Da hat sich der Kevin mal was getraut, hat das schreckliche S-Wort in den Mund genommen. Und die „Zeit“ hat das Interview mit dem Juso-Chef Kevin Kühnert am 1. Mai auch noch veröffentlicht. Ganz bestimmt damit rechnend, dass ein Geschrei anheben würde bei all den Leuten, die es sich so gemütlich gemacht haben in Angelas „alternativlos“. Wer was anderes denkt, gehört ja irgendwie ins Irrenhaus.

Dass sich auch etliche SPD-Genossen derart geäußert haben, verwundert mich nicht. In unserem Büro geht ja auch ein alter SPD-Genosse ein und aus, mit dem sich unsereiner in kurzen Ablenk-Pausen herrlich streiten kann. Und es muss erst am Montag oder Dienstag gewesen sein, noch vor dem Kevin-Interview, da war er wieder verzweifelt über seine Partei, die so mut- und kraft- und saftlos wirkt. Und die man sich selbst als gestandener SPDler kaum noch traut zu wählen, weil irgendwie ihr alter glühender Kern erloschen ist

„Aber“, sagte er dann und sagt es meistens: „Aber die anderen kann man doch erst recht nicht wählen!“ Und auch Robert Habeck von den Grünen habe ihn nun restlos enttäuscht, weil er das Wort Enteignung in den Mund genommen habe. „Das haben wir doch nun wirklich hinter uns. Was passiert, wenn ein Staat alle enteignet, haben wir nun doch erlebt.“

Aber wer hat denn noch Ideen? Was schlägt denn die SPD vor?

„Na ja“, sagte er, der noch im letzten Jahr ganz große Stücke auf den rührigen Juso-Vorsitzenden gesetzt hatte, „von Kevin Kühnert hab ich auch lange nichts gehört. Das war wohl auch nur eine Eintagsfliege.“

Vielleicht hat er auch nicht Eintagsfliege gesagt. Aber so ungefähr stimmt’s.

Und nun ist Kevin wieder da – und schafft es mit einem einzigen Interview, das ganze gut gepolsterte Besitzbürgertum gegen sich aufzubringen.

Was mich an die nächste Wendung im Gespräch erinnert, denn der alte SPD-Genosse guckt eben auch viel zu viel Fernsehen und hat sich da auch einen Blick auf die Welt angewöhnt, der den meisten Menschen heute ganz normal vorkommt. „Nur der Kapitalismus kann uns retten“, sagte er. „Enteignung oder Kapitalismus. Etwas anderes gibt es nicht. Und wenn die Wahl steht, bin ich klar für Kapitalismus. Selbst wenn …“

Und da war ich ein bisschen verwirrt, weil ich so nicht denken kann. Wenn ich eins gelernt habe, dann das: Dass menschliche Gesellschaft und auch menschliches Wirtschaften nie in Reinform existiert, immer in Alternativen, Schattierungen, Veränderungen.

Etwas, was aber fast völlig aus unserer Debatte verschwunden ist. Spätestens seit Angela Merkels Leipziger Parteitagsrede von 2003. Da brachte sie ihr vermaledeites „alternativlos“ in die Welt. Als gäbe es zum radikalen Kapitalismus keine Alternative. Als wäre das so eine Art heiliges Dogma.

Und das Schlimme ist: Selbst Wirtschaftsprofessoren denken so.

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Am Donnerstag, 2. Mai, schickte uns die Leipziger Handelshochschule (HHL) dieses Statement des Professors Arnis Vilks, der zur Zeit an der HHL die Theorie des allgemeinen Marktgleichgewichts in Leipzig unterrichtet.

Prof. Dr. Arnis Vilks: „Dass ein Wirtschaftssystem mit kompetitiven Märkten, Gewinne maximierenden Unternehmen und Privateigentum an solchen Unternehmen nicht alle Probleme der Güterallokation vernünftig regelt, ist zwar richtig.

Aber die Idee, dass Privateigentum an Unternehmen besser durch Kollektiveigentum zu ersetzen wäre und dass Märkte wie der Wohnungsmarkt durch Mengenrationierung geregelt werden sollten (Herr Kühnert meint anscheinend, nur Eigentum an selbstbewohnten Immobilien solle erlaubt sein), beseitigt nun wirklich nicht die Nachteile einer sich selbst überlassenen Marktwirtschaft.

Wer ein wenig Volkswirtschaftlehre gelernt hat, weiß, dass das Problem der Verteilungsgerechtigkeit nicht von Marktkräften allein vernünftig gelöst wird, und dass Güterproduktion mit externen Effekten nicht vernünftig von Marktkräften allein geregelt wird.

Aber diese Probleme – die in Zeiten wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit und globaler Erwärmung durch Treibhausgasemissionen nun wirklich drängende Probleme sind – werden sicher nicht besser als derzeit durch Kollektiveigentum an Produktionsmitteln und mengenmäßige Beschränkung ausgewählter Eigentumsrechte gelöst. Beides würde eher zu neuen Problemen führen als es die bestehenden Probleme zu lösen helfen würde.“

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Sie können das Statement ruhig von oben bis unten und von hinten nach vorne lesen. Sie werden nichts anderes finden als die etwas verklausulierte Botschaft, dass Kevin Kühnert keine Ahnung hat und lieber die Klappe halten sollte. Wenn er nur „ein wenig Volkswirtschaftlehre gelernt“ hätte, wüsste er, dass „Kollektiveigentum an Produktionsmitteln“ leider die Unfähigkeit der Märkte (oder „Marktkräfte“), allen Menschen genügend Güter zum Leben bereitzustellen, nicht lösen kann. Und dann kommt – mal wieder nichts.

Das eine ist unfähig, das andere unmöglich. Ja, was denn nun? Hören wir hier jetzt mit Denken auf?

Die heute gelehrten Wirtschaftswissenschaften haben leider mit wissenschaftlicher Neugier wenig zu tun. Und in Alternativen können sie schon gar nicht denken. Das passiert nur außerhalb der Lehrstühle, bei den jungen Ökonomen, die nicht mehr in den alten Schablonen denken wollen.

Was übrigens Mely Kiyak in ihrem „Zeit“-Kommentar schön auf den Punkt gebracht hat. „Die Reaktionen auf Kevin Kühnerts Nachdenken sind aber derart peinlich, dass es vielleicht an der Zeit ist, sich grundsätzlich ein paar Gedanken darüber zu machen, was es eigentlich mit dem Nachdenken in der Politik auf sich hat“, schreibt sie. Recht hat sie.

Wer Denkverbote über Alternativen verhängt, der sorgt dafür, dass unsere politischen Diskussionen so werden, wie sie sind. Die Engländer haben es mit ihrem vergeigten Brexit ja vorgemacht. Wer nur die Wahl hat zwischen „Dafür“ und „Dagegen“, der darf sich auf ganzer Linie veralbert fühlen. Übrigens auch von jenem albernen „bento“-Interview mit der Stadtplaner-Professorin Christa Reicher von der RWTH Aachen, die dann so einen seltsamen Unfug von sich gibt, den man auch in Sachsen hört, wenn es um den Wohnungsmangel in Leipzig geht.

Motto: Dann sollen die Leute doch dahin ziehen, wo Leerstand ist. Oder mit Reichers Worten: „Die größten Wohnungsnöte gibt es in den Metropolen. Die Städte mit Randlage beklagen hingegen Leerstand. Es wäre im Interesse des Staates die Balance wiederherzustellen, damit die Städte, die völlig am Limit sind, Bewohner an die Städte abgeben können, die gerne mehr hätten. Die Zukunft der Stadt sind die Regionen, die darum liegen.“

Blöd nur, wenn die Arbeitsplätze von heute eben just in der Großstadt entstehen und nicht in der Pampa.

Kurzer Zwischengedanke: In der Pampa könnten auch Arbeitsplätze entstehen – wenn unsere Politik nur den Mut hätte, ein bisschen zu regulieren – in diesem Fall z. B. die Macht der Agrarkonzerne, der Nahrungsmittelkonzerne und der Supermarktbetreiber.

Was übrigens notwendig wäre, wenn unsere Regierungen die „Angleichung der Lebensverhältnisse“ wirklich ernst nähmen. Aber das ist die größte Blase derzeit. Was das Geschrei auf Kühnerts Überlegungen ja schon beschreibt.

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Aber zurück zu unserem SPD-Genossen, der fast panisch wurde, als ich nur „Aber“, sagte weil es zwischen Privateigentum und Staatseigentum ja nun wirklich noch etwas anderes gibt. Was ich bisher eigentlich für Grundwissen in der SPD gehalten habe, denn für dieses Dazwischen-Eigentum hat sie sich in ihrer jungen Phase mal richtig engagiert. Damals, als die noch relativ jungen SPD-Genossen noch wussten, was es bedeutet, wenn der Lohn nicht für eine ordentliche Wohnung reicht und auch nicht für den Händler an der Ecke und auch nicht für den Arzt oder gar eine Rente.

Da hat sie die Gründung von Gemeinschaftskassen und Genossenschaften regelrecht befeuert: Die kleinen Leute werden selbst Miteigentümer eines Unternehmens, das für sie eine Grundversorgung herstellt. Der „Konsum“ ist dafür genauso ein Beispiel wie die Wohnungsgenossenschaften es sind.

„Na gut“, sagte der Genosse. „Aber …“. Als wenn das zu wenig wäre.

Ist es auch.

Gäbe es kein kollektives Eigentum, sähen unsere Städte noch schlimmer aus. Denn wenigstens in den Kommunen ist klar, dass man mindestens die Daseinsvorsorge in kommunaler Hand behalten muss, wenn einem clevere „Marktakteure“ nicht das Fell über die Ohren ziehen sollen und man wenigstens noch ein bisschen steuern will. Egal, wie sehr man Stadtunternehmen kritisieren mag – sie sind kollektives Eigentum mit einer gewissen demokratischen Kontrolle. Und sie sind – noch so eine Staats-Einmischung – streng reguliert.

Anders als der Wohnungsbau, den ich ebenfalls für ein Element der Daseinsfürsorge halte. Nur dass das politische Herumschrauben an Symptomen nicht viel hilft, wenn man damit – das ist ja der Tenor – immer nur irgendwie die Mietpreise eindämmen will, aber kein einziges Instrument hat, genug Wohnraum für alle bereitzustellen – und zwar da, wo er gebraucht wird. Und so, dass ihn auch Fensterputzer, Paketboten und Kassiererinnen bezahlen können, ohne dabei zu bluten.

Also all jene Leute, für die Kevin Kühnert spricht, die sogenannten „kleinen Leuten“, ohne die der Laden nicht läuft.

Wobei Sie ja schon gemerkt haben: Ich tippe damit eine von vielen möglichen Alternativen an, die zwischen „Friss oder stirb“ liegen. Über die ganz sichtlich unsere gut bezahlten Professor/-innen gar nicht erst wagen nachzudenken in dem seltsamen Glauben, ihre festgemauerten Ansichten könnten für irgendetwas die Lösung sein.

150 Jahre SPD-Geschichte sind eine Geschichte voller alternativer Ansätze. Nur seit 16 Jahren ist ganz sichtlich der Wurm drin und viele der oft Zitierten reden eigentlich nur noch immer dasselbe, regelrecht verbissen in der Haltung, dass man seit 2003 keine Alternativen auch nur denken dürfe, sonst wird man von den Getreuen des TINA-Syndroms nicht mehr auf seine Jacht eingeladen.

Das musste jetzt mal gesagt werden.

Da hab ich doch lieber zehn Kevins, hundert Melys und den einen oder anderen mutigen August, der sich von den Gehtnichts nicht die magere Butter vom Brot nehmen lässt. Bebel hieß der Bursche übrigens. Der wäre heute eher bei den Jusos als im Bundesvorstand der SPD.

Die Serie „Nachdenken über …“

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Es gibt 2 Kommentare

“(…) und dass Märkte wie der Wohnungsmarkt durch Mengenrationierung geregelt werden sollten (…).” Verstehen diese Professoren nicht, dass Wohnen als Ware nicht wie andere Waren funktioniert? Wenn location, location, location gilt, dann ist eine Wohnung nicht mit einer anderen vergleichbar. Leute ziehen auch nicht aus, weil eine nach Mietspiegel vergleichbare Wohnung zu einer geringeren Miete zu haben ist. Insofern gibt es keine anderen Warenmärkten vergleichbare Konkurrenz. Darüber hinaus hält der Staat das Angebot künstlich knapp (Abrissförderung). Kühnert glaubt sicher nicht, dass das Problem darin besteht, dass Menschen mehr als eine Wohnung KAUFEN sondern vielmehr darin, dass versucht wird, Marktverhältnisse auf ein nicht marktfähiges Produkt anzuwenden.

Lieber Ralf Julke,
ein Lese- und Rezensionstipp zum Thema: “Lisa Herzog: Freiheit gehört nicht nur den Reichen: Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus“.
Man könnte sagen: Das ist das Pendant – aus der andren Richtung gedacht.

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