Das dürfte den Kollegen von der „Zeit“ dann doch etwas sauer aufgestoßen sein. Nicht dass jetzt die halbe Republik über die vermeintlichen Enteignungs-Forderungen von Juso-Chef Kevin Kühnert diskutiert. Das war ja sogar beabsichtigt mit dem Interview. Aber dass die Konkurrenz auch noch das Interview kritisieren würde – und zwar sehr berechtigt – das dürfte eine kleine Überraschung gewesen sein. Und das auch noch aus der eigentlich doch konservativen F.A.Z.

Da nahm sich am Wochenende Patrick Bahners, Feuilletonkorrespondent der F.A.Z. in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“, die Interviewführung von Jochen Bittner und Tina Hildebrandt vor und war – gelinde gesagt – entsetzt. Denn so führt man Interviews, wenn man vorhat, den Interviewten aufs Glatteis zu führen. Oder ihn vorzuführen, ihn mit der Haltung, es sowieso besser zu wissen, so in die Enge zu treiben, dass er sich mit seinen Antworten am Ende selbst entlarvt.

„Die Interviewer Jochen Bittner und Tina Hildebrandt brachten den Namen BMW in einer Nachfrage ins Spiel, nachdem sie Kühnert gleich zu Anfang souffliert hatten, dass er ja wohl die ‚Vergesellschaftung von Produktionsmitteln‘ fordern müsse, wenn er den Sozialismus wolle“, schreibt Bahnert. „Das sei nämlich ‚die klassische Definition‘. Wo sie die Definition nachgeschlagen hatten, sagten die beiden Journalisten nicht. Sie gingen das Interview wie eine Abiturprüfung an, mit dem Habitus von Routiniers, deren Überlegenheit und Abgeklärtheit kein Einfall des Prüflings würde erschüttern können.“

Tatsächlich parierte Kühnert – immerhin angehender Politikwissenschaftler – sehr souverän, ließ sich auch wirklich nicht in die Enge treiben, sodass dieses auf Attacke frisierte Interview in Wirklichkeit gar nicht das besagte, was nun alle möglichen Nicht-Leser insbesondere aus den konservativen Lagern meinen, dass Kühnert gesagt habe, was dann aber auch die Überschrift suggerierte. Und mit Enteignungen kann man Stürme des Zorns entfachen in Deutschland. Mit einem Reizwort wie Sozialismus auch, obwohl selbst Wikipedia dazu nur sagen kann:

„Der Sozialismus (von lateinisch socialis ‚kameradschaftlich‘) ist eine der im 19. Jahrhundert entstandenen drei großen politischen Ideologien neben dem Liberalismus und Konservatismus. Es gibt keine eindeutige Definition des Begriffs. Er umfasst eine breite Palette von politischen Ausrichtungen.“

Und wer den Wikipedia-Artikel weiterliest, der findet lauter verschiedene Definitionen und Deutungen von Sozialismus – darunter auch die Variante von Karl Marx, die dem unterstellten Sozialismus-Begriff noch am nächsten kommt.

Aber zurück zum „Kameradschaftlichen“, das eben nicht nur das Verhalten der Genossen zueinander meint (das aber eben – die Debatte zeigt es ja – meist auch wenig kameradschaftlich ist), sondern das auf das Kameradschaftliche in der Gesellschaft zielt, auf eine Gesellschaft, die respektvoll und gemeinschaftlich agiert. Auf egalité und fraternité.

Marcel Fratzscher, der DIW-Professor für Makroökonomie, der in der „Zeit“ regelmäßig zu wirtschaftspolitischen Debatten Stellung nimmt, hat auch auf das Kühnert-Interview reagiert. Mit der – ebenfalls – etwas verwirrenden Überschrift „Enteignungen sind nicht notwendig“.

Natürlich sind Enteignungen möglicherweise notwendig, wenn wir einige unserer gesellschaftlichen Probleme lösen wollen. Das weiß eigentlich auch Fratzscher. Denn wenn eine Gesellschaft ihre Spielräume verliert, soziale, ökologische und Zukunftsprobleme zu lösen, weil sie über die notwendigen Güter nicht mehr verfügen kann, dann wird es ohne Enteignungen nicht mehr gehen. Denn Fratzscher selbst bestätigt ja immer wieder: die reine Marktwirtschaft löst keine Probleme. Dazu hat sie gar keine Motivation.

Wir haben eine dysfunktionale Marktwirtschaft

Deswegen geht er in seinem Kommentar vor allem auf die Soziale Marktwirtschaft ein, die ja Annegret Kramp-Karrenbauer, die CDU-Vorsitzende, sofort mit aller Macht pries, obwohl gerade das Nichtmehrfunktionieren des Sozialen in der Marktwirtschaft heute die Probleme befeuert.

Genau darauf ging Fratzscher ja ein:

„Sozial ist eben nicht, was lediglich Arbeit schafft, sondern was gute und gut bezahlte Arbeit schafft. Auch die regionalen Ungleichheiten nehmen zu und schon lange kann nicht mehr wirklich von gleichwertigen Lebensbedingungen in ganz Deutschland gesprochen werden. Diese Fakten sind kein Klagen auf hohem Niveau, wie manche Kritiker dies gerne behaupten – sie sind für viele Deutsche bittere Realität. Auch die Frustration derer ist nachvollziehbar, die trotz höherer Löhne ihren Lebensstandard wegen steigender Mieten und Lebenshaltungskosten absenken müssen.“

Er wird gleich darauf noch konkreter:

„Diese Probleme sind jedoch nicht das Resultat der sozialen Marktwirtschaft. Ganz im Gegenteil: Sie kommen durch eine dysfunktionale Marktwirtschaft zustande. Es kann keine Rede von einer funktionierenden Marktwirtschaft sein, wenn Unternehmen den Kunden die Preise praktisch diktieren können. Die Verantwortung liegt beim Scheitern der Politik, die Marktwirtschaft zu regulieren und Wettbewerb zu garantieren.“

Und dass sie so dysfunktional geworden ist, hat natürlich mit der systematischen Demontage des sozialen Ausgleichs zu tun, die in den vergangenen 30, 40 Jahren zu beobachten war. Und Ausgleich funktioniert nun einmal über Steuern, das Leib- und Magenthema der Superreichen und ihrer Lobbyverbände. Sie kennen kein schöneres Mantra als „Die Steuern senken!“ und sogar die mies bezahlten Malocher fallen jedes Mal drauf rein, obwohl genau das dazu führt, dass sich die Geldströme im Land radikal verändern.

Fratzscher: „Eine funktionierende soziale Marktwirtschaft erfordert jedoch auch eine Reihe weiterer Reformen. Hierzu gehört eine grundlegende Steuerreform: In kaum einem Land werden Einkommen auf Arbeit so stark und Einkommen auf Vermögen so gering besteuert wie in Deutschland. Gerade passive oder passiv erworbene Vermögen, wie Immobilien und Erbschaften, werden in unserem Land ungewöhnlich gering besteuert. Dies widerspricht dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, welches grundlegend für eine soziale Marktwirtschaft ist, die diesen Namen verdient.“

Wem gehört eigentlich Deutschland?

Übrigens ein Thema, auf das Florian Dieckmann in seiner „SPON“-Kolumne „Wem Deutschland gehört (und wem nicht)“ sehr detailliert eingeht. Sage keiner, dass Kevin Kühnerts Interview nicht anregend war. Es hat tatsächlich zum ersten Mal seit langem dazu geführt, dass auch die SPD wieder über Verteilungsfragen und Steuergerechtigkeit nachdenkt. Zumindest an der Basis. Denn über Steuerpolitik wird nun einmal gesteuert, wohin sich ein Land entwickelt und wer davon profitiert – und wer die Zeche bezahlt.

Und was am Ende übrig bleibt, da nämlich, wo dieses Land investieren muss, damit der Laden – auch bei den großen Konzernen – überhaupt laufen kann.

Was Fratzscher ja ebenfalls vermerkt: „Das Problem ist viel genereller: Seit 15 Jahren verlieren die öffentlichen Vermögen – Grund und Boden, Immobilien, Straßen und Brücken – in Deutschland stetig an Wert. Die neuen Investitionen der öffentlichen Hand können jedes Jahr noch nicht einmal den Wertverlust der öffentlichen Vermögen kompensieren.“

Das ist jetzt sehr makroökonomisch ausgedrückt, heißt aber genau das, was auch Städte wie Leipzig seit Jahren erleben: Dass das Geld, das über Steuern eingenommen wird, hinten und vorne nicht reicht, um die nötigsten Infrastrukturen zu bauen oder – ein Thema, auf dem ausgerechnet die CDU herumreitet – zu erhalten.

Infrastrukturen: Das sind Schulen, Kitas, Straßen, Brücken, Wasserleitungen, Kanäle, Stromversorgung, Straßenbahngleise, Ampeln, Bahnhöfe, Autobahnen, Bundesstraßen, Straßenbeleuchtung usw. Und in jedem Bereich schieben Kommunen, Länder und Staatsbetriebe riesige Investitions-Pläne vor sich her, die aber nicht finanziert sind. Unser Land verschleißt – obwohl es „so reich ist“.

Handzahme Politik

Wo das Geld die ganze Zeit hinfließt, hat Florian Dieckmann sehr anschaulich aufbereitet. Und Geld – bzw. Kapital – verschafft Macht. Es schafft sich seine Marktbedingungen – rücksichtslos. Und es macht Politik zahnlos, handzahm, oder wie Angela Merkel so gern gesagt hat: „alternativlos“. So alternativlos, dass seit 20 Jahren das Geld fehlt, um die deutschen Infrastrukturen in Schuss zu halten.

Wären Bittner und Hildebrandt auf der Höhe des Themas gewesen und nicht so sehr von sich selbst und ihrem scheinbar besseren Wissen überzeugt gewesen, hätten sie mit Kühnert tatsächlich mal über des Pudels Kern reden können, über das, was er als sozial versteht, wo ein Land gestalten muss und wo deshalb gemeinschaftliches Eigentum nötig wäre, um die Daseinsvorsorge für alle – und zwar auch und erst recht für die Wenigverdiener – zu sichern. Und wo eben Private in der Vergangenheit nur zu oft gezeigt haben, dass es mit ihnen nicht besser funktioniert, meist sogar heftig teurer wird und zwar gerade dann, wenn ein Gut knapp wird – so wie Wohnraum in den großen Städten.

Oder ist das Gut sogar deshalb knapp geworden, weil man es den Privaten überlassen hat?

Freche Frage, stimmt’s?

Aber über kluge Lösungen kann man erst reden, wenn man Interviews nicht mehr als Flankenangriff begreift, sondern als Basis eines gemeinsamen Interesses. Eine Situation, in der sich die fragenden Journalisten auch einmal als Zuhörende zeigen dürfen, nicht als Vorurteilende, sondern als Nachfragende. Das ist den beiden „Zeit“-Kollegen sichtlich nicht gelungen. Eine vertane Gelegenheit nenne ich sowas.

Die Serie „Nachdenken über …“

Warum wir zu viele TINAs haben und viel zu wenige Auguste

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