob es denn gerade jetzt sein müsse, wenn sie hier langgeht, dass er seine Böller zündet. Die denkbar gelassenste Reaktion auf einen Menschen, der sich Ruhm und Größe ersehnt hatte, herbeigeführt durch sein mörderisches Tun.
Doch diese bewundernswert beiläufigen und doch so angemessen abschätzige Bemerkung im Angesicht eines selbst ernannten Kämpfers gegen die „New World Order“, lassen den Täter all seine Prinzipien vergessen. Sie war keine Jüdin, keine Muslima, keine Antifa-Aktivistin, sie war ein deutscher Schlagerfan. Und doch schießt ihr der Täter in den Rücken, denn er kann es nicht ertragen, dass er in seiner wichtigsten Stunde die denkbar tiefste Kränkung durch diese Frau erfährt: Ignoranz.
Er will die Welt in Flammen setzen, ein Reiter der Apokalypse sein, heldenhaft den Bürgerkrieg entfesseln gegen die, die das deutsche Volk, alle Völker, vermeintlich unterjochen und ausrotten wollen. Doch Jana L. ignoriert das, kann und will nicht erkennen, dass er mit seinem Tun Geschichte schreiben will. Aus Rache für diese Ignoranz erschießt er sie.
Our Motto: Apokalypse Now
„Das Grauen und der moralische Terror sind deine Freunde“, sagt Colonel Kurtz in Coppolas „Apokalypse Now“ (das „Motto“ das auf einer Tempelmauer seines Dschungellagers geschrieben steht). Es ist die Endstufe der Verrohung, die Ultima Ratio des Einzelkämpfers, der alle hergebrachten zivilisatorischen Standards fahren lässt. Es wird damit eine Situation der Notwehr konstruiert, die das Schlachten rechtfertigt. Es ist der Wunsch nach dem Ausnahmezustand, dem Endkampf, der endlich zeigen soll, wer wirklich wertvoll genug ist im Kampf um das Dasein, den Endsieg zu erringen.
Aus dem Bekennerschreiben ist zu entnehmen: der Täter hielt mehr Gedanken zur Umsetzung der Tat fest, als zur Begründung derselben. Im „tl;dr“ („Too long; didn‘t read“, also eine Kurzzusammenfassung) spricht er von „Geh rein und töte alles.“, „Töte noch mehr. Wiederhole, bis alle Juden tot sind“.
Intellektuelle Brillanz sieht anders aus. Sicherlich ist diese Tat auch als Ausdruck einer Abwehr gegen das Komplexe, das Differenzierte, das Denken selbst zu lesen, ist die rechte Ideologie doch seit jeher von einer Feindlichkeit gegenüber Intellektualität bestimmt. Komplizierte Gedanken seien ja schon immer eine jüdische Erfindung: man muss nur einmal „Werke“ Alfred Rosenbergs, dem Chef-Ideologen der Nationalsozialisten, lesen.
Das Beängstigende daran ist die Verfänglichkeit dieser Überlegungen. Sicher, die Tat von Halle hat keinen Bürgerkrieg hervorgerufen, mehr eine Welle der Entrüstung, von ganz links bis sogar sehr weit rechts. Doch sagt der Täter selbst, er hätte sich schlussendlich zum Handeln entschlossen, als der Anschlag von Christchurch geschehen war. Es war seine Inspiration, seine Motivation, sein „Du kannst das auch!“.
Ein Begriff, der sich dafür bildet ist der stochastische Terrorismus. Dieser stellt die Entwicklungspyramide der Radikalisierung auf die Füße der diskriminierenden Sprache. Die Pyramide verjüngt sich nach oben hin, bis zu den einigen wenigen, die aus der Ideologie aus dem Internet Taten für das Internet werden lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, doch in Deutschland erkennt man durch diese erste Tat ihrer Art aus dem rechten Verschwörungsumfeld, dass einer aus Hunderttausend immer noch einer ist, der Mord und Terror auf die Straße trägt.
Ich möchte nicht in der Haut der Sicherheitsbehörden stecken, die solche Wahrscheinlichkeiten aufklären müssen.
„Knistert alles nieder, was ihm vor die Flinte läuft“
Am Tag des Anschlages verfolgt ihr MP in spe a. D. die Medien. Aus einer nicht näher bekannten Quelle kommen Meldungen rein, mehrere Täter seien unterwegs, Unzählige seien angeschossen, ein Täter sei „gerade mit einem Taxi unterwegs durch Leipzig und knistert alles nieder…“. Durchaus, die Versuchung ist groß, in Situationen der Angst um Leib und Leben, den Falschmeldungen Glauben zu schenken, schlimmer noch, mehrere Falschmeldungen zu neuen, immenseren Falschmeldungen zu vermengen und in Form von Sprachnachrichten durch alle Verteiler zu jagen.
Die Hysterie ist hochansteckend und bläst die Wirkung der Tat auf zu einem Ballon der falschen Tatsachen. Jeder Informationsstrohhalm wird ergriffen, im Streben darum, am besten im Bilde über die Lage zu sein. Der Live-Ticker-Wettbewerb der großen Nachrichtenhäuser um die heißesten News ist der marktwirtschaftliche Ausdruck dieses Strebens. Es lässt sich von Glück sprechen, dass keine übereifrigen Bürgerwehren oder Prepper-Kollektive zu den Waffen griffen und anfingen, auf vermeintliche Terror-Taxis zu schießen. Ruhig Brauner, ruhig.
Umso beeindruckender die Reaktion von Jana L.. Sie musste für ihre Gelassenheit mit ihrem Leben bezahlen. Sie hat an diesem Tag dem Täter von Halle den größten Schlag versetzt. Rodig rät: Man nehme sich ein Beispiel an dieser Heldin der Gleichmütigkeit. Macht diese abscheulichen Taten nicht größer als sie sind. Tut alles dafür, dass diese abscheulichen Taten bleiben, was sie sind. Die Tat eines kleinen, dummen Mannes.
Es verbleibt andächtig, Ihr MP in spe a.D.
Tom Rodig
Die Gedenkveranstaltung zu Halle am 10. Oktober 2019 in Leipzig
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