In Interviews haben in den vergangenen Wochen verschiedendste Engagierte auf der Seite „Wir bleiben hier“ aus ihren ganz persönlichen Blickwinkeln beschrieben, warum sie sich wofür einsetzen. In einer einmaligen Aktion vor der Landtagswahl in Sachsen wollen so die Initiatoren Sandra Strauß und Schwarwel deutlich machen, wie viele verschiedene Gründe und Perspektiven es gibt, sich für eine offene und zugewandte Gesellschaft einzusetzen. Auch und gerade im Osten. Den Anfang der Reihe macht die Künstlerin und Autorin Jeannette Hagen.
wbh: Magst du unseren Leserinnen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.
In einem Interview wurde ich einmal gefragt, was mich antreibt. Drei Erfahrungen sind mir eingefallen, die heute mein Handeln maßgeblich bestimmen. Zum einen die Tatsache, dass ich meinen leiblichen Vater nicht kenne. Er verweigert bis heute den Kontakt zu mir. Das hat mich viele Jahre umgetrieben. 2015 habe ich ein Buch über das Thema Vaterentbehrung veröffentlicht.
Im Zuge der Recherche ist mir deutlich geworden, wie viele Menschen unter Vaterentbehrung leiden und wie sehr dieses Thema, sozusagen aus dem Untergrund heraus, unsere Gesellschaft steuert und beeinflusst. Darum engagiere ich mich für Geschlechtergerechtigkeit, denn heute werden Väter den Kindern nicht mehr durch Kriege genommen, sondern durch Trennungen. Oft haben Väter auch keinen Bezug zu ihren Kindern, weil sie sich dem Vatersein nicht gewachsen fühlen. Es mangelt an liebevollen Vatervorbildern. Dafür ein Bewusstsein zu schaffen, ist mir ein großes Anliegen.
Die zweite Erfahrung, die mich geprägt hat, ist die Ausreise aus der DDR am 09.02.1989 – also genau ein halbes Jahr vor dem Mauerfall. Davor lagen zweieinhalb Jahre Wartezeit, in denen ich von meiner Mutter getrennt war und in denen ich viele der Repressalien, mit der eine Diktatur aufwartet, zu spüren bekam. Das ist der Grund, warum ich mich heute sehr aktiv für Menschenrechte und für Freiheit einsetze.
Momentan besonders für Menschen, die aus ihren Ländern fliehen mussten, weil dort Krieg herrscht oder die wirtschaftlichen Verhältnisse so katastrophal sind, dass ein stabiles Leben nicht gegeben ist. Als Helferin war ich 2016/17 auf Lesbos und in Idomeni und ich habe gemeinsam mit meinem Mann einen Hilfsgütertransport nach Griechenland organisiert.
Weitergeführt wird mein Engagement durch die Firmengründung von „Kunst für Demokratie gUG“ und meine Rednerauftritte. Für mich gilt das Grundgesetz und die Menschenrechtskonventionen. Jeder Mensch ist gleich und jeder Mensch hat das Recht, dorthin zu gehen, wo er sein, sich entwickeln und ein lebenswürdiges Leben aufbauen kann. Die dritte Antriebskomponente ist meine Liebe zur Natur, zur Sprache, zu den Menschen, zur Kunst – zum Leben an sich. Für mich ist dieses Leben ein Geschenk, das ich voller Demut annehme und gestalte. Es schmerzt mich zu sehen, wenn Menschen ihr Potential nicht leben können und wie sie die Erde und sich selbst zerstören. Tief im Kern sind wir alle liebende Wesen und was es braucht, um an diesen Kern zu kommen, ist ein innerer Kompass.
Manche nennen ihn Würde, andere Selbstermächtigung oder Selbstverantwortung. Menschen an diesen Kern zu führen – sei es durch das, was ich sage, schreibe oder anstoße –, liegt mir sehr am Herzen. Ich bin ein Mensch, der die Vision hat, dass wir es gemeinsam schaffen, diese Erde zu einem friedlichen und liebevollen Ort für alle zu gestalten. Ganz ohne Ressourcen-Verschwendung, Umweltverschmutzung, Krieg und Ausbeutung. Das zu erreichen, dafür stehe ich jeden Morgen auf.
wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?
Um mich einzubringen, meinen Ideen Gestalt zu geben und Haltung zu zeigen, habe ich 2018 das Unternehmen „Kunst für Demokratie“ gegründet. Für mich ist Kunst ein wichtiges Mittel, um Botschaften zu transportieren. Sie steht für mich für Freiheit und der Grad der Kunstfreiheit sagt viel über eine Gesellschaft aus. Neben dem Unternehmen, das es aufzubauen gilt, bringe ich mich mit meinen Texten und auch in den sozialen Medien ein. Ich will die vielen Hassbotschaften nicht stehenlassen. Ich versuche zu argumentieren und mich für Demokratie und Meinungsfreiheit einzusetzen.
wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?
Ich lebe zwar in Berlin, bin aber in Dresden geboren und nach und wie vor eng mit der Stadt verbunden. Eigentlich wollte ich ein Programm in Dresden auf die Beine stellen, aber die Förderung gestaltet sich schwierig. Ich habe den Eindruck, dass vielen Entscheidern nicht bewusst ist, wie schmal der Grad der Demokratie ist.
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jeder mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?
Ein befreundeter Fotograf hat neulich gesagt, dass wir einfach nicht mehr unpolitisch sein können. Ich sehe das genauso. Wir stehen an einem Scheideweg. Die Entwicklungen in den USA, in Italien und Ungarn zeigen, wie schnell eine Gesellschaft kippen kann, was Hass und Hetze anrichten. Ich glaube auch, dass es uns einfach gut tut, Gestalter zu sein. Wie viele haben in den letzten Jahren über „die da oben“ gejammert, weil sie „alles entscheiden“.
Dabei liegt es doch an uns mitzuentscheiden. Wir sind doch nicht auf dieser Welt, um uns von anderen den Weg bereiten zu lassen. Wir sind ausgestattet mit Kopf und Herz und können uns einbringen. Das als Geschenk und als Möglichkeit zu sehen, wäre schon mal ein Anfang. Einbringen kann man sich auf vielen Ebenen. Muss ja nicht immer die große Sache sein. Ob im Haus, in der Straße, im Bezirk, der Stadt oder überregional – es gibt Möglichkeiten ohne Ende.
wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?
Für mich fängt das schon in der Schule an. Nicht unbedingt, indem man in Geschichte Daten paukt, sondern indem Geschichte lebendig vermittelt wird. Daneben sind die kreativen Fächer wie Kunst und Musik von großer Bedeutung, denn hier geht es auch um das Gestalten, darum, etwas zu kreieren, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Dass so etwas benotet wird, ist ein Fehler, denn dadurch verlieren viele Menschen das Gespür für die eigene Kreativität und die Selbstwirksamkeit.
Gleichzeitig fördert Kunst Empathie, baut Brücken und zeigt uns, was Vielfalt bedeutet. Neulich habe ich einen Satz von einem Mediziner gelesen: „Wer gemeinsam musiziert, schreibt danach keine Hassbotschaften“ im Netz. Davon bin ich überzeugt.
Wir stecken in einer ziemlich schwierigen Phase, in der sich scheinbar alles neu sortiert. Auch in der Politik, der Wirtschaft und in den Medien. Die alten Strukturen greifen nicht mehr und was kommt, weiß keiner so richtig. Da spielen Ängste eine große Rolle und sie abzubauen, wieder Zuversicht zu säen, ohne wieder das Rundumsorglospaket zu versprechen, was es einfach nicht gibt, ist eine Aufgabe.
Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?
Unser Erbe ist vielfältig. Da kommt alles zusammen und wir tun gut daran, es zu schätzen. Denn auch in der grausamen Vergangenheit liegt etwas, von dem wir lernen können – es anders, besser zu machen. Wir spüren das jetzt aktuell, wie viele Menschen „Nie wieder“ sagen und sich einsetzen. Mir macht das Mut. Mir machen auch die Fridays for Future-Demonstrationen Mut. Ich kann nicht sagen, ob wir es schaffen, den Klimawandel aufzuhalten oder unsere Demokratie stabil zu halten.
Wir sehen ja, wie schnell Stimmungen kippen. Aber ich hoffe und wünsche natürlich, dass es uns gelingt, den Wandel zu gestalten. Dass wir trotz Digitalisierung und den rasanten Veränderungen und Herausforderungen mutig und Mensch bleiben. Uns darauf besinnen, dass es etwas gibt, was Algorithmen nicht können – gemeinsam etwas zu gestalten. Co-kreativ zu sein.
wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?
Ich wünsche mir, dass es uns wieder gelingt, einen Zugang zu unseren Gefühlen zu schaffen. Wenn ich mich frage, wie es mir geht, dann geben mein Körper und mein Gehirn mir eine Rückmeldung in Form von Gefühlen. Wir wissen eigentlich ganz genau, was wir brauchen, was uns gut tut, was moralisch rechtens ist und was nicht.
Wir besitzen einen inneren Kompass, aber wir benutzen ihn zu selten oder gehen über seine Angaben hinweg. Wir würden keine Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken lassen, wenn wir auf den Kompass hören würden. Wir würden auch keine Kriege führen. Ich wünsche mir, dass Kinder schon lernen, wie man diesen Kompass benutzt. Dann regelt sich ein besseres menschliches Miteinander von selbst. Dann sind wir weniger verführ- und manipulierbar.
wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?
Ich habe es eingangs, als ich von mir erzählt habe, ja schon geschrieben. Im Grunde sind diese Werte mein Motor. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die diese Werte garantiert, und da wir hier in Deutschland an diesem Punkt auch Nachbesserungsbedarf haben, setze ich mich aktiv dafür ein.
Der Liedermacher Reinhard Mey singt in einem Lied: „Freiheit nutzt sich ab, wenn du sie nicht nutzt.“ So ist es. Man muss natürlich immer wieder neu verhandeln, was das eine oder andere bedeutet. Wie es definiert wird. Das ändert sich in Gesellschaften ja auch. Also: dranbleiben!
wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?
Dazu habe ich jetzt schon einiges gesagt. Für mich ist es unverständlich, dass ausgerechnet an diesen Punkten so oft der Rotstift angesetzt wird, wenn es um die Haushaltsverteilung geht. Gerade jetzt, wo auch Erwachsene an vielen Stellen unsicher sind, selbst Angst haben, ist es wichtig, Kinder und Erwachsene zu stärken. Das passiert eben nicht von selbst in einer Welt, die sich so rasant verändert. Da braucht man Leitplanken.
wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jeder Bürgerin aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?
Ich glaube, dass man den größten Einfluss im engen Kreis der Verwandten und Bekannten hat. Dort bei Diskussionen nicht einzuknicken oder zu schweigen, sondern Haltung zu zeigen, ist wichtig. Das ist anstrengend, aber wirksam. Politisch zu sein, demokratische Parteien nicht nur durch die Wahl, sondern vielleicht auch durch eine Mitgliedschaft zu unterstützen, ist auch ein Weg. Undemokratische Kräfte wird es wohl immer geben. Die Frage ist, wie viele ihnen gegenüberstehen.
wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Aufstieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?
Man liest ja immer von den „Abgehängten“. Da ist etwas dran – zumindest in den ländlichen Regionen und in einigen Kleinstädten ist viel verlorengegangen: Kulturangebote, Ärzte, Jugendeinrichtungen etc. Dazu kommt, dass es auch in der DDR Rassismus gab. Die Angst vor dem „Fremden“ und vor Veränderungen ist kein neues Phänomen. Dann die Wende, die vielen gebrochenen Biografien – da liegt einfach noch so viel Frust und Wut –, da konnte die AfD mit ihren einfachen Parolen schnell punkten.
Die Menschen haben Angst vor der Zukunft, vor all dem, was heute ungewiss ist. Viele erkennen den Wert von Demokratie nicht, sondern sehen eher, dass sie das eigene Leben irgendwie einschränkt. Für sie gilt die Gleichung: Demokratie=Politik=„die da oben“= schlecht. Diese Stimmungslage nutzt die AfD geschickt aus.
wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?
Das steht ja in ihrem Programm, was dann folgt. Im Grunde wollen sie das Rad zurückdrehen und viele demokratische Errungenschaften wieder abschaffen. Für mich ist das die Horrorversion. Gleichschaltung, Einschränkung der Freiheit, Diktatur, Kultur nur das, was der AfD passt, Abschaffung der freien Kunst- und Kulturszene.
wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonistinnen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?
Durch Aktionen wie diese. Durch Lieder, wie das aktuelle von Sebastian Krumbiegel. Durch Aktionen und Projekte, die den Wert von Demokratie aufzeigen und deutlich machen. Durch Gegenproteste, wenn PEGIDA oder andere undemokratische Vereinigungen marschieren. Durch „Gesicht zeigen“. Durch Haltung in den sozialen Medien. Durch Spenden und immer wieder dadurch, dass man Mut macht und zeigt, dass wir zusammenstehen.
wbh: Wie kann man Nichtwählerinnen erreichen, damit sie wählen gehen?
Vermutlich auch nur, indem man in seinem eigenen engeren Kreis mit den Menschen redet. Ich glaube nicht, dass man das durch Zeitungsartikel oder Reden „von der Kanzel“ erreicht. Wir müssen uns gegenseitig davon überzeugen, dass Demokratie und damit auch das Wahlrecht Errungenschaften sind, die nicht vom Himmel gefallen sind, sondern für die andere ihr Leben gelassen haben. Dass es ein Privileg ist, wählen zu dürfen.
Ich erinnere mich gut an die Zeit in der DDR, als man obligatorisch sein Kreuzchen gemacht hat, aber im Grunde genau wusste, dass das bedeutungslos ist. Heute haben wir eine Stimme, können Richtungen bestimmen, Gesellschaften gestalten. Ich denke, dass das Argumente sind, mit denen man überzeugen kann.
wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?
Das ist eine schwierige Aufgabe. Und die Aufarbeitung dieser Zeit kommt meines Erachtens zu spät. Ich glaube nicht, dass man diese Generation, die wirklich viel verloren hat, noch erreicht. Ich weiß das aus meinem eigenen Familienkreis. Da herrscht so viel Verbitterung, da ist so viel verloren – das kann man nicht zurückgeben oder mit schönen Worten kitten.
Da braucht es fast den berühmten Kniefall – aber wer sollte den machen? Dazu kommt, dass so ein Prozess, also das Verzeihen und „aus der Opferrolle heraustreten“ von denen ausgehen muss, die es betrifft.
Es muss der Wille da sein, neu anzufangen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Leider haben sich viele im Opfermodus eingerichtet und sich damit identifiziert. Das ist keine Wertung – ich wüsste auch nicht, wie es mir ergehen würde, wenn ich in dieser Situation wäre. Ich will nur sagen, dass es dafür sicher keinen Schalter gibt, den man einfach drehen kann. Da spielen psychologische Muster mit hinein, die man eigentlich therapeutisch bearbeiten müsste.
Aber wie ich schon sagte: Da muss auch der Wille vorhanden sein, sich mit diesen Tatsachen auseinanderzusetzen und den Schmerz zuzulassen, der hinter der Wut sitzt und der wirklich berechtigt ist.
wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrantinnen und Muslimen?
Die Angst vor dem Fremden sitzt tief in uns. Ich habe als Kind noch das Spiel „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“ gespielt. Diese Angst wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Wie bei allen Ängsten hilft Konfrontation – also die Begegnung. Je weniger die Möglichkeit vorhanden ist, sich zu begegnen, desto größer die Angst. Wir sehen das daran, dass der Fremdenhass in Gegenden, wo kaum Migrant/-innen leben, deutlich ausgeprägter ist, als in Städten wie Berlin.
Dazu kommt, dass die Geflüchteten den Menschen hier auch einen Spiegel vorhalten. Sie hatten den Mut, ein neues Leben zu beginnen, alles aufzugeben, sich auf den Weg zu machen. Das steht natürlich im krassen Gegensatz zu dem hier vorherrschenden Gefühl, dass man nichts ändern kann, dass sowieso alles von oben bestimmt wird, dass das Leben schon vorbei ist und die Chancen verpasst sind. Da wird der eigene Frust auf jene projiziert, die unfreiwillig das getan haben, was man vielleicht selbst immer tun wollte: aufbrechen und von vorn beginnen.
wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politikerinnen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politikerinnen und Bürgerinnen?
Auf jeden Fall. Das ist für mich auch eine Achillesferse der Demokratie, denn in dem Moment, da ich einem anderen sozusagen die Vollmacht übertrage, mein Leben (im übertragenen Sinne) zu regeln, besteht natürlich auch sofort die Gefahr, dass ich ihn für alles verantwortlich mache, was schief läuft. Gleichzeitig kann ich mich selbst natürlich ausruhen und sagen, dass der ja dafür bezahlt wird, alles zu regeln. Darum ist es so essentiell, die Menschen in Prozesse einzubinden.Ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie mitgestalten können.
Wenn Gesetze „durchgepeitscht“ werden und das gegen eine breite Mehrheit in der Bevölkerung, dann hinterlässt das Frust. Da gibt es auch in Deutschland Nachbesserungsbedarf. Demokratie ist eben auch nichts, auf dem man sich ausruhen kann.
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürgerinnen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?
Ja, das ist auf jeden Fall so. Besonders wenn es um Entscheidungen in Sachen Klima geht. Selbst meine Generation wird kaum noch erleben, was 2050 ist. Wir wissen aber bereits seit Jahren, dass sich die Verhältnisse auf dieser Welt bis dahin rasant ändern werden, wenn wir jetzt nicht handeln. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, so wie sich das einige wünschen. Ich bin jedenfalls sehr dankbar dafür, dass die Jugend wieder politischer ist, als das viele in meiner Generation sind oder waren.
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?
Sie sind die Basis für eine gelingende Demokratie. Ohne die Zivilgesellschaft oder Zivilcourage landen wir in der Diktatur. Sie sind das Korrektiv und der Motor gleichzeitig. Wir sehen das jetzt, wenn es um die Seenotrettung geht. Die Politik trifft Entscheidungen, die gegen Würde, Menschlichkeit, Humanität und auch gegen eigene Gesetze verstoßen. Die Zivilgesellschaft wehrt sich dagegen: mit Demonstrationen, Aktionen und privaten Seenotrettern. Sie macht auf Missstände aufmerksam und die Demokratie gibt ihnen den Rahmen dafür. Es ist immer wieder ein Austarieren der Kräfte. Das macht Demokratie manchmal langsam, aber es ist unverzichtbar.
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?
Indem wir uns immer wieder bewusst machen, wie wir leben wollen. Für mich reicht ein Blick nach China, in die Türkei oder in meine eigene DDR-Vergangenheit, um zu wissen, dass ich nie mehr in einem Land leben möchte, in dem eine Diktatur herrscht. So argumentiere ich auch, wenn es zu Gesprächen über die Situation in unserem Land kommt. Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, denen es nichts ausmacht, von oben regiert zu werden. Die es sogar schätzen, wenn alles vorgegeben ist, man einfach sein Leben innerhalb von geregelten und festgezurrten Bahnen leben kann, ohne sich Gedanken machen zu müssen.
Das ist aber eine Mentalität, die mir persönlich fremd ist, weil schon ein Schritt in eine andere Richtung bedeuten würde, dass man sich strafbar macht. Das finde ich absurd und ich werde auch nicht müde, das so zu sagen. Wer Freiheit will – und für Freiheit haben wir 1989 gekämpft –, der muss sich auch einbringen, muss sich für sie stark machen. Und ich komme immer wieder darauf zurück, dass wir das in unserem persönlichen Umfeld tun müssen.
Und wer die Möglichkeit hat, den Rahmen größer zu stecken, weil er oder sie prominent ist, der sollte das tun. Ich will nicht, dass eine für mich durch und durch undemokratische Partei noch mehr Land gewinnt. Also sage ich das und unterstütze oder initiiere Projekte, die das ebenfalls nicht wollen.
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!
Ich verbinde damit das Gefühl, von einer Idee getragen zu sein, die größer ist als ich. Die viele Menschen umfasst. Ich weiß, dass wir, also die demokratischen Kräfte, in der Mehrheit sind. Ich weiß aber auch, dass das fragil ist. Das hat die Geschichte gezeigt. Also verbinde ich mit dem Satz auch, dass wir uns dessen immer wieder vergewissern müssen – sei es durch Aktionen, Demonstrationen oder durch Kommunikation in den Sozialen Netzwerken.
wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!
Ich verbinde damit, dass wir den undemokratischen Kräften nicht weichen werden. Das bezieht sich nicht nur auf Brandenburg oder Sachsen, wo jetzt die Wahlen anstehen. Ich verbinde damit, dass wir nicht müde werden, die Lügen und Manipulationen aufzudecken, die von der AfD und ihren Anhängern verbreitet werden. Dass wir auch nicht müde werden, uns für Humanität, Demokratie und Freiheit einzusetzen.
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