Sie bleibt ein großartiges Ereignis in der europäischen Geschichte: die Friedliche Revolution. Der 9. Oktober 1989 ist ein Tag, der nicht vergessen werden darf: 70.000 Menschen zogen in Leipzig um den Ring, um ein offenes Land mit freien Menschen einzufordern. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte stand die evangelische Kirche auf der richtigen Seite der Barrikaden. Sie erwies sich als das „Basislager der Friedlichen Revolution“ (Werner Schulz).
Daran gilt es jedes Jahr neu zu erinnern, wie den Umstand zu feiern, dass das System von Demütigung und Entmündigung des SED-Staates ohne Gewalt, mit Kerzen und Gebeten, zum Einsturz gebracht werden konnte. Mit der Öffnung (!) der Grenzen wurde der langjährigen Friedens- und Ostpolitik eines Willy Brandt und Egon Bahr zum Durchbruch verholfen.
Die dann folgende Vereinigung der beiden deutschen Staaten war nur möglich, weil das neue Deutschland sich als Teil des vereinten Europas verstand (Präambel des Grundgesetzes) und alle nationalen Ansprüche der europäischen Einigung unterordnete.
Da ich zu denen gehöre, die 1989 nicht in Ostdeutschland gelebt, sondern die Ereignisse im Oktober eher passiv in Westdeutschland (ich selbst saß mit gebrochenem Fuß vor dem Fernseher) beobachtet haben, möchte ich mich nicht an den Debatten beteiligen, wer nun welchen Anteil an der Friedlichen Revolution 1989/90 hatte.
Als einer, der seit Anfang 1992 in Leipzig lebt und das Glück hatte, als Pfarrer an der Thomaskirche den gesellschaftlichen Transformationsprozess in Leipzig mitgestalten zu können, möchte ich den Fokus auf eine andere Entwicklung richten: Wir blicken in diesen Wochen auch auf 30 Jahre kollektiver Gedankenlosigkeit in West- und Ostdeutschland zurück und müssen uns mit deren Folgen auseinandersetzen.
Was ich damit meine?
Als sich 1989/90 in Ostdeutschland die Verhältnisse radikal veränderten, hätten auch in Westdeutschland die Zeichen auf Umbruch, Aufbruch, Reform stehen müssen: Die Demokratie war erlahmt; die Wirtschaft, vor allem die Autoindustrie, befand sich in einer tiefen Krise; die Mobilität bedurfte insbesondere in den Großstädten einer Umsteuerung (Gütertransport weg von Straße auf die Schiene, Ausbau des ÖPNV; in der Klima- und Energiepolitik hätte spätestens nach Tschernobyl umgesteuert werden müssen; die Kirchen hätten endlich auf den Mitglieder-Exodus reagieren müssen, statt unbesehen das westdeutsche Kirchensystem auf Ostdeutschland zu übertragen).
Diejenigen, die damals schon lebten, werden sich daran erinnern, dass die Autoverkaufshäuser keine Gebrauchtwagen mehr annahmen. Doch Mitte November 1989 waren dann die riesigen Abstellflächen leer. Alle Gebrauchtwagen wurden in Ostdeutschland und osteuropäischen Ländern verkauft. Von einer Mobilitätswende war keine Rede mehr. Spätestens seit der Deutschen Einheit im Oktober 1990 hatten sich alle Reformen und Erneuerungsbestrebungen erst einmal erledigt. Es galt, die Bedürfnisse eines Marktes mit 16 Millionen neuen Konsument/innen zu befriedigen.
Der damit verbundene Anpassungsdruck führte in Ostdeutschland dazu, dass sehr viele Menschen das machten, was ihnen über Jahrzehnte aufoktroyiert wurde: sich anzupassen und die Ziele, die die Akteure der Friedlichen Revolution formuliert hatten, nicht weiter zu verfolgen. Auch in Westdeutschland wurden alle Bestrebungen, ein durch die Vereinigung neues Deutschland entstehen zu lassen, erst einmal auf Eis gelegt. Mehr noch: das Wichtigste, nämlich die Neuaneignung der Demokratie, die Gestaltung einer offenen, auf Europa ausgerichteten Gesellschaft, wurde vernachlässigt.
Damit blieb ein wichtiger Prozess völlig unterentwickelt: nämlich die radikalen Veränderungen, die mit Verlusterfahrungen (Arbeit, Wohnung, familiäre Bindungen) verbunden waren, mit dem Aufbruch zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Einklang zu bringen.
Die fatale Folge
Die rechtsstaatliche, freiheitliche Demokratie wurde eher als Bedingung für die persönlichen Schwierigkeiten angesehen denn als ein Weg, sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Der Satz von Bärbel Bohley (1945-2010) „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ erwies sich von heute her gesehen als ein gefährlicher Brückenschlag zur mangelnden Demokratieakzeptanz in Ostdeutschland. Das, was Bärbel Bohley zum Ausdruck brachte, fand in den Klassenzimmern unzähliger Schulen seine Fortsetzung – nach dem Motto: Das, was wir heute an Demokratie haben, ist auch nicht viel besser als die DDR. Genau dieses Narrativs bedienen sich heute die Rechtsnationalisten von der AfD.
In gleicher Weise verlor sich die Initiative aus den frühen 80er Jahren nach 1990 ins Nichts, die das System der DDR radikal infrage stellte und ganz wesentlich zur Friedlichen Revolution beigetragen hat: der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dem Balkan wie der Golfkrieg 1991 erwiesen sich als Fanal: Offensichtlich sollte aller Welt klar gemacht werden, dass die Botschaft der Friedlichen Revolution „Keine Gewalt“ für die globale Politik kein Maßstab werden darf.
Also wurde und wird den Menschen die Hoffnung ausgetrieben, dass langfristige Friedensstrategien unter Verzicht auf Krieg weiter und wieder Anwendung finden. Dennoch dachte ich, als ich 1992 nach Leipzig kam, dass der konziliare Prozess, der auch in Westdeutschland das kirchliche Leben vieler Gemeinden bestimmt hatte und der sich als eine glückliche Verbindung von Glaubensüberzeugung und praktischem Tun erwies, den Erneuerungswillen der Menschen in Ostdeutschland nährt. Doch da war in den Gemeinden kaum noch etwas zu spüren von dem Geist, der 1988 die Ökumenische Versammlung in der Dresdner Kreuzkirche zu einem Höhepunkt im Vorfeld der Friedlichen Revolution machte.
Wenn man heute die Dokumente liest, dann kann man zwei Dinge erkennen
Der konziliare Prozess nahm Ost und West, Nord und Süd unserer Welt in den Blick und erwies sich als eine an den Menschen ausgerichtete Globalisierung des Glaubens, Denkens und Handelns, ohne das eigene Umfeld aus den Augen zu verlieren: „global denken, lokal handeln“ lautete die Devise.
Alle Themen, die heute neu aufgebrochen sind und uns jetzt auf und vor die Füße fallen, werden in den Dokumenten benannt und mit Handlungsmaximen versehen: Zusammenhalt in der Gesellschaft, Vielfalt, Migration, Klima, Friedensicherung.
Bleibt die Frage: Lässt sich nachholen, was kollektiv, d.h. unter Beteiligung eines jeden einzelnen sowie der großen gesellschaftlichen Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Bildungseinrichtungen, Medien verdrängt, ausgeblendet, vernachlässigt wurde?
Sicher nicht in dem Sinn, dass 30 Jahre Versäumnisse ungeschehen gemacht werden können. Aber niemand hindert uns daran, jetzt endlich wieder an die Impulse für den großartigen Aufbruch zur Demokratie 1989/90 und des konziliaren Prozesses anzuknüpfen. Dabei sollten wir auch immer wieder daran erinnern, dass wir auf Dauer ohne ein in den biblischen Traditionen verwurzeltes Wertesystem und Menschenbild nicht auskommen –oder anders formuliert: Wer glaubt, die Säkularisierung und Entfremdung von den Kirchen würden ohne gesellschaftliche Folgen bleiben, wird eines Schlechteren belehrt.
Denn da gerät genau das unter die Räder, was jetzt auf der Tagesordnung stehen muss: Stärkung der Demokratie und Orientierung an den Grundwerten des Glaubens und der Verfassung. Ist es ein Zufall, dass laut einer neuen Untersuchung die „Generation Mitte“ (30 – 60-Jährige) über zunehmende Aggressivität, Rücksichtslosigkeit und Egoismus klagen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt vermissen? (Tagesspiegel) Hängt das vielleicht auch damit zusammen, dass wir viel zu lange unserem je eigenen, egoistischen Anspruch auf Leben verfolgen, anstatt Solidarität einzuüben?
Die Zeit für neue Aufbrüche ist da.
Eine SINUS-Studie und die Frage: Wer demoliert eigentlich die Demokratie?
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