Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 70, seit 23. August im HandelWir befinden uns im vielleicht kleinsten Boxclub der Republik, hier an der Eisenbahnstraße 123 im Leipziger Osten. Matthias Eichler, Vorsitzender des Sportvereins der Sportschule International, Trainer und Chef im „Wohnzimmer“-Ring ist, was der Club verspricht: familiär im Ton, tolerant im ganzen Auftreten und der Blick auf die Trainierenden bestätigt das Motto der Weltoffenheit hier im Kiez.
Mit wachen Augen beobachtet der geborene Grünauer seine Schützlinge und seine Gesprächspartnerin im Interview. „Matthias, hallo! Du bist hier der Box-Trainer, der Boss. Ich freue mich sehr, heute mit Dir hier reden zu können.“ Eichler schmunzelt, „Hallo liebe Konstanze. Ja, wir sind hier in unserem Boxwohnzimmer. Du siehst ja, manch einer hat wohl ein Wohnzimmer zu Hause von der gleichen Größe, die wir hier als Boxstudio belegen, das sind ca. 140-150 qm. Das hört sich zunächst wenig an, aber diese Fläche wird hier so optimal ausgenutzt, dass alle trainieren können und das mit ausreichend Platz.“
Nachfrage: „„Boxwohnzimmer“ sagst Du. Das hört sich liebevoll, beinahe familiär an. Hat das hier etwas für Dich von Familie? Wer kommt hierher? Wen lässt Du rein?“ „Grundlegend darf jeder mitmachen. Es gibt keine speziellen Auswahlkriterien von vorn herein. Es gibt ja auch eine Probezeit. Wer neu dazu kommt, trainiert erst einmal mit auf Probe. Dann geht es v. a. darum, ob es ihm hier gefällt. Ich sage immer: Entweder du liebst es oder du hasst es.“
Für Menschen, die in Deinen Boxclub kommen, lautet die Wahl nur, ihn zu lieben oder zu hassen. Warum ist das so?
Es ist alles sehr intim, sehr eng. Wir haben hier eine ganz dichte Gemeinschaft. Damit muss man klarkommen. Wer damit klarkommt – es hier also gleich liebt zu sein – das entscheidet sich meist sehr schnell. Manchmal wünschte ich mir, dass man Probleme in der Politik wie im Boxsport behandeln würde. Wenn es etwas zu klären gibt, sollte man sich auch auf dieser Ebene einfach einmal treffen, auf der es wehtut – ganz direkt. Dann ist für Klarheit gesorgt und man kann sich auch gegenseitig respektieren, sich achten.
Das geht, wenn man weiß, woran man bei dem anderen ist. Wenn dagegen alles im Unklaren verbleibt, fischt man im Trüben, dann weiß man auch nicht, wem man trauen kann und wem nicht. Dann hat man viel weniger Respekt vor dem anderen, denn man kann nie wissen, wer hinter welcher Intrige steckt. So läuft es doch in der Politik, wenn Leute ihre Position halten oder ihre Macht stärken wollen. Jetzt steht ja in Sachsen die Landtagswahl an.
Dagegen steht das Modell Boxclub oder besser Boxwohnzimmer, wo Gemeinschaft und „Politik im Kleinen“, der Umgang miteinander ja besser zu funktionieren scheint. Politisch ist, nimmt man es genau, ja schon der Umgang des Einzelnen mit sich selbst – der Einzelne gibt sich Regeln hält sich auch an diese.
Die Frage wäre also: wie können wir es schaffen, gemeinsam nach Regeln zu leben, an die sich jeder hält, weil er es will und davon überzeugt ist. Warum funktioniert es hier und in der „großen Politik“, der Parteienpolitik nicht?
Weil wir hier offen und ehrlich miteinander sind – ganz klar, das liegt doch auf der Hand. Weil wir uns nicht anlügen und täuschen, um einen eigenen Vorteil davon zu erzielen. Wir können uns vertrauen, was nicht heißt, dass jeder jedem immer alles erzählt oder erzählen muss, aber wir bescheißen uns auch nicht. Das ist die Grundstimmung, die Haltung jedes Einzelnen hier. Sonst könnte es nicht funktionieren.
Hier kommen ja auch nicht nur Boxer zu mir. Manchmal ist es auch einfach ein Treffpunkt zum Quasseln und Erzählen. Die Leute kommen, um wieder mal zu sehen, was hier los ist, wann welche Boxer zu welcher Veranstaltung boxen und um zu quatschen, um zu erfahren, wie es ihren Sportlern geht. Denn unsere Boxer sind ja auch im Kiez bekannt und haben eine gewisse Kiez-Popularität.
Das alles macht eine bestimmte Grundstimmung aus ohne die das Ganze nicht denkbar wäre – und schon gar nicht lebbar. Das ist ein Verständigen und Verstehen ohne Worte. Es gibt Dinge, die sind so klar und werden so selbstverständlich eingehalten und getan, dass man sie nicht mehr sagen muss – es ist einfach natürlich. Das schweißt zusammen. Du weißt, wie der andere tickt und das schafft Vertrauen. Wir sind hier ein kleiner Mikrokosmos und jeder hat so seine Eigenheiten, seine liebenswerten Sachen und auch Macken.
Was nützen diese Spielregeln dem Boxer draußen – außerhalb des Boxrings, außerhalb dieses Schutzraums, den Du ihm bietest?
Die Haltung, die man sich drinnen antrainiert hat, die nimmt man mit. Seine Selbstüberwindungen und inneren Kämpfe, die man hier durchgemacht hat, sein Selbstbewusstsein. Vielleicht fühlt er sich hier sicherer, aber er wird an anderen Orten, die vielleicht Gefahr bedeuten für ihn, selbstsicher auftreten, wenn er diese Haltung für sich als Mensch, als Persönlichkeit gefunden hat. Hat einer Selbstdisziplin hier drin, wird er auch draußen diszipliniert sein können.
Ein Boxer, der hier trainiert, und jeder, der das Training hier regelmäßig mitmacht, weiß, dass man Schmerzen auch aushalten lernen muss, wenn es sein muss und dass man nicht fortläuft, auch wenn etwas wehtun könnte. Er muss mit einer gewissen Strenge sich selbst gegenübertreten, um seinen Weg selbstbewusst gehen zu können, er muss hart gegen sich selbst sein können. Das ist Training, das ist Arbeit an sich selbst, die nicht nur bedeutet, Schmerzen ertragen zu können, sondern auch sich selbst besser und besser in seinen Stärken und Schwächen einschätzen zu lernen, selbstkritisch zu sein, um besser zu werden.
Sich selbst einschätzen kann nur einer lernen, der auch Niederlagen erfahren hat und diese eben nicht nur irgendwie erträgt, sondern seine Schlüsse daraus zieht, sich das nächste Mal anders verhält, einen Fehler nicht mehrmals begeht und immer wieder aufzustehen imstande ist. Diese Haltung erkämpft man sich Tag für Tag neu – bis zum Schluss. Man trainiert hier auch Motivation.
Boxen tut weh. Ich sage immer wieder: Es ist der Kampf gegen den inneren Schweinehund. Die Kondition lässt nach, man wird geschlagen, es tut weh und es stellt sich unweigerlich das Gefühl ein: Ich kann nicht mehr! Wofür quäle ich mich eigentlich hier? Das ist ein Sinnbild, das auf das Leben als Ganzes übertragbar ist.
Wozu? Was ist der Sinn des Boxkampfes, worin liegt der Sinn des Lebens überhaupt? Das weißt Du – Philosophin – genau! Es ist ja nicht immer alles eitel Sonnenschein und es geht nicht alles glatt und der Reihenfolge nacheinander im Leben.
Das wäre wohl auch ziemlich langweilig. Stell Dir vor, alles und Dein ganzes Leben wäre bis ins Detail und bis in den Tod vorhergeplant und man hätte die „Sicherheit“, dass der Plan aufgeht. Man müsste sein Leben gar nicht mehr leben. Es wäre so, als hätte man es schon gelebt.
Leben gründet sich im Unvorhergesehenen, im Ereignishaften, Neuen, Offenen, aber auch Erschreckenden, Grausamen, Ungeplanten, im Geheimnis, im Überraschenden. Und dass nicht jede Überraschung für Freude sorgt, ist ja gemeinhin bekannt.
Ja, und es ist wichtig, dass ich in der Lage bin, auch mal etwas zu arbeiten, das mir nicht gefällt und an einem Ort zu sein, der mir nicht passt oder der mich auch langweilt und wo ich vielleicht auch mal die Arschbacken zusammenkneifen muss oder den Mund halten, obwohl ich platzen könnte und schreien … Ich kann mich selten einfach nur gehen lassen und muss oft Sachen erdulden.
Das ist wie beim Boxen, du musst Sachen zulassen – es wird dir z. B. für den Moment wehgetan, aber du verfolgst ein nachhaltigeres Ziel und erreichst es eher hintenraus – und plötzlich setzt du deinen Plan um, den du ohne die Geduld am Anfang nie hättest umsetzen können.
Gut, aber da sprichst du von dem Plan, der im Hintergrund immer schon oder noch steht: das ist ein gutes Stichwort. Du gehst davon aus, dass ein Plan vorhanden ist, an den man sich halten kann und um dessentwillen man sich durch etwas hindurchquält, etwas aushält – in Aussicht auf Belohnung für diese Quälerei.
Was aber, wenn das nicht der Fall ist? Was, wenn es diesen Plan so nicht gibt?
Ich kann mal anhand einer Sportlerkarriere, die ich begleite, noch etwas zur Haltung des Boxers sagen und der asketischen Arbeit an sich und deren Folgen. Unser Abdul, der kam damals mit 12 oder 13 Jahren hierher, war sportlich gesehen eher mittelmäßig, hatte kein selbstbewusstes Auftreten, es musste noch ein anderer Sportler mitkommen, um ihn an die Hand zu nehmen. Er hat sich sehr gut entwickelt.
Obwohl er den ersten Kampf verloren hatte und ich schon innerlich dachte, er sei verschreckt und kommt nicht wieder, denn wir waren damals bei den Meisterschaften und alle hatten gewonnen. Er war der Einzige, der verloren hatte und das war natürlich doppelt hart für ihn. Er hat aber vielmehr seine Schlüsse daraus gezogen und die Gespräche, die wir mit ihm geführt haben, angenommen und hat durchgezogen und ist jetzt seit 3 Jahren ungeschlagen.
Er ist selbstbewusst geworden und hat eine gute Figur bekommen. Er ist jetzt aus der Schule raus, beginnt eine Lehre und ich hoffe natürlich, dass es alles so positiv weitergeht. Ich denke, das hat Abdul geholfen, nach diesem Niederschlag weitergemacht zu haben und zu gewinnen und das macht auch einen starken Charakter aus: auch mit Niederlagen umzugehen.
Was Du gerade an Abduls Biographie beschrieben hast, war ja gleichzeitig eine Beschreibung eines jungen Mannes, der lernt zu leben, künstlerisch seinem Leben einen Stil zu geben per Boxkampf, der sich in sein Leben hineinboxt und es selbst in die Hand zu nehmen. Das heißt natürlich immer auch, im Experiment zu stecken, das – ins Extrem gedacht – immer auch unter Einsatz des eigenen Lebens vollzogen wird, also immer ein Selbstexperiment zu verfolgen, ja: sein Leben als Experiment zu betrachten unter Einsatz des eigenen Leibes.
So gesehen zielt das Experiment immer auf den Einsatz des eigenen Lebens, auf Leben und Tod. Das ist der Kampf. Was unterscheidet das Boxen in diesem Kontext von anderen Sportarten? Ist Boxen härter als andere Sportarten? Ist es immer ein Kampf auf Leben und Tod?
Zu sagen, dass es in jedem Kampf um Leben und Tod geht, wäre zu dramatisch. Aber im Profibereich, an der Weltspitze, wo die Leute 10-12 Runden boxen, ist es natürlich eine Riesenherausforderung und du kriegst permanent Schläge und musst Schläge verteilen. Das auch nicht nur direkt im Kampf, sondern auch bei der Vorbereitung dieser großen Wettkämpfe. Das ist ja schon sehr strapaziös.
Auf einen Titelkampf bereitet man sich zwischen 8 und 12 Wochen vor und da muss man schon in dieser Vorbereitungszeit extrem viele Sparring-Runden abliefern – vielleicht 60, 70, vielleicht 100 Sparring-Runden, um optimal vorbereitet zu sein auf diesen Kampf und das ist natürlich auch immer Substanz, die verloren geht.
Gerade im professionellen Boxbereich ist das so: das ist schon ein Überlebenskampf, weil die Boxer für Geld kämpfen und das eben nicht für einen neuen Ferrari, sondern bei vielen, gerade in den ärmeren Ländern, in den Philippinen, in Mexiko usw., ist es so, dass sie ums Überleben kämpfen und damit ihre Familie ernähren wollen.
Ein neues Zuhause schaffen ist oft das Ziel, denn wer gewinnt, steigt auch im sozialen Leben nach oben. Boxer sind Idole für anderen aus dem Kiez, die dann stolz auf den einen sind, der es aus ihrem Kiez geschafft hat. Ein armer Junge, der hat die Arschbacken zusammengekniffen, der ist nicht irgendwo abgestürzt, er ist von Anfang an geradlinig seinen Weg gegangen, um irgendwann einmal im Spitzensport anzukommen und vielleicht Weltmeister zu werden.
Da sprichst Du noch einen wichtigen Punkt an: das Vorbild. Der Schüler oder der Sportler sucht sich seinen Meister, sucht seinen Trainer – kurz: eine Autorität, die nicht sich selbst als solche deklariert, sondern die durch den Schüler, den Lernenden als solche gewählt und bestimmt wird.
Anders würde das wohl auch nicht funktionieren. Hier bist Du der Meister Matthias und wer wiederkommt, erkennt Dich auch an als Autorität und beugt sich der Struktur, um zu lernen.
Ja, das Training ist strukturbildend. Du musst hierher kommen und du musst dich hier diesem Training unterwerfen. Du kannst nicht einfach herkommen und dein eigenes Ding durchziehen: kasperst ein bisschen rum, haust ein bisschen gegen den Sandsack, machst ein bisschen Sparring – das funktioniert ja hier nicht, denn es ist alles durchstrukturiert.
Das heißt: wir beginnen mit dem gemeinsamen Erwärmen, mit Konditionstraining, wir arbeiten im technisch-taktischen Bereich, wiederholen wieder und wieder die Grundlagen, die Basics des Boxens. Dann wird es immer spannender und intensiver, wenn wir sagen: jetzt fangen wir mit lockerem Sparring an und dann steigert sich das, bis man sagen kann: es gibt Aufgaben und es gibt freies Sparring. Dann gibt es diesen freien Wettkampf und dann trennt sich ja schon die Spreu vom Weizen.
Dann kann ich sehen, wer trainiert hin zum Wettkampf, wer hat aber auch wirklich Interesse hier regelmäßig zu trainieren und wer ist auch charakterlich geeignet. Es gibt Leute, die können richtig gut austeilen, aber gar nichts einstecken. Das ist eben wie im Leben. Wenn du immer nur auf der Haben-Seite bist und dir fliegt alles zu, ist man an dem Punkt, an dem man etwas verliert, nicht vorbereitet. Aber wenn man da Härte zeigt und man zwar sagt: ja, mir geht’s scheiße, ich war jetzt in einem Tief, in einem Loch – aber ich komme da wieder raus.
Ich muss mich wieder hochkämpfen. Das ist wie ein Box-Kampf. Ich kann mal eine Runde verlieren und auch zwei Runden, aber ich muss wissen, dass ich hintenraus Gas geben muss, um das Ganze noch für mich zu entscheiden. Diesen Kampfgeist oder diesen Lebenswillen möchten wir den Leuten antrainieren und auch vermitteln und sagen: Es lohnt sich zu kämpfen, auch wenn es mal nach unten geht: ihr kommt wieder hoch.
Alles über den Boxclub im Netz: sportschule-international.com
Probefahrt, Reparaturbetrieb und die erstaunliche Frage nach der Mündigkeit in einem kontrollbesessenen System
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