„Die ,urbane Elite‘ besitze keine Idee von Heimat mehr, behaupten Rechte und sprechen vom ,Heimatbedürfnis der einfachen Menschen‘. Das ist ein ahistorisches Konstrukt“, so fasst die „Zeit“ einen Beitrag von Bodo Mrozek zusammen, in dem er sich mit dem AfD-Chef Alexander Gauland und seinen seltsamen Heimatthesen auseinandersetzt. Das kennen ja die Sachsen auch. Hier malträtieren ja gleich zwei Parteien diesen Kuschelbegriff. Der eigentlich nichts enthält als Leere.

Manchmal wird er als Synonym für Vaterland benutzt, manchmal für das Positive an der Provinz, das Tradierte und Bewahrenswerte. Er klingt nach etwas und lässt die Kuhglocken der Erinnerung ertönen. Aber es geht diesem Begriff wie allen Kampfbegriffen der Alt- und Rechtskonservativen: Wenn man ihn genauer beleuchtet, bezeichnet er nichts als ein verblassendes Bild im Museum der Erinnerung. Wer in größeren Abständen zurückkehrt in das, was andere so gern als Heimat bezeichnen, merkt es: Die Erinnerung hat jedes Mal weniger mit dem zu tun, was man vorfindet. Denn selbst der reale Ort, der in der Heimat-Begrifflichkeit immer derselbe zu bleiben scheint, verändert sich. Und zwar zusehends und viel schneller, als selbst die Dagebliebenen denken.

Man nehme ein x-beliebiges Dorf mit seinen Bewohnern, mit den Menschen die dableiben und immer älter werden und eines Tages sterben. Dann gibt es die Einladung zur Beerdigung. Und auf der Beerdigung sitzen andere Menschen beieinander als beim letzten Mal, die einen sind aus dem Arbeitsleben ausgeschieden, andere sind dazu gekommen per Heirat oder Geburt. Und die meisten sind weit angereist, weil sie anderswo eine Arbeit gefunden haben, studiert haben, Menschen fürs Leben kennengelernt haben.

Patriarchen von altem Schrot und Korn

Vielleicht ist es in den Köpfen der Altkonservativen tatsächlich so, dass sie ein Bild von Unveränderlichkeit verinnerlicht haben. Bilder von einem „So soll es sein“, in die sich alle anderen zu fügen haben. Denn das ist ja das alte patriarchalische Denken – das Denken von alten Männern, die mit niemandem über ihre Gefühle reden, mit Frauen schon gar nicht, aber stur ihre Ansichten vom „richtigen Handeln“ durchsetzen wollen.

Deswegen wirkt so vieles, was die Alten im Internet aus sich herausspucken, so vertraut. Es ist eine vertraute Biestigkeit, eine unbelehrbare Sturheit. Sie haben früh beschlossen, fertig zu sein, mit ihrer Welt und ihrem Moralkanon. Und danach haben sich alle zu richten.

Deswegen greifen konservative Parteien so gern zu „Erziehungsmethoden“, gerieren sich vormundschaftlich und nehmen sich heraus, bestimmen zu wollen, was alle anderen zu tun und zu lassen haben. Sie mischen sich, wo sie können, immerfort in die Lebensvorstellungen anderer Leute ein. Egal, ob es der Verzicht auf Schweinefleisch ist, gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind oder das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren eigenen Körper.

Ihre „Regierungsprogramme“ sind von dieser Sucht, andere zu bevormunden, auszugrenzen oder gleich ganz fortzuschaffen, voll. Sie sind Menschen mit eingebautem Dorfpolizisten, sie halten es nicht aus, wenn Menschen sich von ihnen unkontrolliert verhalten, wenn sie nicht alles unter Kontrolle haben. Deswegen ähneln sich autokratische Regime so sehr: Sie sind genau die Form, in der sich Männer ohne Gefühle ein System der Bevormundung und Kontrolle schaffen. Ein Staatswesen, das Schwarze Pädagogik zum Prinzip macht. Und all jene in Angst und Schrecken zu setzen versucht, die das Leben eben nicht als Unterordnung in ein starres Regime begreifen, sondern als Option. Als Chance, etwa draus zu machen.

Leben heißt Losgehen

Das, was Leben eigentlich ist und schon immer war. Selbst Märchen wie „Hans im Glück“ erzählen davon. Er tauscht ja nicht nur den schweren Goldklumpen ein, sondern entledigt sich Stück für Stück einer Last. Einer Last aus Erwartungen, dass er – von den Anderen aus gesehen – die richtige Wahl trifft, sich anpasst und „richtig funktioniert“.

Deswegen sind die meisten Kinder richtig erleichtert, wenn sie hören, dass Hans am Ende auch noch den Schleifstein wegschmeißt und frohgemut nach Hause geht. Denn alles, was wichtig ist, hat er im Kopf: Er hat etwas gelernt und kann sich jetzt im Leben durchbringen. Dazu braucht er keinen beschwerenden Besitz.

Was die Heimatverliebten ja auch nie begreifen: Was für eine Last Besitztum ist. Wer einen alten Bauernhof loswerden will, bekommt zumindest eine Ahnung davon, wenn die Kinder aus der fremden Stadt abwinken: Sie haben einen Beruf gefunden, der sie ausfüllt und herausfordert. Von diesen Berufen ist oft nicht die Rede, aber es gibt sie. Berufe, die ein Angebot zur Entfaltung sind. Was Erzkonservative auch von Herzen ablehnen, alles, was auch nur nach sozial, wissenschaftlich oder kreativ klingt. Wozu man ein Köpfchen wie Hans braucht, der Freude daran hat, Neues auszuprobieren. Der nicht am Alten festhält, weil das irgendwie ein Wert an sich sein soll.

Da steckt nämlich auch die ganze väterliche Wertediskussion. In der einem dann in der Regel Schweinefleisch als Kulturgut angedreht werden soll.

Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!

Diese alten Männer sind so neu nicht. Sie waren immer da. Aber sie haben ihre Renitenz und Belehrungssucht lange nicht zu einem altbackenen Parteiprogramm zusammengebacken und dann als Heilmittel angepriesen, wie die „bedrohte Heimat“ gerettet werden könnte. Ein Programm, das natürlich wirkt. Denn natürlich stimmt auch, dass unser Land auseinanderdriftet, dass gerade junge Menschen sich eben doch verhalten wie Hans im Glück und losziehen, ihr Glück in der Welt zu versuchen.

Nicht zu suchen, sondern zu versuchen. Denn sie wissen (oder spüren es zumindest), dass sie ihr Glück im Herzen, in den Händen oder im eigenen Kopf tragen. Dass sie es können. Und dass sie nur den Mut finden müssen, loszugehen. Und zwar in die Fremde, die nur dann bedrohlich wirkt, wenn man den Kopf eingesperrt hat in die Alptraumvorstellung von Heimat. Und nicht sehen will, dass alles sich fortwährend verändert.

Im Erfolg der Alten steckt auch eine Menge Frustration darüber, dass sie über das Glück der Kinder nicht mehr entscheiden können, dass sie dafür nicht mehr gebraucht werden. Die Zeitungen waren ja mittlerweile voller Geschichten solcher Kinder, die ihre vergnatzten Alten noch einmal besucht und dann krachend die Tür hinter sich zugeschmissen haben. Sie halten diese Besserwisserei von Leuten, die im Kopf niemals fortgegangen sind, nicht mehr aus.

Und sie genießen es, fortgehen zu können. Sie wissen, dass das Glück in ihren eigenen Händen liegt.

Ein Land, das Angst hat vor Veränderung

Und dann liest man so parallel noch die jüngste Kolumne von Henrik Müller im „Spiegel“, in der er vor sich hinbarmt, Deutschland würde gerade wieder zum „kranken Mann Europas“ werden, weil das Bruttoinlandsprodukt nicht mehr so schnell wächst wie anderswo. Und natürlich findet er sein Warnbild in der Vergangenheit. Wo auch sonst.

„Vor knapp 20 Jahren war die Bundesrepublik das Land mit der ,roten Laterne‘ – das Schlusslicht am Heck des europäischen Zugs. 2002 veröffentlichte Hans-Werner Sinn, damals Präsident des Münchner Ifo-Instituts, einen gleichnamigen Aufsatz. Darin diagnostizierte er eine umfassende Strukturkrise: eine schwächelnde Industrie, von internationalen Wettbewerbern bedroht, eine überalternde Bevölkerung, hohe Arbeitslosigkeit und steigende Staatsschulden, dazu eine Welle von Unternehmensinsolvenzen und eine schwelende Bankenkrise. Deutschland gab damals kein gutes Bild ab.“

Das sind die Märchen unserer Wirtschaftsprofessoren, die immer wieder erzählen, dass „Hartz IV“ das Land gerettet habe („Wenn Hans nicht pariert, aber dann … Knüppel aus dem Sack!“). Und dass Deutschland irgendwie aus lauter Faulheit erst dahin geraten war und nicht durch den größten Kraftakt in der deutschen Nachkriegsgeschichte: die Transformation des kompletten Ostens. Die hat auch Geld gekostet. Und sie hat tatsächlich Reformen verzögert. Aber nicht die so gern angepriesenen, sondern die Strukturreformen innerhalb der Wirtschaft selbst. Etwas, was sich alte bräsige Wirtschaftsminister so gern auf die Fahnen schreiben, weil sie gern Subventionen vergeben und neue Fabriken eröffnen.

Die Innovationen aber kommen aus der Wirtschaft. Oder zumindest aus den Unternehmen, die den Druck des wirklichen Wettbewerbs verspüren, in dem die Konkurrenten nämlich erfinderisch sind und sich immer wieder was Neues ausdenken, um die Kunden einzufangen. Und die auch so flexibel sind, sich auf neue Herausforderungen einzustellen. So wie Hans im Glück.

Nur dass sie in Deutschland eher nicht belohnt werden, weil ältere, zukunftsscheue Wirtschafts- und Finanzminister lieber dicke alte Konzerne retten, die sie für „big to fail“ halten, also für „zu fett zum Alleinelaufen“.

Weshalb diese alten, fossilen Kolosse derzeit den Markt verstopfen und die Ressourcen binden.

Und unser Land so aussieht wie ein alter, griesgrämiger Kauz, der keine große Lust darauf hat zu sehen, was als nächstes kommt. Eher nickt er dem alten Griesgram von ganz rechts außen zu, der schon die ganze Zeit gegen diese Zumutung poltert, dass diese junge Bande da in den Städten alles verändern will, immerzu Neues ausprobiert und die ganzen Fenster aufgerissen hat, um Licht und Luft hineinzulassen.

Der Aufstand der Veränderungsunwilligen

Was wir erleben, ist tatsächlich der Aufstand der alten, veränderungsunwilligen Männer, die gern ein bunt angemaltes Heimatdeutschland wiederhaben wollen, das es so nie gab, das immer nur Filmkulisse war für die damals jungen Alten, die sich lieber nicht erinnern wollten, wohin die ganze Heimattuterei führt, wenn sie sich radikalisiert.

Sie halten sich tatsächlich für nett und umgänglich und ihre grimmige Rechthaberei für väterliche Zuneigung. Und wundern sich, wenn sich die Jungen dieser erstickenden Geste entziehen und sich das Belehren verbitten. Und allergisch reagieren, wenn die Alten dann embrassiert auf den Tisch schlagen, dass das gute Porzellan scheppert: „IN MEINEM HAUSE DULDE ICH …“

Darum geht es die ganze Zeit, wenn sie von „Heimat“ reden. Nur um das, was sie dulden und nicht dulden.

Ihre Gemütlichkeit ist lange köchelnde Unzufriedenheit, die herausplatzt, wenn auch nur einer widerspricht.

„ISS, WAS AUF DEN TELLER KOMMT!“

Sie wissen ja, wie das jedes Mal endet. Mit Türenkrachen. Einem vorwurfsvollen Blick von Mutti, die doch nur den Hausfrieden bewahrt wissen wollte. Und einem späteren vorwurfsvollen Anruf ihrerseits bei Hans, der sich nun überlegen soll, wie er das wieder gutmachen kann, dass Vati sich so aufgeregt hat. „Du weißt doch, sein Herz …“

Und was tut Hans?

Er überlegt sich dreimal, ob er nächstes Jahr wieder hinfährt.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

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