In Interviews haben in den vergangenen Wochen verschiedendste Engagierte auf der Seite "Wir bleiben hier" aus ihren ganz persönlichen Blickwinkeln beschrieben, warum sie sich wofür einsetzen. In einer einmaligen Aktion vor der Landtagswahl in Sachsen wollen so die Initiatoren Sandra Strauß und Schwarwel deutlich machen, wie viele verschiedene Gründe und Perspektiven es gibt, sich für eine offene und zugewandte Gesellschaft einzusetzen. Auch und gerade im Osten. Mit dabei der freie Buchautor David Gray aus Leipzig.
wbh: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit und deinem Leben erzählen.
Ich bin ein Dorfkind, aufgewachsen in der DDR in einem winzigen Nest, das so nah bei Leipzig lag, dass man es nachts leuchten sehen konnte, aber immer noch ziemlich weit laufen musste um es zu erreichen. Zugleich gab es da aber auch einen See und einen relativ großen Wald. Ich glaube, so aufgewachsen zu sein, stellt dich ein bisschen aus der Mitte heraus in eine Position zwischen dem Träumer, der diese Lichter der Großstadt nicht nur sehen, sondern auch erreichen will, und einem grundsätzlich pragmatischem Dorfbewohner, der genau weiß, dass er ohne die grundsätzliche Hilfsbereitschaft seiner Nachbarn aufgeschmissen wäre.
Da existierte also sowohl eine Sehnsucht nach der leuchtenden Anonymität der City wie nach der – auch nicht immer nur kuscheligen – Intimität des Dorflebens.
Mit 14 und 15 war ich noch ein ganz vielversprechender Jungsozialist, Pionierorganisations- und FDJ-Funktionär. Mit dem Beginn meiner Zimmermannslehre relativierte sich das, weil du dort schnell gelernt hast, dass das Arbeiterparadies vor allem denen diente, die korrupter waren als die anderen, und weil du ab einem bestimmten Zeitpunkt auch die volle Wucht der Mauer gespürt hast. Da war einfach ein betonierter Endpunkt für deine Lebensträume.
Obwohl ich nie glaubte, dass dahinter ein Schlaraffenland läge, war ich überzeugt, dass es Unrecht sei, den Zugang dazu durch Selbstschussanlagen, Millionen von Tonnen an Beton und Grenzer mit stehendem Schießbefehl zu verstellen. Außerdem stand ich auf die für DDR-Jugendliche falsche Art von Musik. Punker wurden im angeblich demokratischeren Teil Deutschlands misstrauisch beäugt und verfolgt. Das (un)heilige Punkermotto „No Future“ war ein ständiger Affront gegenüber einer Staatsdoktrin, die ein angeblich kommunistisches Spießbürgerparadies verhieß.
Ich bin ziemlich früh mit Freunden zu den Montagsdemos gegangen, bin dabei allerdings nie verhaftet worden, was mir immer noch wie ein kleineres Wunder vorkommt. Gelesen und irgendetwas geschrieben habe ich wohl schon immer. Dass ich später Jura studierte, habe ich nie bereut. Das ist ein durchaus nützliches Studium für Autoren. Wahrscheinlich nützlicher als eine Schreibschule zu besuchen. Aber als Jurist wäre ich trotzdem eine Fehlbesetzung gewesen und weil mir irgendwann klar wurde, dass ich für so ziemlich alles andere als eben zu schreiben nicht wirklich tauge, war es nur konsequent das Schreiben zum Beruf zu machen. Sehr zum Entsetzen eines größeren Teils meiner Family.
Aber es gibt mehr Menschen, die vom Schreiben leben können als man das allgemein so für möglich hält. Ich habe meine Berufswahl nie bereut. Im Gegenteil. Das hat mich vor mir selbst gerettet und es hat mir ermöglicht Teile der Welt zu sehen, die mir in meiner Jugend von einer beschissenen Mauer verbaut worden waren. Noch immer, wenn ich heute über eine sichtbare Grenze fahre oder fliege, habe ich das unwillkürliche Bedürfnis den Politbürogreisen den Stinkefinger zu geben. Inzwischen habe ich 14 Romane und eine knappe Handvoll Drehbücher geschrieben.
wbh: Wo bist du aktiv, wofür engagierst du dich und trittst du ein?
Ich hatte es nie so mit Parteien oder Vereinen. Aber dies bedeutet nicht, dass du als Künstler nicht politisch tätig bist. Kunst ist zwar nie per se politisch. Aber Kunst passiert trotzdem nicht im politischen, philosophischen oder popkulturellen Vakuum. Das macht zwar nicht den Künstler zwingend zu einem Teil von Politik, aber dessen Werk. Brechts angeblich harmloses Gespräch über Bäume, das in finsteren Zeiten gar nicht mehr harmlos sein kann, weil es eben das Schweigen über Untaten einschließt, ist eine gute Metapher für die Situation des Künstlers.
In den malerischen Klatschmohnblüten, deren Foto ich auf Instagram hochlade, steckt Glyphosat und in dem Handy, dessen Kamera solch tolle Bilder macht, die Arbeit von Menschen, die in Sweatshops ausgebeutet werden. Dasselbe gilt für die Laptops, in deren Tastatur ich meine Romane im Zweifingersystem einhacke. Dessen muss man sich bewusst sein. Ich habe Sweatshops in Südostasien gesehen, ich habe sie gehört und gerochen.
Dort zu arbeiten ist ein Mord auf Raten. Dort wird ein Teil des wahren Preises für unseren westlichen Konsumkapitalismus gezahlt, in Blut, Schweiß, Tränen, gebrochenen Knochen und Krebserkrankungen. Ich bin Teil der Unterhaltungsindustrie, ich verfasse Texte in verschiedenen Genres von Erotik über Noir-Krimis bis zur gehobenen historischen Literatur und dort habe ich mich von der ersten Veröffentlichung an bis zum aktuellen Roman stets für Grundwerte eingesetzt, die eine freie Gesellschaft ausmachen: sexuelle und kulturelle Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit von Kunst und Presse.
Das mag jetzt verglichen mit Aktivisten und Politikern, deren Häuser, Autos und Büros von Nazis angegriffen werden und die mit regelmäßigen Mordaufrufen zurecht kommen müssen, als eine luxuriöse Situation erscheinen. Aber meine Romane werden von tausenden, zuweilen zehntausenden Leuten gelesen. Damit erreiche ich viele hunderte Menschen, die für die Politik und politischen Aktivismus längst nicht mehr erreichbar sein wollen.
Nicht nur hier im Osten, sondern auch in den westlichen Bundesländern. Das ist das, was ich am besten kann: Geschichten erzählen und in diesen Geschichten Werte vermitteln, die seit Jahren unter Druck geraten waren. Und zwar schon lange, bevor der Politik das voll bewusst geworden ist.
wbh: Wie fühlt es sich an, in Sachsen Politik aktiv mitzugestalten?
Ich stehe nur extrem selten im Vordergrund von politischen Aktionen. Aber als Mittelbaukreativer in der Unterhaltungsindustrie bist du gezwungen Veranstaltungen zu organisieren, um deine Bücher an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Was man dabei besonders in Sachsen spürt, ist eine seltsam unterschwellige Furcht. Ich erinnere mich noch an die Straßenschlachten und Kämpfe mit den Skinheads in den 90ziger Jahren.
An die Clubs, an deren Tür ich stand, wo zu oft die Baseballschläger griffbereit gehalten wurden, weil man jederzeit damit rechnen musste angegriffen zu werden. Ich erinnere mich an ansatzlose Prügeleien und Momente, in denen du das deutliche Gefühl hattest: Jetzt rennst du um dein bisschen Leben.
Das war ab dem Beginn der 2000er Jahre vorbei. Zumindest in den meisten der größeren sächsischen Orten. Aber wenn ich jetzt Veranstaltungen organisiere und mit den Betreibern von Kulturlocations spreche, spüre ich eine sehr ähnliche Art von Vorsicht und Beklemmung wie damals. Diese Wiederkehr der Gewaltdrohgebärde ist gespenstisch.
Aber heute kommt ein weiterer sehr erschreckender Faktor hinzu, denn die Drohgebärden kommen nicht mehr nur von Randalierern und testosterongebeutelten Kids mit zuviel Zeit und ohne viel Hoffnung, wie damals einige Jahre nach der Wende, sondern auch zunehmend von den Funktionären der AfD, die ganz offen angetreten sind, die Kulturszene in Sachsen auszudünnen und nach ihren engen völkisch, patriarchalen Wertmaßstäben umzugestalten. Eine merkwürdige Art von Endzeitstimmung und Trotz breitet sich gerade unter Kulturmanagern in denjenigen Bundesländern aus, für die bei den bevorstehenden Wahlen mit einer blau-braunen Mehrheit zu rechnen ist.
Diese Stimmung vergiftet schleichend das Land.
wbh: Warum ist es wichtig, dass sich jede*r mit Politik beschäftigt und diese aktiv mitgestaltet und wie?
Unerlässlich ist, dass man zunächst einmal miteinander redet und zwar auf Augenhöhe und nicht von oben herab oder durch ideologische Scheuklappen gebremst. Man besiegt Nazis nicht durch Schweigen. Sondern dadurch, dass man sie zum Dialog zwingt und dabei aufzeigt, wo die immensen Leerstellen hinter ihren muggeligen Verheißungen von einem „Zurück zu Opas heiler Welt“ liegen.
Womit noch jede rechtskonservative, völkisch nationale Bewegung ihre Schäfchen einfing und die Herde zusammenhielt war eine Drohkulisse aus Angst. Angst ist ein funny thing. Sie lähmt einerseits das Denken und löst andererseits entweder Fluchtinstinkte oder einen blinden Aktionismus aus, der dann recht leicht in die Zusammenrottung eines Mobs kanalisiert werden kann. Aufgeputschte Menschenmassen voller Angst sind das biologische Äquivalent zu Bulldozern und entsprechend ist der Schaden, den sie anzurichten fähig sind.
Ich weiß, dass zu reden, aufzuklären, zuzuhören, der mühsamste, frustrierendste und langwierigste Weg ist mit der blau-braunen Angstmacherpest umzugehen. Aber es ist der einzig erfolgversprechende.
wbh: Wie kann man die Themen Politik, Beschäftigung mit Demokratie und unseren Grundwerten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen?
Siehe oben, indem man miteinander spricht und verdammt noch mal sich gegenseitig dabei auch zuhört. Also umgesetzt in konkrete Aktionen: Indem man Gelegenheiten schafft, wo genau dies geschehen kann. Und diese so fair und sicher für alle Seiten ausgestaltet, dass keiner das Gefühl hat sich dort vor dem anderen fürchten zu müssen. Umberto Eco hat mal in einer seiner Kolumnen geschrieben: „Der letzte Trick einer verzweifelten Religion besteht darin, ihren Anhängern das Lachen zu verbieten“.
Die Braun-blauen und Identitären haben ihren Gefolgsleuten von Anfang an vorgemacht, dass es weder Gründe noch Anlässe mehr für Lachen gäbe. Vielleicht sollte man ihnen daher öfter auch mal offen ins Gesicht lachen, um ihre Angsttrommelei zu unterlaufen.
wbh: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft?
Unser Erbe ist diese verdammte sächsische Starrköpfigkeit. Die hat dem Landstrich schon ein paar Mal nach großen Verheerungen wieder auf die Beine geholfen, sobald sie sich mit einem gewissen Grundoptimismus paart, der auch in diesem Land vorhanden ist.
Unser Erbe ist auch der König, der schlau genug war zu erkennen, wann es Zeit ist Platz für das Neue zu machen. „Macht doch euren Dreck alleene“ ist gegenüber neuen und alten Diktaturversuchen nicht das dümmste Motto.
Doch unser jüngstes Erbe ist auch eine spezifisch sächsische CDU, die längst zu träge und zu bräsig ist, um auf die Herausforderungen der Zukunft angemessen reagieren zu können und damit zur Steigbügelhalterin einer radikalen Abspaltung namens AfD wurde, mit der sie nicht umzugehen weiß, da man bei der Sachsen-CDU weder den Bürgerdialog führen wollte, der seit Jahrzehnten überfällig war noch aufrichtig genug war um eigene Fehler zu korrigieren. In Zukunft die Sachsen-CDU in der Opposition, wäre kein schlechter Anfang, um verkrustete und teilweise korrumpierte Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen im Land aufzubrechen und die dann neu zu ordnen.
Mit einer AfD, die von Postenjägern durchsetzt ist und neben ihren populistischen Altherrenweisheiten kein tragfähiges Programm aufweist, an der Macht, würde man die Zukunftsverweigerung, die in der sächsischen Politik derzeit herrscht, jedoch nur auf die Spitze treiben.
wbh: Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?
Mehr an gegenseitigem Respekt.
wbh: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?
Dass diese Grundwerte hier garantiert sind, erlaubt es mir unbehelligt zu arbeiten. Und jetzt kommt ein Klischeespruch, den wohl kaum einer noch hören bzw. lesen kann, was nichts dran ändert, dass er wahr ist: Dafür, dass diese Grundwerte garantiert werden, bin ich 1989 auf die Straße gegangen und habe mir von der Stasi das Gesicht zerbeulen lassen. Falls nötig gehe ich dafür eben wieder auf die Straße.
wbh: Wie wichtig sind Kunst und Kultur, Bildung, Medienkompetenz, Soziales, Jugendhäuser und psychologische Betreuung für unser Zusammenleben?
Auf dem flachen sächsischen Land ist genau diese Arbeit diejenige, die den Nazis und der Hoffnungslosigkeit, die dazu beiträgt deren Reihen zu füllen, mittelfristig das Genick brechen sollte. Das ist auch im Rest des Landes keine so völlig neue Erkenntnis.
In Sachsen tut die CDU sich damit traditionell schwer. Dort steht man schon länger auf dem Standpunkt, dass Kultur – so sie nicht als glamourmäßig inszenierte so genannte Hochkultur zum Foto-Op taugt – als Kitt für das respektvolle und zukunftsorientierte Zusammenleben überbewertet würde. Das ist ein dummer und unnötiger Fehler.
Der einflussreiche schweizer Nationalist und neofaschistische Vordenker Armin Mohler hat bereits in den 70er Jahren in seinen Texten gefordert, dass ein neuer Nationalist die allzu bequem gewordene „Bürger- der „Gärtnerdemokratie“ der Bonner Republik nicht am Kopf, sondern den „Eingeweiden zu packen“ habe, um wieder erfolgreich sein zu können, also im Unbewussten, in den Emotionen.“
Genau darum geht es ja: Wenn die Seite der Kubitscheks, Höckes und Poggenburgs sich in ihren Auftritten, Reden und Texten zielgerichtet auf Basisemotionen ausrichten, um ihre nationalistischen Hassbotschaften populär zu machen, kann man als Demokrat auch nicht mehr nur auf die Ratio fokussieren. Sondern sollte ebenfalls die Emotionen bedienen. Das ist auch gar keine Hexerei. Denn die Botschaften der Neu-Rechten und Neonationalisten sind ja vor allem negativ unterlegt, greifen unbestimmte Ängste und die Verzweiflung an und mit der Zukunft auf.
Eine demokratische, linke Gegenbewegung hat daher zwar jene einmal aufgestocherten Ängste ernst zu nehmen. Aber muss ihnen zugleich eine positive, progressive Vision entgegensetzen.
Dies gelingt vor allem durch Kulturarbeit, die vom Kabarett für Oma und Opa Hinz aus Bautzen übers Kindertheater mit progressiver Botschaft bis hin zu Popmusik und Lesebühnen reicht, die diese positiv progressiven Botschaften vermitteln. Jugendhäuser, Theater, Kleinkunstspielstätten, Clubs und Kneipen sind die Orte, an denen das geschehen muss. Kein Wunder daher, dass die AfD – beflügelt von Umfragehochs – sich erst kürzlich genüsslich öffentlich die Hände rieb und verkündete, dass sie die Spar-Axt an der Finanzierung solcher Kulturorte zuerst anlegen wird.
Als ehemaliger Drogenkopf bin ich selbst zum Glück zwar um eine Runde in der Geschlossenen herumgekommen. Aber man sieht vor allem in den Kleinstädten in der Peripherie die Auswirkungen der Crystal-Meth-Epidemie aktuell so deutlich, dass es kein Wunder ist, wenn von überfüllten und überforderten psychologischen Betreuungseinrichtungen berichtet wird.
wbh: Im Hinblick auf die Landtagswahl im Sep 2019: Was kann jede*r Bürger*in aktiv tun, um dem Rechtsruck mit demokratischen Mitteln entgegenzuwirken?
Redet miteinander, Leute! Äußert eure Meinung und steht zu ihr, ohne dabei zum Betonkopf zu mutieren. Respektiert euch dabei gegenseitig. Hört einander zu und lasst euer Gegenüber spüren, dass er ein Recht auf seine Meinung hat, so falsch sie euch auch vorkommen mag. Das ist immer der erste Schritt.
Der zweite wäre sich umzuschauen, ob es Vereine, Bewegungen oder Aktivisten in eurer Umgebung gibt, die sich für ein demokratisches Miteinander einsetzen und denen unter die Arme zu greifen, soweit ihr das könnt. Und dabei kann schon ein einfaches „Danke dafür, dass du das machst!“, weit tragen.
wbh: Was sind deines Erachtens in Sachsen und Brandenburg die Gründe für den Sieg der AfD bei der Europa- und Kommunalwahl?
Ein nicht gut gemanagter Strukturwandel und die damit einhergegangenen persönlichen Kränkungen vieler Bürger werden da ja immer wieder angeführt. Ich bestreite den Anteil dieser Phänomene am Wahlerfolg der Blauen auch nicht. Aber ich bin auch sicher, dass diese Analyse zu kurz greift. Erstens ist man hinterher immer schlauer, was die Fehler, die man gemacht hat, betrifft.
Bei allem Missmanagement und aller Korruption, die nach der Wende bestimmte ostdeutsche Landstriche verheert haben, sollte man auch im Auge behalten, dass dabei auf Sicht gefahren wurde und häufig genug war diese Sicht überdies durch Nebelwände beschränkt.
Doch meiner Auffassung zufolge wurden auch danach Fehler gemacht, die vermeidbar gewesen wären und die nicht auf einer ökonomischen, sondern der kulturellen und geistesgeschichtlichen Ebene lagen. Ich habe der oft zitierten angeblich progressiven „Revolution aus dem deutschen Pfarrhaus heraus“ nie getraut. Aus den deutschen protestantischen Pfarrhäusern kam nämlich auch die RAF.
Zuvor im 19ten Jahrhundert kam von dort der deutsche Nationalismus. Der war zwar gewissermaßen notwendig, um das Land zu einen. Aber er schielte als Bewegung stets mit mindestens anderthalb Augen futterneidisch auf La Grande Nation und das Empire. Es war auch das protestantische Pfarrhaus, in dem in einer strikten Traditionslinie von der Restauration bis in die Neunziger und Anfangszweitausender Jahre noch das Motto „Gebt Gott, was Gottes ist und dem Kaiser was des Kaisers ist“ propagiert wurde. In anderen Worten: Sei deines eigenen kleinen Glückes Schmied und lass die Fürsten tun, was die Fürsten in Gottes Auftrag zu tun haben, nämlich zu regieren und die großen drängenden Weltfragen auszufechten.
Das ist ein Biedermeier des Geistes, dem man damit das Wort redete. Diese Traditionslinie ist immer noch im Osten spürbar, die zieht sich von Wilhelmismus bis zu King Kurt und Platzek in Brandenburg hindurch. Dass es ostdeutsche Pfarrhäuser und Kirchen waren, die den Oppositionellen der DDR Unterschlupf gewährten, widerspricht dem nicht.
Denn diese Opposition begann aus einem grundkonservativen Anlass heraus, nämlich der – seinerzeit und immer noch sehr berechtigten! – Sorge um die Bewahrung der Schöpfung. Dass sie sich in ein Momentum hineinentwickelte, in dem ab einem gewissen Punkt Bürgerrechte und Reisefreiheit die größere Rolle spielte, hatte etwas damit zu tun, dass nicht nur aber eben auch Brandts Ostpolitik die Risse in der Mauer allmählich vergrößert hatte und inzwischen zwei Generationen von DDR-Landesinsassen herangewachsen waren, die den Optimismus der DDR-Anfangsjahre nicht mehr erlebt hatten und emotional kühler auf den Gründungsmythos vom Antifaschistischen deutschen Staat schauten.
Doch in der bürgerlichen Mitte der DDR blieb die Verunsicherung vor dem Neuen bestehen und was daneben auch blieb, war eine gefühlsmäßige Abneigung gegen die Metropolen und deren kulturelles und gesellschaftliches Aufruhrpotenzial. Die Geister der Kinderseelentötenden, mit Rohrstöcken bewaffneten Lehrer der Restauration und des Wihelmismus schweben in der ostdeutschen Provinz immer noch über dem Land. Weil sie niemals wirklich ausgetrieben worden waren.
Erst recht nicht durch eine bald nach ihrer Gründung als Spießbürgerparadies gestaltete vermeintliche „sozialistische Alternative DDR“.
Das sollte man nicht aus dem Blick lassen, wenn man über den vermeintlichen Zukunftsverweigerungstrotz der Ostdeutschen nachdenkt. Doch auf genau diese von solchen Traditionslinien her geborenen Sehnsüchte nach der Idylle spielen ja die Neurechten und Neonationalisten der Braun-Blauen an. Die behaupten im Grunde Europa sei zu groß, um je funktionsfähig innerhalb ihrer bewusst beschränkten Vision gemacht werden zu können. Außer vielleicht im ökonomischen Sinne. Dann aber gefälligst mit dem guten alten Diesel-Mercedes und einer zu neuer Glorie aufgepeppten Deutschen Bank.
Um die Zeit, als in Berlin die Mauer zu wanken begann, hat der Theaterautor Heiner Müller prophezeit: „Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit/So jetzt aus Zukunft ebenso“. Man hat das damals unwillkürlich als eine Warnung vor neu erstarktem Nazismus und Rassismus interpretiert. Aber was Müller und Kollegen um diese Zeit inszenierten waren Hamlet, die Orestie und ein Schauermärchen namens „Germania“.
Der Mann ahnte, was wir heute wissen: Dass sich die Geister der Vergangenheit erschreckend nahtlos mit den Urängsten vor der Zukunft vermählen lassen, um so neues Grauen zu stiften. Es waren mehr Beamten- und Lehrersöhne, die dir als Punk in der DDR die Fresse polieren wollten als Arbeiterjungs.
wbh: Angenommen, die AfD zieht in Sachsen zur Landtagswahl mit den gleichen Ergebnissen wie nach der Europa- und Kommunalwahl in den Sächsischen Landtag ein, welche Auswirkungen kann das für die Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur, Bildung und Soziales haben?
Um mal dem bei diesem Interview bisher etwas vernachlässigtem Zyniker in mir Zucker zu geben: Dann starte ich noch am Wahlabend ein Volksbegehren mit dem Ziel das sächsische Staatswappen durch das Bild einer eitergelblich überreifen Banane zu ersetzen. Außerdem werde ich mich intensiv nach einer fair handelnden Manufaktur für Medaillen und Orden irgendwo in China umschauen, meine mageren Ersparnisse in die investieren und anschließend versuchen den Damen und Herren der frisch siegestaumelnden Braun-Blauen Regierungsfraktion ein nationalsächsisches Mutterkreuz schmackhaft zu machen. Natürlich mit dem Bananenwappen im Zentrum.
Überdies prophezeie ich für diesen Fall zunächst ein mindestens anderthalbjähriges Regierungschaos in Dresden, geprägt von einem selten zuvor so zu beobachtenden Postengerangel und jeder Menge handwerklich unterirdisch schlecht gemachten Gesetzesentwürfen, die dem Bundesverfassungsgericht auf Jahre hinaus Überstunden bescheren werden.
Was ich außerdem auf uns zurollen sehe, ist eine zwar unwillkommene aber unausweichliche Renaissance von schwarzem Humor und eine nie für möglich gehaltene Solidarität unter Veranstaltern, Künstlern, Kreativen und aufgeklärten Bürgern, die den braun-blauen Sumpfblüten das lügen und regieren erschweren wird.
Wahlweise könnte das Aufkommen von realen Aluhutträgern in den sächsischen Landesmedien soweit überhand nehmen, dass man um die Produktionskapazitäten des Ausgangsmaterials fürchten sollte. Also mein Rat an mutige Investoren für den Fall einer AfD-Machtübernahme: unbedingt Alufolienvorräte anlegen!
Ich persönlich werde meine Gewinne aus den Mutterkreuzverkäufen dann dazu nutzen, mich mit einer Gruppe von Mitverschwörern in eine geheime zentralsächsisch gelegene Dachkammer zurückzuziehen, um dort in rollenden 12-Stunden-Schichten die Social-Media-Auftritte der neuen Staatspartei mit Katzenbildchen und bewusst schlecht gemachter Liebes-und Naturlyrik zuzuspammen.
Möglicherweise wird diese gefährliche Tätigkeit einige von uns so sehr traumatisieren, dass wir unter falschen Identitäten regelmäßig Erholungsurlaub in den dann von der sächsischen Regierung als unfrei deklarierten demokratisch regierten Bundesländern buchen müssen. Aber dieses Risiko wäre uns der Guerillakampf gegen die Sumpfblüten im sächsischen Landtag alle mal wert.
wbh: Wie kann man Demokratie-Initiativen und Protagonist*innen vor Ort aktiv unterstützen und ihr Engagement stärken?
Geht raus, schaut auch Kultur an, hört den Leuten zu und werft auch mal mehr als nur einen Heiermann in die Spendenbüchsen von demokratischen Vereinen und Bewegungen.
wbh: Wie kann man Nichtwähler*innen erreichen, damit sie wählen gehen?
Indem die Politik sich aus ihren Büros hinausbegibt und auf diese Menschen zugeht, sie zum Dialog auffordert und – zum x-ten Mal hier, ich weiß – ihnen zuhört und ihre Probleme ernst nimmt. Wer nur vorm Wahlkampf vor die Tür geht und an den Häusern klingelt um Flyer zu verteilen, der hat den Ernst der Lage nicht begriffen.
Die andere Seite hingegen ist sich ihres Auftriebs aktuell bewusst und wird nicht nachlässiger in ihrer Wählerbeschwörung, nur weil die heiße Wahlkampfphase noch einige Monate hin ist.
wbh: Wie kann man Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, bspw. Menschen, die nach dem Mauerfall viel verloren haben, Angst um ihre Existenz und vor Überfremdung haben, erreichen und in die Gesellschaft zurückholen?
Siehe oben. Indem man nichts beschönigt an den Problemen, die das Land hat. Aber ihnen dabei auch eine positive Zukunftsvision vermittelt. Auf der Klaviatur der Angst spielen die anderen. Die ist gerade belegt und steht nicht zur Verfügung.
wbh: Warum haben deines Erachtens Menschen Angst vor „dem bösen schwarzen Mann“, vor Migrant*innen und Muslimen?
Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle. Einer davon ist zweifellos der: Zuwanderer werden von den Ureinwohnern als unwillkommene Boten aus einer für viele von ihnen zunehmend unübersichtlicher und damit bedrohlich gewordenen Restwelt wahrgenommen, die für sie zudem auch noch voller Gewalt und Konflikte zu sein scheint. Aber man nimmt die Fremden zugleich auch als ökonomische Bedrohung wahr.
Denn eines der Paradoxe der Entwicklung in Ostdeutschland besteht ja auch darin, dass man hier viel härter auf die Anforderungen des Überlebens im Turbokapitalismus vorbereitet wurde als in den alten Bundesländern, wo noch man lange nach dem Übergang von der Bonner zur Berliner Republik einen Rest an sozialer Nestwärme bewahrte, der von Betrieben, Vereinen und Kollegenkreisen garantiert wurde. Im Osten hingegen wurden die Identifikationsmittelpunkte der Betriebe innerhalb von kürzester Zeit abgewickelt und man verordnete allüberall das Credo: Ab jetzt ist sich jeder erst mal selbst der nächste.
Das Ergebnis dieses Experiments in oft sträflich planlosem Plattmachen sehen wir heute im Umgang mit den Zuwanderern. Denn der gelernte Ostdeutsche und von der Wirtschaftswende zum Turbokapitalismusüberlebenskünstler gehärtete angebliche Dunkeldeutsche hat einen Hang dazu entwickelt unwillkürlich davon auszugehen, dass die Zuwanderer bereit seien noch härter, noch rücksichtsloser, noch marktkonformer zu agieren als er selbst es seinerzeit musste.
So entsteht eine diffuse Furcht sowohl vor den ja vielleicht apokalyptischen Nachrichten, die der Bote aus der weiten Fremde mit sich tragen mag wie vor dessen Entschlossenheit sich hier unter allen Umständen ein neues Leben aufzubauen und dafür immense Opfer in Kauf zu nehmen. (ja, schon klar, den Begriff „Dunkeldeutsch“ den benutzt man nicht mehr. Der ist bäh. Ist er. Aber deswegen längst nicht aus der Mode gekommen. Ein Blick auf diverse Kommentarspalten großer Tageszeitungen unter Artikeln über Ostdeutschland beweist das eindrücklich).
wbh: Meinst du, viele Menschen fühlen sich von Politiker*innen nicht entsprechend ihrer Meinung vertreten und abgeholt? Herrscht eine große Kluft zwischen Politiker*innen und Bürger*innen?
Politik, jedenfalls herkömmliche Politik, ist immer in der Versuchung von oben herab zu handeln. Was gar nicht mal immer so verkehrt ist. Da es der Job von Politikern ist, sich mithilfe von Referenten und Experten über bestimmte Themen zu informieren und diese dann in konkrete Politik umzusetzen. Dabei bleibt die Erklärung der Gründe für diese Politikentscheidung dem Bürger gegenüber gern mal unvollständig oder ganz und gar als platt gefahrenes Wild auf der Strecke.
Doch in Zeiten von Social-Media und dieses neuen, ja keinesfalls zukunftsfähigen Dings namens Interweb fällt der Politik diese jahrhunderte lang geübte Praxis des Garnicht- oder nur Teilerklärens immer heftiger auf die Füße. Mit dem Ergebnis, dass die Menschen der Politikerkaste nicht mehr trauen. Zumal sie andere Wege zur Information ausgemacht haben als Tageszeitungen und TV-Nachrichtensendungen.
Dort geschieht dann oft genug eine an Sekten erinnernde Indoktrination der Wähler, die sich ja erst durch die unzureichende Begründung von Politik für ihre Aktionen/Projekte gezwungen sahen sich alternativ zu informieren, also ihre Surfreise zu den mit reichhaltig strangen Früchten behangenen Tiefen des Webs bereits mit einem gewissen Grundmisstrauen begonnen haben. Parteienpolitik gleicht zudem auch einer riesigen Maschine, deren innere Mechanismen man vor der Außenwelt verborgen hält, aber deren nach außen hin agierende Fühler auf eine einheitliche Message getrimmt werden.
Was beim Wähler den Eindruck eines gleichgeschalteten Kraken erwecken kann, den es mindestens zu sezieren und womöglich zu bekämpfen gilt. Taucht dann eine Partei auf, die eben diesen – zwar für sämtliche politischen Bewegungen notwendigen Hang zur Gleichschaltung der jeweiligen Message beklagt – jedoch zugleich eine höhere direkte Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen verheißt, dann gewinnt sie damit einen Imagevorteil bei den Wählern, da die ihr eine höhere Wahrhaftigkeit zutrauen. Deswegen die zum Mantra der Blau-Braunen gewordene Forderung nach Plebisziten.
Der Schock, dem Parteichef einer Regierungspartei in einem Nachbarland quasi (gefühlt) live dabei zuzuschauen, wie er für ein paar Prozentpunkte mehr in der Wählergunst die Grundwerte seiner Landesverfassung verhökert, ist wahrscheinlich noch gar nicht überall wirklich angekommen. Das wird Auswirkungen noch auf viele kommende Wahlen zeigen und hat das Ansehen der Politikerkaste beim ganz gewöhnlichen Wähler nachhaltig ramponiert. Nicht nur in Österreich.
wbh: In den sozialen Medien war zu lesen, dass man weniger auf die „Bedürfnisse“ der besorgten und Wutbürger*innen eingehen soll, sondern eher auf die unserer Jugend. Wie siehst du das?
Man wird realistisch gesehen zwischen beidem einen tragfähigen Kompromiss aushandeln müssen um zukunftsfähig zu bleiben. Wobei allerdings anzumerken ist, dass Jugend für die Volksparteien inklusive der so genannten Alternativen Volkspartei bisher kaum je eine Größe darstellte, auf deren Bedürfnisse man durch mehr als ein bisschen Symbolpolitik einzugehen gehabt hätte.
Denn der überwiegende Teil der deutschen Wählerschaft ist zwischen 30 und 65 Jahren alt und hat in diesen Lebensabschnitten einfach andere Erwartungen an Politik als ein 20 oder 25jähriger / jährige Wähler/ Wählerin. Insofern sind alle deutschen Parteien von den Klimaforderungen der Jugend eiskalt erwischt worden. Noch viel mehr ja übrigens auch von deren Art miteinander zu kommunizieren und per Social-Media lockere Verknüpfungen zu bilden, die dennoch elastisch genug sind, um Demomassen auf die Straßen zu bringen. Da wird man in den Parteizentralen schon noch eine immense Menge an Hausaufgaben nachzuholen haben.
wbh: Wie wichtig sind Zivilgesellschaft und Zivilcourage?
Wie einer meiner Vorgänger in dieser Reihe es auf den Punkt brachte: „Zivilgesellschaft gibts nicht zum Nulltarif, dafür zahlt man mit Zivilcourage“. Das mag pathetisch klingen, aber ist trotzdem wahr. Und keiner erwartet ja, dass der einzelne Wunder tut. Wunder, kleine und größere, werden von vielen Menschen erbracht, die sich darauf geeinigt haben, dass es an der Zeit für kleinere oder größere Wunder sei.
Wobei ich mich angesichts der aktuellen sächsischen Zustände bedauerlicherweise gezwungen sehe darauf hinzuweisen, dass wir hier ein mittleres bis größeres Wunder brauchen, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen.
wbh: Wie können wir unsere Demokratie schützen und stärken?
Zuallererst einmal, indem wir uns alle klar darüber werden, dass sie es wert ist geschützt, erhalten und verbessert zu werden.
wbh: Was verbindest du mit: Wir sind mehr!
Das war so eine Bewegung, die an mir fast völlig vorbeiging. Hashtagaktivismus ist ein ganz eigenes Ding. Da bin ich zu langsam für, fürchte ich. Obwohl die Aktion als Beweis dafür, dass die Blau-Braunen eben nicht für eine angeblich „schweigende Mehrheit“ im Land sprechen, schon gut und wichtig war.
wbh: Was bedeutet für dich: Wir bleiben hier!
Genau das. Ich bleibe hier. Falls mich kein Bus oder LKW erwischt oder ein noch unbekannter Erbonkel mir Millionen zuschanzt, werde ich mir auch weiterhin das Vergnügen gönnen meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Geschichten zu verdienen.
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