Wenn man so durch die üblichen großen und privaten und öffentlichen Medien blättert, staunt man immer wieder, wie die dortigen Kollegen doch immer mal wieder zurückkommen an den Startpunkt, den Roten Faden erwischen, und dann beim nächsten Zirkus-Geschmetter wieder fröhlich zum nächsten Thema flattern und alles wieder zu vergessen scheinen. Der Deutschlandfunk Kultur hatte am 6. Juli so einen kleinen Lichtblick.

Da brachte er ein Interview mit der Soziologin Cornelia Koppetsch. Die tauchte nicht zufällig auf, denn sie hat ein Buch veröffentlicht: „Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im Zeitalter der Globalisierung“. Die Faktenlage ist klar: Die AfD ist keine Ausnahme. Solche Parteien gibt es so gut wie in allen westlichen Ländern. Manche regieren sogar, manche verzapfen ein heilloses Tohuwabohu wie beim Brexit.

Und: Ihr Gelärme wirkt. Sie beherrschen die Schlagzeilen, setzen Themen, sorgen regelrecht dafür, dass alle anderen Parteien ihnen nachlatschen, ihre eigene Agenda verschärfen (wie die CDU), nicht aus den Frames rauskommen (Flüchtlingskrise) und ständig in einer Haltung der Rechtfertigung sind.

Deutschlandfunk Kultur bindet die Aussagen von Claudia Koppetsch so zusammen: „Die AfD ist kein ostdeutsches Phänomen, wie die Soziologin Cornelia Koppetsch erklärt, auch wenn sie dort die höchsten Stimmenzuwächse verbuchen kann. Ihre Anhänger kommen aus allen Milieus. Sie alle eint das gemeinsame Gefühl, Verlierer zu sein.“

An anderer Stelle heißt es: „Sie alle verbindet, dass sie ihre bisherigen Privilegien bedroht sehen und sich im Hauptnarrativ der Gesellschaft nicht mehr wiederfinden.“

Gab es diese Menschen nicht schon immer? Und warum wählen sie ausgerechnet jetzt, wo der Wohlstand so hoch ist wie noch nie, eine Partei, die mit rassistischen Parolen und nationalistischem Pathos aufmarschiert?

Die Sache ist nicht ganz so eindeutig, auch wenn man, wie Koppetsch, feststellt, dass diese Menschen meist in ihrer eigenen Informationsblase schmoren, „Neogemeinschaften“ bilden.

Dabei hat sie eigentlich auch den richtigen Punkt angetippt. Denn die „Neogemeinschaften“ stehen ja für eine umfassende Entsolidarisierung unserer Gesellschaften, für Egoismus, Mir san mir und „Haut ab!“ Eine Entsolidarisierung, die eine Ursache hat: „Für diese Entsolidarisierung macht Koppetsch die Neoliberalisierung der Gesellschaft verantwortlich. Nach dieser, die gesamte Gesellschaft durchdringenden Ideologie, ist jeder für sich und seinen wirtschaftlichen wie persönlichen Erfolg selbst verantwortlich.“

Und nicht nur „selbst“, sondern „allein“. Aus einer Gesellschaft, in der alle gemeinsam an einem solidarischen Projekt arbeiten („soziale Marktwirtschaft“) und Probleme gemeinsam lösen, wurde eine, in der immer mehr Menschen sich allein und im Stich gelassen fühlen. Das Vertrauen ist weg. Die Angst verwandelt sich in Misstrauen.

Das ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis von über 40 Jahren beharrlicher Marktbearbeitung. Denn dahinter steckt ein Konzept, ausgekocht von einem amerikanischen Ökonomen, der die Rezepte erfunden hat, mit denen man Gesellschaften dem neoliberalen Diktat (und damit der Gier großer Konzerne) radikal unterwirft. Die Stichworte lauten Deregulierung, Privatisierung, Verschlankung, Austeritätspolitik, Primat der Wirtschaft … Das Ziel ist immer dasselbe: Sämtliche Ressourcen einer Gesellschaft dem Zugriff der Konzerne zu öffnen, politische Selbstbestimmung auszuhebeln, wichtige Schutzregeln abzuschaffen und die Gewinne zu privatisieren. Deswegen haben neoliberale Thinktanks nur ein Mantra: Die Unternehmens- und Vermögenssteuern senken. Oder gleich abschaffen.

Denn wer dem Staat die Einnahmen nimmt, der zerstört seine Fähigkeit zum Ausgleich.

Mit den „Chicago Boys“ in Chile begann das 1973. Mit Ronald Reagan in den USA und mit Margaret Thatcher in England wurde es zur Staatsdoktrin. Und wer meint, Deutschland sei verschont geblieben, der irrt. In Deutschland wurden die Arzneien des Neoliberalismus auch angewandt. Und sie sind auch hier schon längst Kern der Politik. Wer es nicht glaubt, erinnere sich einfach an den Umgang deutscher Finanzminister mit Griechenland, an die Bankenrettung („to big to fail“), an die „Agenda 2010“, die Ausweitung der Leiharbeit, die Dumpinglohnpolitik in Ostdeutschland usw.

Die Deutschen haben genauso wie Amerikaner, Franzosen, Engländer und Griechen erlebt, was es bedeutet, wenn sich eine Gesellschaft schleichend entsolidarisiert, ganze Regionen von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt werden und selbst mitten im Wohlstand die Angst auftaucht: Wie geht denn das morgen weiter? Komme ich dann selbst unter die Räder?

Sage keiner, dass das ewige Gerede von den „Sozialschmarotzern“ keine Folgen hat. Die Feindbilder der AfD sind überhaupt kein Zufall. Es sind genau jene Menschen, die schon „ganz unten“ sind, die bitter drauf angewiesen sind, dass sie Hilfe von der Solidargemeinschaft bekommen. Nur sind sie das nicht ganz freiwillig. Viele Wähler der AfD kehren ihre eigene Angst (die ja täglich befeuert wird) um in Aggressionen gegen genau die Menschen, die schon da sind, wo man selbst niemals hin möchte.

Die Nicht-so-Starken werden emotional gegen die Schwächsten in Stellung gebracht.

Sie stehen also verkehrt herum.

Sie sehen nicht, wer die Gesellschaft tatsächlich plündert (Cum-ex-Gesschäfte, Steueroasen, Steuerbetrug, Subventionsbetrug, Outsourcing, unfaire Löhne usw.).

Sie werden mit Worten regelrecht darauf fokussiert, das Unheil von draußen kommend zu sehen, durch irgendwelche Barbarenhorden, die ihre heile Welt bedrohen. Motto: „Die da sind schuld daran, dass du Angst hast …“

Und dass diese Menschen Angst haben, bezweifle ich keine Minute.

Aber wo liegt die Lösung?

Deutschlandfunk Kultur versucht es mit diesem Fazit: „Und es müsste letztlich eine Sprache entwickelt werden, mit der man die Phänomene, die momentan mit Kategorien der AfD diskutiert werden, sprachlich neu besetzt, um die Themen Migration und Globalisierung anders zu diskutieren, um den Menschen zu ermöglichen, eine andere Sprache für das zu finden, was die AfD dann am Ende daraus macht – also eben Migrationsfeindlichkeit, Rassismus etc.“

Das, liebe Kollegen, ist mir zu feige formuliert.

Vielleicht, weil ich zu viele Bücher gelesen habe. Nein, das braucht nicht nur andere schöne Worte. Damit beseitigt man keine Ängste. Wer den Neoliberalismus nicht beim Namen nennt und alle seine zerstörischen Folgen für unsere Welt, der kann so viele schöne Worte finden wie Barack Obama – und es ändert sich doch nichts. Die Angst bleibt. Die Angst um Arbeitsplätze, Krankenversicherung, Rente, den eigenen Wohnort, so gern Heimat genannt und schöngemalt. Obwohl es immer um das elementare Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen geht.

Aber eine Gesellschaft, in der Angst, Hass und Misstrauen regieren, kennt kein Vertrauen.

Was tun?

Und vor allem: Warum saufen da ausgerechnet die ganzen sozialdemokratischen Parteien ab? Kann es sein, dass ihnen ihr eigener Kern verloren gegangen ist? Kann sein. Ist auch so.

Das ist die eine Spur. Sie führt unter anderem zu Albrecht von Luckes schon 2015 erschienenem Buch „Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken“.

In der Rezension zum Buch schrieb ich damals: „Von Lucke erinnert daran, dass Demokratie nur dann funktioniert, wenn Menschen zwischen unterscheidbaren Angeboten wählen können.“

Daran hat sich nichts geändert. Leider am Angebot einiger Parteien, die sich gern als sozial und demokratisch feiern, auch nicht. Sie haben das Mantra von den „Segnungen des Marktes“ und die ganzen Rezepturen neoliberalen Denkens zutiefst verinnerlicht. So tief, dass der Vorstand der SPD bis heute nicht begriffen hat, warum die eigenen Wähler in Scharen davongelaufen sind. Die Ideologie des Neoliberalismus funktioniert. Sie ist angelernt wie ein Mantra. Sie steckt in Schuldenverboten, Freihandelsverträgen, privaten Schiedsgerichten und Jobcenter-Sanktionen. Privatbesitz und Konzerngewinne sind die schützenswerten Güter, für die Arbeitnehmerrechte, Gesundheit und Umwelt zur Disposition gestellt werden.

Die Angst, als Mensch selbst aussortiert und für wertlos erklärt zu werden, sitzt tief in der Gesellschaft. Die einen verzweifeln und werden offen für rabiate Töne. Die anderen werden vom Leistungsdruck und Perfektionswahn getrieben, um mithalten zu können. Und beide ahnen nicht mal, dass sie von denselben Ängsten gejagt werden.

Wie kommt man raus aus dieser Falle?

Wir denken weiter drüber nach. Teil 2 folgt sogleich.

Nachdenken über …

Warum das Versagen der Linken unsere Demokratie gefährdet

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Ja, lieber Herr Julke, es ist auch Angst. Aber nicht alle sind von dieser Angst getrieben (die man auch noch ganz anders erklären kann, was ganz andere Lösungsansätze zur Folge haben müsste). Viele sind getrieben von einem, man möchte fast sagen heiligen Zorn, darüber, wie dieser global agierende entfesselte Kapitalismus sich in die Politik hineingefresse hat, wie deren Denken und Handeln zunehmend bestimmt wird von Arroganz, Ignoranz und dem Ausnutzen aber aller strategischer Möglichkeiten zur Profitmaximierung.
Die die AfD wählen wollen, sind mitnichten nur Neonazis und ewig gestrige Menschen(rechts)verächter. Womöglich wird die AfD gerade im Osten so stark, weil hier viele Menschen leben, die mal die Hoffnung auf etwas ganz anderes hatten als Fremdbestimmung, Manipulation, Ausgeliefertsein an einen Politikerkader und Abgekoppeltsein von den wichtigen Entscheidungen – eine grandiose Täuschung, die nun in eine ebenso große Enttäuschung mündet. Ich fürchte, genau das wird unterschätzt: wenn diese Menschen keinen Ort finden, an dem sie gesehen und gehört werden, man sie statt dessen in einen Topf schmeißt mit Leuten, deren Ansichten ihnen eigentlich egal oder gar nicht so recht sind, dann wird es schwierig: nur weil es kein Clo zum Sitzen gibt, sind doch nicht alle Stehpinkler, die eine volle Blase haben und jetzt mal (was tun) müssen.

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