Gehen wir also in Teil 3 dieses Nachdenkens zurück zum Interview des Deutschlandfunk Kultur mit der Soziologin Cornelia Koppetsch, die eben nicht nur sagte: „Und es müsste letztlich eine Sprache entwickelt werden, mit der man die Phänomene, die momentan mit Kategorien der AfD diskutiert werden, sprachlich neu besetzt ...“, wie es der Deutschlandfunk kurz zusammenfasst. Sie hat auch ganz am Ende festgestellt, wo die große Leere bei unseren heutigen sozialen Demokraten ist.

„Außerdem ist es zum Beispiel nicht zu verstehen, dass wir in einer EU leben, die zwar alles dafür tut, Märkte zu liberalisieren und sehr, sehr viel Binnenmarkt und Freihandelszonen und dergleichen geschaffen hat, aber nichts, aber auch fast gar nichts dafür getan hat, einen Sozialplan, eine Solidargesellschaft auf EU-Ebene zu schaffen, also Sozialgesetzgebungen zu erneuern“, sagt Koppetsch. „Und das ist meines Erachtens unabdingbar, wenn man wirklich eine Gesellschaft auf die transnationale Ebene – und daran führt ja kein Weg vorbei – heben will. Das heißt, wir brauchen eine Vorstellung, wie eine EU jenseits eines Marktmodells funktionieren soll. Was ist das …“

Das gilt aber nicht nur für die EU. Das gilt auch für Deutschland und Sachsen. Die Rechtspopulisten verweisen zwar ständig auf die EU. Aber sie lenken damit auch davon ab, dass die Fehlentwicklungen in ihren eigenen Ländern stattfinden. Dass es ihr eigenes Land ist, das sich den neoliberalen Glaubenssätzen unterworfen hat. Ihre eigene Partei sowieso. Die redet viel und sie will vieles nicht, aber sie macht nicht einen einzigen belastbaren Lösungsvorschlag.

Außer den, sich wieder in der nationalen Enge zu verkriechen und so zu tun, als ginge einen das da draußen gar nichts an.

Also zurück zu den Linken. Diesmal ohne Anführungszeichen, weil auch Naomi Klein keine benutzt. Das ist die Wirtschaftsforscherin, die wie keine andere erforscht hat, was dieser Neoliberalismus eigentlich ist, wie er funktioniert und wie er seit Reagan und Thatcher die westlichen Gesellschaften ausplündert.

Wer das Thema nie aus den Augen verloren hat, der kennt ihren Bücher „No logo“ (2000) und „Die Schock-Strategie“ (2007). Im ersten Buch erzählte sie, wie große (Marken-)Konzerne unsere Gesellschaften aushöhlen, Arbeit entwerten und die Produktionsprozesse nicht nur ausgelagert und aufgesplittet haben, sondern den Augen der Käufer völlig entzogen. Die meisten Konsumgüter des Westens werden heute in Ländern Asien uns Afrikas unter miserablen Arbeitsbedingungen erzeugt und dafür alle Ressourcen geplündert und zerstört, während diese Auslagerung in Billigproduktion als „Globalisierung“ verkauft wird. Mit dieser Entkernung verschwanden Millionen Industriearbeitsplätze in den USA, Frankreich, USA, aber auch in Deutschland.

Mit der „Schock-Strategie“ erzählte Klein, wie es die großen Konzerne im Verein mit der Politik der US-Regierung anstellen, sich „neue Märkte zu erschließen“. Mit Gewalt nämlich. Manchmal werden die Schocks künstlich erzeugt (Putsche in Südamerika, Kriege in Nahost), manchmal kommen Naturkatastrophen zu Hilfe, die dann von gewinnorientierten Unternehmen radikal ausgenutzt werden, um mit ihren „Rettungsaktionen“ richtig Profit zu machen, manchmal helfen Staatskrisen (wie der Zusammenbruch des Ostblocks 1990 oder die Staatsschuldenkrise 2008), die den neoliberalen „Reformern“ Zugriff verleihen auf Regierungen und Sanierungsprogramme, die vor allem aus dem mittlerweile zum Werkzeug gewordenen neoliberalen Dreiklang bestehen: Deregulieren, Privatisieren, Staatsrückbau. Ach ja: Profitmaximierung.

Dass Schocks die Entwicklung vorantreiben, war die verblüffende Erkenntnis von Naomi Klein. Aber dazu gehört auch die schon von Friedman formulierte Feststellung, dass man solche Schocks braucht, um Gesellschaften so zu verunsichern und zu destabilisieren, damit sie bereit sind, die neoliberale Ochsenkur über sich ergehen zu lassen. Denn nur in solchen Schocksituationen kann man die natürliche Solidarität von Gesellschaften, die solche milliardenschweren Diebstähle sonst verhindern würden, kurzzeitig aushebeln. Naomi Klein: „Die Schock-Strategie zielt darauf, diese zutiefst menschliche Hilfsbereitschaft zu unterdrücken und stattdessen von der Schutzlosigkeit anderer zu profitieren, um Reichtum und Vorteile für einige wenige zu maximieren.“

In ganz Osteuropa hat das die Macht der Oligarchen erst geschaffen. Und es verwundert nicht, dass ein Oligarch wie Donald Trump sich mit den Oligarchen des Ostens pudelwohl fühlt.

Die Sätze schrieb Naomi Klein übrigens in ihrem 2017 erschienenen Buch „Not is not enough“, das auf Deutsch als „Gegen Trump“ erschien. Auch dieses Buch ein Buch, das auf einen Schock reagierte, die von vielen für unmöglich gehaltene Wahl des Grabschers, Prahlhanses und Rassisten Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten.

Im Lauf des Buches kommt Klein dann zur Erkenntnis, dass die Trump-Wahl gar kein Schock war, sondern nur das logische nächste Stück einer langen Entwicklung, in der die neoliberalen Rezepte in den USA immer weiter vorangetrieben wurden, die die Gesellschaft zutiefst spalteten und bei immer mehr Menschen gerade aus Arbeiterschaft und Mittelschicht das Gefühl erzeugten, dass nichts mehr geht. Ein Gefühl, das nicht nur ein Gefühl war, denn die Industriearbeitsplätze waren ja tatsächlich demontiert und exportiert worden, die Einkommen der Arbeiter tatsächlich um 10 Prozent gesunken.

Der neoliberale Arbeitsmarkt schafft auch Arbeitsplätze – aber lauter billige und prekäre, die nicht für ein selbst gestaltetes Leben reichen. Und die Demokraten hatten dem rabiaten Wahlkampf Donald Trumps am Ende nichts entgegenzusetzen.

Denn sie hatten keine Vision. Was man nach der verklärten Regierungszeit Barack Obamas nur nicht so merkte. Aber die Chance, das kleine Zeitfenster zu nutzen, in dem Obama auch die Mehrheiten im Kongress hinter sich hatte, um die amerikanische Gesellschaft auf einen neuen, zukunftsfähigen Weg zu bringen, hat Obama vertan. Regelrecht vergeigt. Denn anders als Deutschlandfunk Kultur suggeriert, geht es nicht um eine neu zu entwickelnde Sprache.

Da gilt mal wieder ein Goethe-Spruch, den mancher gedankenlos im Mund führt, nur begriffen wird er scheinbar selten: „Der Worte sind genug gewechselt, / Laßt mich auch endlich Taten sehn! / Indes ihr Komplimente drechselt, / Kann etwas Nützliches geschehn.“

Das steht im ersten Teil von „Faust“. Und ist eigentlich sehr deutlich.

Wir haben jetzt ganze Jahrzehnte erlebt, in denen uns die neoliberalen Rezepte schöngeredet wurden. Wir wurden von neoliberalen Parteien regiert, die das Denken im Dienste der großen Konzerne regelrecht verinnerlicht haben. Und Hillary Clinton wurde 2016 als nichts anderes empfunden, als eine Vertreterin des Großkapitals und des neoliberalen Establishment.

Aber wofür stand Hillary wirklich? Wo war ihre glaubwürdige Vision für die Zukunft?

„Der Worte sind genug gewechselt …“. Ein Menschenleben ist kurz und Menschen halten es nicht aus, für den Rest ihres Lebens in Zuständen ausharren zu müssen, die sie als ungerecht und einengend empfinden, in denen sie sich machtlos fühlen und ausgegrenzt. Denn genau da holt die AfD ja ihre Wähler ab: aus einem Gefühl tiefster Machtlosigkeit. Mit Rabatz suggeriert man ihnen wenigstens ein bisschen Stolz und das falsche Versprechen auf Selbstbestimmung.

Was fehlt?

Das Gegenangebot.

Was Naomi Klein übrigens in „No logo“ umtreibt. Noch einmal explizit zugespitzt hat sie es 2014 in „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“. Hier hat sie noch einmal anschaulich gezeigt, warum unsere heutigen Umweltkatastrophen genau mit dieser von Gier getriebenen neoliberalen Wirtschaftspolitik zu tun haben, mit dem irren Glauben an unendliches Wachstum und das völlig verfehlte Vertrauen in „die Märkte“. Und mit der Behandlung von Menschen und Umwelt als Wegwerfmasse. Was nicht „in Wert gesetzt“ werden kann, wird entsorgt wie Abfall, irgendwo hingekippt, wo es keiner sieht. Diese Ideologie geht mit der Erde genauso um wie mit den Menschen.

In dieser Marktradikalität gibt es nur noch ein absehbar katastrophales Ende. Weshalb ja unsere Fernsehsender voller Dystopien sind. Bis hin zu erfolgreichen Netflix-Serien, die alle von irgendwelchen Endkämpfen des „Guten“ gegen das angreifende „Böse“ erzählen. Rette sich, wer kann! Was für eine bescheuerte Vision …

Was eigentlich schon nahelegt, wie ein Gegenentwurf gegen den wild gewordenen Rassismus aussehen kann, denn die neoliberalen Politiker haben ja keine Visionen. Sie drucksen nur herum, versuchen irgendwie sich selbst als Retter von Demokratie und Liberalität zu verkaufen, obwohl ihre Rezepte eindeutig beides unterhöhlen.

Jede Gegenvision muss eine des Bewahrens sein, eine der Solidarität, des gemeinsamen Heilens einer zerstörten Welt.

Eine Bewegung, die den Klimawandel nicht zum Thema macht und Vorschläge macht, wie wir als Gesellschaft eine Welt schaffen, in der unsere Lebensgrundlagen erhalten bleiben und Menschen eine würdige Arbeit bekommen, von der sie leben können, braucht gar nicht erst zur Wahl anzutreten. Sie hätte ja nichts, das Wähler überzeugen könnte.

Die Skizze so einer Vision haben übrigens eine Reihe kanadischer Gruppen schon 2017 entworfen – auch unter dem Eindruck des Wahlerfolges von Trump, der sofort die rücksichtslosesten Vertreter der alten Fossilwirtschaft in sein Kabinett holte. Was Naomi Klein besonders sauer machte. Ein paar Federstriche genügten, und Trump hatte selbst die mickrigen Fortschritte der Klimapolitik aus der Obama-Zeit wieder zunichte gemacht.

Aber das Leap-Manifest geht nicht nur auf die Bewahrung der Schöpfung ein, sondern auch auf die Rückgewinnung eines sozial handelnden Staates, auf die Aufwertung wirklich nachhaltiger Berufe, auf die heute endlich diskutierte CO2-Steuer, auf umweltfreundliche Verkehrssysteme … der Sprung (leap) in eine ökologische Wirtschaftsform wäre ein riesiges Investitions- und Arbeitsbeschaffungsprogramm. Auch für die Arbeiter im Bergbau und in den fossilen Industrien.

Das Leap-Manifest wurde in Deutschland auch von der Degrowth-Bewegung übernommen. Das ist also alles nicht neu. Und unsere Parteien können sich daraus bedienen und wirklich einmal überzeugende Wahlprogramme schmieden. Aber wie der NABU Sachsen jetzt bei einer Abfrage bei den Parteien zur Landtagswahl feststellte, haben nur Grüne, Linke und SPD Teile dieser Politik im Programm. Manchmal wirklich nur Teile, als traute man sich nicht, mit einer wirklich nachhaltigen Vision für Sachsen in den Wahlkampf zu ziehen. Vielleicht auch, weil man es im Kopf nicht zusammenbekommt, dass Klimagerechtigkeit, Artenschutz und soziale Gerechtigkeit zusammengehören, dass sie sich in einem solidarischen Gesellschaftsmodell bündeln, in dem auch „denen da unten“ nicht nur wieder etwas zugetraut wird, sondern Kompetenz zugestanden wird, in ihrem Bereich die Dinge zum Besseren zu wenden.

Das würde nicht an Hass und Vorurteile appellieren, sondern Menschen als souveräne Mitglieder unserer Gesellschaft akzeptieren. Und es würde – statt die Ängste immer weiter zu schüren – Visionen entwickeln. Für dieses Land, für jede Region.

Womit sich der Kreis schließt: Menschen halten es nicht aus, wenn ihnen ihr eigenes Leben immer nur als alternativlos, chancenlos und unveränderbar verkauft wird. Das macht wütend. Es gibt immer Alternativen. Und zwar auch positive, visionäre, die wirklich den Bürgern ein Angebot machen, eine lebenswerte Zukunft mitzugestalten.

Buchtipp: Naomi Klein „Gegen Trump“, S. Fischer, Frankfurt am Main 2017

Nachdenken über …

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