Da ackern sich die demokratischen Parteien die ganze Zeit ab, sich in einem relativ fairen politischen Wettbewerb zu behaupten – und dann kommt eine Marketingtruppe in Blau-Rot und beansprucht einfach mal die Wende für sich. Oder doch die Friedliche Revolution? Zahlreiche bekannte Bürgerrechtler verwahren sich gegen den Missbrauch. Aber hat nicht eher Andreas Wassermann recht, der in seinem „Spiegel“-Essay schreibt: „Die AfD gehört zum Erbe von '89“?

Am Sonntag, 18. August, veröffentlichten namhafte Bürgerrechtler ihre Offene Erklärung „Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf“. Darin verwahren sich an den ’89er Geschehnissen aktiv beteiligte Bürger und Bürgerinnen gegen solche absurden Gleichsetzungen und Aneignungsversuche der Revolution von 1989. Darunter befinden sich zahlreiche Prominente des öffentlichen Lebens.

Zu den Erstunterzeichnern gehören Marianne Birthler, Frank Ebert, Rainer Eckert, Ralf Hirsch, Freya Klier, Ilko-Sascha Kowalczuk, Gerd Poppe, Werner Schulz, Uwe Schwabe und Annette Simon.

Der Offene Aufruf

Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf

Die Friedlichen Revolutionen der Jahre von 1989 bis 1991 in Ostmitteleuropa und der DDR traten für die grundlegenden Menschenrechte ein und führten zum Sturz des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa. Diese Revolutionen leiteten eine globale „Zeitenwende“ ein und ermöglichten die Einigung Europas. Entscheidend waren das Zusammenwirken der Bürgerbewegung und der Menschen auf den Straßen sowie der Wille, sich der Diktatur nicht mehr zu beugen.

In einem glücklichen Moment unserer Geschichte zwangen sie mit ihrem Mut, ihrer Friedfertigkeit und Wahrhaftigkeit die Diktatoren in die Knie, sie stürzten die Berliner Mauer und ermöglichten die Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990. Mit der Wiedervereinigung erfüllten sich die Ziele der Revolution: Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, offene Grenzen, ein geeintes Europa und Wahrung der Menschenrechte.

Wenn heute die „Alternative für Deutschland“ versucht, die DDR mit der jetzigen Bundesrepublik gleichzusetzen und ihre Führung versucht, sich als Vollender einer angeblich unvollkommenen Revolution anzupreisen sowie zum Aufstand aufzurufen, so wird hier eine Geschichtslüge verbreitet. Die DDR war eine kommunistische Diktatur, und die Bundesrepublik ist eine freiheitliche Demokratie. Wer diese Unterschiede nicht anerkennt, verharmlost die SED-Diktatur. Deutschland braucht keine Revolution 2.0, wir werden nicht unterdrückt, wie es die Staatssicherheit im Auftrag der SED praktizierte. Wir lehnen Parolen wie: „Hol Dir Dein Land zurück – vollende die Wende!“, die etwa die Brandenburger AfD im Wahlkampf einsetzt, ab. Das ist bereits unser Land!

Für die Demagogen der AfD sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen. Wir haben ein Land, in dem noch viel zu ändern und zu verbessern ist. Das ist in der Demokratie immer so. Demokratie ist anstrengend, weil viele Interessen um den besten Weg gemeinsam ringen. Lasst uns gemeinsam anstrengen, lasst uns gemeinsam die garantierten Grundrechte im Grundgesetz verteidigen und lasst uns gemeinsam nach Verbesserungen für unsere Gesellschaft suchen. Dafür brauchen wir keine Spalterpartei wie die AfD. Spaltung hatten wir in Deutschland lange genug!

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Die Debatte: Teil 1 – Die Macht der Straße

Andreas Wassermanns zentrale These lautet: „Die DDR wurde auch von Menschen zu Fall gebracht, die heute gemeinsam mit Neonazis demonstrieren.“

An der These stimmt natürlich so manches nicht. Denn zu Fall gebracht wurde 1989 die alleinherrschende SED. Die DDR existierte noch bis zum 2. Oktober. Eher könnte man formulieren: Die DDR wurde abgewählt. Obwohl auch zur Volkskammerwahl im März 1990 kaum noch jemand antrat, der die DDR erhalten wollte. Es ging bei der Wahlentscheidung eigentlich nur noch um die Frage, wie schnell die Deutsche Einheit vollzogen werden sollte. So gesehen haben wohl eher 90 Prozent der DDR-Bürger „die DDR zu Fall gebracht“.

Aber Wassermann geht es um etwas anderes, nämlich die Verwandlung der Friedlichen Revolution, deren treibende Kräfte bis zum 9. November eindeutig die engagierten Bürgerrechtsgruppen waren. Aber auch sie hätten nichts erreicht, hätten nicht nach dem 2. Oktober immer mehr Menschen den Mut gefunden, auf der Straße gegen die SED-Herrschaft zu demonstrieren. Auch die Bürgerrechtler stellten damals sehr folgerichtig fest, dass die Friedliche Revolution erst ins Rollen kommen konnte, als auf den Straßen nicht mehr die Hochengagierten allein demonstrierten, sondern eine kritische Masse erreicht wurde. Nämlich jene 110.000 Menschen, die am 9. Oktober in Leipzig um den Ring zogen. Und die Mahnungen waren damals auch unüberhörbar: Der „Druck von der Straße“ durfte nicht aufhören. Deshalb protestierten die Bürgerrechtsgruppen ja auch in Leipzig deutlich gegen die Versuche der noch regierenden SED, den Protest von der Straße in geschlossene Säle zu verlegen, was dann meist als „Dialog“ verkauft wurde.

Selbst um die Weihnachtszeit 1989 waren die Warnungen unüberhörbar, dass das Demonstrationsgeschehen auf den Straßen nicht abreißen durfte, auch wenn mittlerweile die ersten Erfolge unübersehbar waren – die Maueröffnung am 9. November, zuvor der Machtwechsel von Honecker zu Krenz, im Dezember dann der komplette Rücktritt der alten SED-Garde und die Installation von Hans Modrow als neuen Ministerpräsidenten, dem reformbereiten Chef der Dresdner SED-Bezirksleitung, der dann auch die ersten wirklich freien Wahlen in Aussicht stellte …

Aber bevor es diese Wahlen und eine wirklich demokratisch gewählte Regierung nicht gab, war die Friedliche Revolution nun einmal nicht wirklich erfolgreich.

Das Deutschlandlied, das alles übertönte

Aber nach der Maueröffnung – punktuell auch schon davor – begann auch noch ein anderer Prozess, der manche Demonstrationsteilnehmer, die vorher gern dabei waren, zunehmend fernbleiben ließ: Mit den Gesängen von „Deutschland einig Vaterland“ und bald auch dem „Deutschlandlied“ kam eben nicht nur der Wiedervereinigungsgedanke in die Demonstrationen, der diese und am Ende auch den Wahlkampf völlig dominieren sollte. Es kamen auch die ersten nationalistischen Töne auf.

Es tauchten nicht nur Deutschlandfahnen auf, sondern auch Reichskriegsflaggen. Bei Leipziger Demos verteilten die rechtsradikalen Republikaner eifrig ihre Materialien. Vermehrt mischten sich auch junge Leute mit Glatzen und Springerstiefeln unter die Demonstrierenden. Es wurde sehr ungemütlich, spätestens, als die ersten Angriffe auf Jugendliche begannen, die eindeutig als „links“ zu erkennen waren. Auch in Leipzig.

Man kann es als Verdienst Helmut Kohls interpretieren, dass er diesen nationalen Querschlag einfing, als er die Deutsche Einheit auch für die Bundesregierung auf die Tagesordnung setzte. Dass im März die CDU so überraschend zum Wahlsieger wurde, hat direkt damit zu tun.

Aber das kaschierte auch wieder nur das unübersehbar nationalistische Element, das in den Demonstrationen schon unüberseh- und unüberhörbar war. Da übernahmen eine ganze Menge Leute, die sich in der DDR nie wirklich mit den fatalen Folgen des deutschen Nationalismus auseinandergesetzt hatten, eine Haltung, in der sie aus der eher geduckten Haltung eines DDR-Bürgers in die quasi-stolze Ersatzhaltung „Jetzt sind wir wieder Deutsche“ geschlüpft sind. Das war auch vor 1989 im Osten schon angelegt. Mit allen Problemen, die die Polizei hatte, mit den zunehmend öffentlichen rechtsextremen Übergriffen umzugehen.

Denn der „verordnete Antifaschismus“ in der DDR bedeutete eben auch, dass die tatsächlich vorhandenen nationalistischen und rechtsextremen Einstellungen nur unter den Teppich gekehrt wurden. Was es nicht geben sollte, existierte zumindest auch in den Zeitungen nicht.

Die Fehler nach 1990

Und besser lief das auch nach 1990 nicht. Man denke nur an die wirklich inakzeptablen Reaktionen der jeweiligen Landesregierungen auf die Vorfälle in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. Da blamierten sich auch reihenweise gestandene westdeutsche Politiker, die lieber die Einwanderungsgesetze verschärften, als klare Kante gegen die Brandstifter zu zeigen. Brandstifter profitieren immer von der politischen Feigheit der Amtsträger. Sie fühlen sich dadurch nicht nur bestätigt. Ihre Haltung wird damit auch bei mehr Menschen als akzeptabel wahrgenommen.

Was dann ab 2015 in Sachsen wieder in aller Reinheit zu beobachten war. Bis hin in den amtlichen Unwillen, gegen die Brandstifter und die dahinterstehenden Netzwerke juristisch vorzugehen.

So gesehen empfinden sich auch die Nationalisten in Ostdeutschland als Teil der „Wende“. Und die AfD appelliert genau an diesen Nationalismus, wenn sie in Brandenburg plakatiert „Hol Dir Dein Land zurück – vollende die Wende!“

Diesen Leuten genügt ein einiges Deutschland mit einer funktionierenden Demokratie nicht. Das sagt ja der Spruch eindeutig, auch wenn man ihn erst einmal auf den Grundtopos der AfD beziehen kann, die einfach mal alle Ausländer aus dem Land schaffen will. Von Wirtschaft und Demografie hat die AfD unübersehbar keine Ahnung. Aber der Spruch bedeutet eben auch, dass diese Partei die Demokratie verachtet. Sie sieht sich als einzige „Alternative“ zu allen anderen. Sie will eine Ein-Parteien-Herrschaft. Nichts anderes sagt der Spruch.

Aber hier steht „Wende“. Nicht Friedliche Revolution.

Denn an der Friedlichen Revolution hatten die ost- wie westdeutschen Nationalisten keinen Anteil. Sie hätten nicht mal gewusst, wie man das machen sollte. Sie hätten auch keine Runden Tische zustande gebracht und schon gar keinen friedlichen Übergang bis zu den ersten freien Wahlen.

Sie waren aber eindeutig lautstarke Trittbrettfahrer der Demonstrationen – ab November 1989 immer stärker präsent und immer lauter. Sie konnten freilich den Prozess hin zur Demokratisierung und zur Einheit nie okkupieren. Sie waren zwar laut, aggressiv und hyperaktiv. Aber sie waren nie die Mehrheit. Und sie haben in all den Jahren danach immer wieder versucht, die Straße zu erobern und sich als „Volksbewegung“ darzustellen.

Sie arbeiten nur zu gern mit den diffusen Begriffen „Volk“ und „Wende“, gerieren sich als „Volksversteher“. Die „Wende“, die sie meinen, ist etwas anderes als das, was wir eigentlich unter Friedlicher Revolution und Prozess der Deutschen Einheit verstehen. Aber die Formel ist wie so oft eine Verkleidung für das, was tatsächlich gemeint ist: Abschottung, Ausgrenzung und organisierte Verachtung anderer Menschen. Fein verknüpft mit einem latenten Verschwörungsgeraune: Irgendwer hat euer Land geklaut, Leute. Und im AfD-Ton sind das meistens „die Ausländer“.

So gesehen – mit der latenten Ausländerfeindlichkeit – gehört die AfD eben nicht zum Erbe von ’89, wie Wassermann behauptet, sondern zum etwas piefigen Erbe der DDR, die Ausländer so gern aus der Öffentlichkeit verbannte und Mauern baute. Das ist der Kern der AfD. Oder um mal Erich Honecker falsch zu zitieren: „Vorwärts nimmer, rückwärts immer!“

Sächsisches Verfassungsgericht: AfD darf nur mit 30 Listenkandidaten antreten

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